Nawalnyj

Alexej Nawalnyj ist erfolgreich. Alexey Nawalnyj ist der einzige Politiker in Russland, der die gegenwärtige Machtelite (sprich: Wladimir Putin) tatsächlich herausfordert. Seinen Film über den ergaunerten Reichtum von Ministerpräsident Dmitrij Medwedew haben inzwischen mehr als 22 Millionen Menschen auf Youtube angesehen. Seine Aufrufe haben am 26. März und am 12. Juni zu den beiden größten Protesttagen in Russland seit den Winterprotesten 2011/2012 geführt. Mehr noch: Er hat erstens diese Proteste, die zuvor weitgehend eine Moskauer (und, mit Abstrichen, St. Petersburger) Veranstaltung waren, in die Regionen zu tragen vermocht. Und zweitens hat sich die Zusammensetzung der Protestierenden verändert. Noch nie seit dem Ende der Sowjetunion hatten Proteste ein so junges Gesicht.

Gleichzeitig ist Alexej Nawalnyj aber hoch umstritten. Auch und vor allem in der Opposition. Die einen verweisen auf die genannten Erfolge und sagen, Nawalnyj sei damit der einzige Oppositionspolitiker, der gegenwärtig in der Lage sei, die Aufmerksamkeit von Millionen Menschen zu gewinnen. Es gebe momentan keine andere Hoffnung auf eine auch nur irgendwie bedeutende Opposition zu Putin als ihn.

Die anderen werfen ihm vor, ein Populist und, mitunter, ein Rassist zu sein (nur ein neuestes Beispiel ist seine Aussage in einem Interview mit Ksenia Sobtschak für den Internetsender „TV-Doschd“, in dem Nawalnyj den Usbeken absprach, Puschkin zu kennen). Es gehe ihm nicht um ein demokratischeres Land, sondern nur um die eigene Macht. Folglich werde Russland mit einem Präsidenten Nawalnyj, so sagen diese Leute, kaum demokratischer sein als das Russland Putins, es werde nur einen anderen Führer haben.

Um es gleich klar zu machen: Ich neige, bei aller berechtigten Kritik an Nawalnyj, der ersteren Sichtweise zu. Warum, das möchte ich heute in diesen Notizen zu erklären versuchen.

Selbstverständlich gibt es keine Garantie für ein demokratisches Russland nach Putin unter einem hypothetischen Präsidenten Nawalnyj. Da niemand aber eine auch nur irgendwie realistische Perspektive hat, wie überhaupt in dieses Nach-Putin-Russland zu gelangen wäre, ist das aber gegenwärtig nicht die wichtigste Frage. Es spielt daher momentan eine eher untergeordnete Rolle, ob Nawalnyj nun ein (lupenreiner) Demokrat ist oder nicht. Natürlich wäre es besser, es wäre so. Das Problem ist aber, dass niemand von den Politikern, die das Prädikat „demokratisch“ verdienen oder verdienten, (bisher) in der Lage war oder in der Lage ist, Putin und das von ihm geschaffene politische System herauszufordern. Nawalnyj ist der einzige, der auch nur in die Nähe einer Herausforderung gekommen ist.

Er hat das mit dem Slogan gezeigt, die Kremlpartei „Einiges Russland sei eine „Partei der Gauner und Diebe“, der in den Winterprotesten 2011/2012 zu einem geflügelten Wort wurde. Er hat das 2013 bei den Moskauer Bürgermeisterwahlen gezeigt, als er, ohne mediale Präsenz außerhalb des Internets, mit einem (ast-)reinen Straßenwahlkampf gegen den Moskauer Bürgermeister Sergej Sobjanin 27 Prozent der Stimmen holte. Er zeigt es gegenwärtig wieder dadurch, dass er seine früh erklärte Kandidatur bei den Präsidentschaftswahlen durch die Straßenproteste untermauert. Damit widmet er sich der wichtigsten Aufgabe, die Oppositionspolitiker heute in Russland haben: Dem Aufbrechen der vom Kreml langfristig und systematisch herbeigeführten Entpolitisierung der russischen Gesellschaft (fast hätte ich geschrieben, der russischen Politik – ganz falsch wäre das nicht gewesen).

