Dmitrij Muratow, Chefredakteur der Nowaja Gaseta, ist ein seriöser Mensch, höchst geachtet von Freund und Feind. Vergangene Woche gab er dem Radiosender Echo Moskaus ein Interview. Darin erklärte er, seine Zeitung sei im Besitz eines Dokuments, das belege, dass ein Plan sowohl für die Krimannexion als auch für die russische Invasion in der Ostukraine bereits vor dem Sturz des damaligen ukrainischen Präsidenten Wiktor Janukowitsch vor einem Jahr ausgearbeitet worden sei. Das Dokument stamme aus dem Umfeld des „Oligarchen“ Konstantin Malofejew, eines Mannes mit direktem Zugang zum Kreml.
Dieser Plan oder besser, dieses Szenario, von dessen Authentizität Muratow überzeugt ist, beschreibt demnach Janukowitsch als „moralisch unzuverlässig“. Er sei schwach, so werde dort eingeschätzt, und könnte in der zugespitzten Situation durchaus den Deal mit Moskau vom November 2013 aufkündigen, mit den prowestlichen Kräften in der Ukraine einen Kompromiss eingehen, um Präsident zu bleiben und Immunität zu erhalten. Die Ukraine drohe also erneut Richtung Westen abzudriften und darauf müsse man reagieren, indem man die zentrifugalen Kräfte auf der Krim und im Südosten der Ukraine stärke, bis hin zur Infragestellung der territorialen Integrität der Ukraine.
Muratow datiert das Dokument auf die Zeit zwischen dem 4. Und dem 15. Februar 2014, also zwei bis drei Wochen vor Janukowitschs Sturz. Bisher gingen die meisten Analysen, auch meine, davon aus, dass die Besetzung der Krim ebenso wie die spätere Annexion durch russische Soldaten eine spontane, situative Entscheidung des Kreml gewesen war. Janukowitschs Sturz war gleichzeitig Niederlage und Gelegenheit. Die Entscheidung des Kreml erwies sich zwar als sehr erfolgreich, wie sich herausgestellt hat, war aber eben nicht so und zu diesem Zeitpunkt geplant. Diese Sichtweise stellt Muratow nun mit Hinweis auf das seiner Zeitung vorliegende Dokument in Frage. Haben wir also alle geschlafen? Die Pläne des Kremls falsch eingeschätzt? Das Undenkbare nicht gedacht, weil wir es nicht denken wollten? Ich denke, es ist komplizierter.
Zuerst eine eher grundsätzliche Bemerkung. Wir wissen heute, was passiert ist. Doch bevor es passierte, konnte es niemand wissen. Es ist immer eine Versuchung und immer eine Gefahr, die Bewertung von Vergangenem zu stark auf heutiges Wissen zu stützen.
Ich bin seit einigen Jahren Teil einer ursprünglich vom Moskauer Carnegie-Zentrum koordinierten