Grigorij Jawlinskijs „Jabloko“ oder „PARNAS“, die Partei des ermordeten Boris Nemzow, mögen die besser ausgearbeiteten Programme haben. Diese Programme mögen demokratischer zustande gekommen sein. Ja, die Inhalte dieser Programme mögen demokratischer sein und mir und vielen anderen besser gefallen. Es gelingt ihnen trotzdem nicht, damit mehr als ein paar Prozent Wähler und Wählerinnen anzuziehen. Vielleicht ist es sogar gerade deswegen, weil Inhalte, Themen, Habitus und Sprache zu sehr an die 1990er Jahre erinnern, vor allem aber wegen des politischen Personenangebots, dass sie nicht attraktiv sind. Es kann auch gut sein, dass es die von vielen demokratischen Politikern bemängelte Eindimensionalität des Politikers Nawalnyj ist, der nicht wirklich kompetent sei, nicht wirklich ein politisches Programm habe, die Nawalnyjs Stärke ausmacht. Man kann das Populismus nennen. Es bleibt erfolgreich.

Sein Hauptthema Korruption wirkt für vielen Menschen offenbar nicht verengend, sondern auf das Wesentliche konzentriert. Außerdem gilt, das mag außerhalb Russlands paradox klingen, Korruptionsbekämpfung als eher nicht-politisches Thema, also als ein Thema, das zu behandeln legitim ist (wobei dieses Nichtpolitische den Nachteil hat, dass die Bekämpfung der Korruption dadurch nicht als systemimmanent, sondern als Abweichung vom System verstanden wird, was politische Mobilisierung gleichzeitig erleichtert und begrenzt). Der Vorwurf, den der Kreml Nawalnyj folgerichtig macht, ist dann auch nicht, das Thema Korruption zu behandeln, sondern sich damit persönlich profilieren zu wollen (Übrigens immer, ohne ihn beim Namen zu nennen. Allein das ist schon eine Adelung).

Aus der beschriebenen Ausnahmestellung erwächst Alexej Nawalnyj aber auch Verantwortung. Viele seiner Kritiker und Kritikerinnen haben ihm gerade nach den Massenverhaftungen am 12. Juni (nach Angaben von „OWD-Info“ waren es russlandweit mehr als 1700 Menschen) vorgeworfen, vor allem die jungen Menschen, die seinen Aufrufen, auf die Straße zu gehen (mitunter trotz staatlichem Verbots), gefolgt waren, zu verführen. Diese Menschen, so ist aus diesem Argument zu schlussfolgern, sind, sei es aus Unerfahrenheit oder wegen ihres Alters, nicht in der Lage, die Risiken, die sie damit eingehen, tatsächlich realistisch einzuschätzen. Eine Teilnahme birgt, insbesondere angesichts der Wahllosigkeit, mit der Menschen bei den Protesten verhaftet wurden, tatsächlich eine gewisse Gefahr.

Die Strategie Nawalnyjs funktioniert aber vor allem durch gezielte Herausforderungen des Staates (um hier nicht das im Russischen übel beleumundete und viel missbrauchte Wort Provokation zu verwenden). Diese Herausforderungen aber funktionieren nur, wenn der Herausforderer Risiken eingeht. Für sich und seine engere Umgebung ist das kein grundsätzliches Problem (obwohl der Gedanke an Alexej Nawalnyjs Bruder Oleg, der Ende 2014 für dreieinhalb Jahre ins Straflager geschickt wurde, mir zumindest Unbehagen bereitet). Je größer, diverser und damit unübersichtlicher der Zuspruch für Nawalnyj aber wird, umso mehr muss er sich dieser Verantwortung stellen.

Zahlreiche Interviews mit Teilnehmern und Teilnehmerinnen der Proteste vom 26. März und vom 12. Juni zeugen aber davon, dass sich diese Menschen der Risiken durchaus bewusst sind. Nicht selten ist zudem die Versicherung zu hören, nicht wegen oder für Nawalnyj auf die Straße gegangen zu sein, sondern aus ganz eigenen Gründen: weil endlich etwas gegen die Korruption getan werden müsse und, immer häufiger, weil man den endlosen Putin endlich loswerden wolle. Die vielen Menschen, die sich in den inzwischen in vielen russischen Städten eingerichteten Wahlkampfbüros Nawalnyjs engagieren, dürften auch wissen, worauf sie sich einlassen. Es gibt genug Informationen darüber, was mit Leuten passieren kann, die sich oppositionell politisch engagieren. Ja, es ist nachgerade staatliche Politik, durch wahllose Festnahmen und politische Schauprozesse, auf dieses Risiko abschreckend hinzuweisen. Diese Menschen sollten, bei aller notwendigen Verantwortung im Einzelnen, als erwachsene Menschen und politische Bürger ernst genommen werden. Wie anders können sonst aus Untertanen Bürgerinnen und Bürger wachsen.

Zudem verschiebt, wer diesen Vorwurf allein oder vor allem gegen Nawalnyj richtet, zugleich die tatsächliche Verantwortung. Es ist der russische Staat, in dem unterschiedliche Sicherheitsagenturen wie das Innenministerium, der Inlandsgeheimdienst FSB und die vor einem Jahr neu gegründete „Rosgwardija“ darum wetteifern, wer der bessere Wachhund des Systems sei. „Rosgwardija“-Chef Wiktor Solotow bringt seit einigen Monaten den neuen, Putin direkt unterstellten Dienst als Bollwerk gegen jede Form von Destabilisierung in Stellung, also als politische Polizei gegen jede Form von Infragestellung oder Änderungswunsch.

Zusammengefasst: Wie schon mehrfach zuvor, hat es Nawalnyj auch am 12. Juni wieder geschafft, dem Kreml die Spielregeln zu diktieren. Obwohl er selbst festgenommen wurde, als er in seinem Wohnhaus aus dem Aufzug trat und bis heute in Arrest sitzt, konnte er die Aufmerksamkeit für seine politische Arbeit (und natürlich auch und nicht zuletzt für sich selbst als selbsterklärter Präsidentschaftskandidat) erneut steigern. Ohne jemals im Fernsehen (mit der Ausnahme des nicht sehr weit reichenden Internetkanals „TW-Doschd“) aufzutauchen, kennen ihn inzwischen mehr als die Hälfte der Menschen in Russland.

Der St. Petersburger Politologe Dmitrij Trawin bezeichnet entsprechend, durchaus anerkennend, das Popularisieren der Marke „Nawalnyj“ als dessen größten Erfolg: Wenn die Menschen in Russland das Wort „Fluss“ hörten, dächten sie an die Wolga. Wenn jemand „Kosmonaut“ sage, komme den meisten sofort Jurij Gagarin in den Sinn. Bald, so sagt Trawin voraus, werde beim Wort „Opposition“ kaum jemand an dem Gedanken „Nawalnyj“ vorbeikommen.

Damit keine Illusionen entstehen: Niemand, auch Nawalnyj nicht (sollte er überhaupt antreten dürfen, was ich nicht glaube), hat eine Chance, Wladimir Putin im nächsten Jahr bei den Präsidentenwahlen zu schlagen. Ich wage vorauszusagen (womit ich ansonsten immer sehr vorsichtig bin), dass Putin diese Wahlen mit etwa 70 Prozent gewinnen wird (eine andere Frage ist, wie sauber diese 70 Prozent sein werden). Und auch für die kommenden Jahre ist nichts zu sehen, was seine Herrschaft ernsthaft gefährden könnte.

Nawalnyj spielt ganz offenbar ein langfristiges Spiel. Das ist darauf angelegt, bereit zu sein, sollte das Putinsche politische System Schwächen zeigen.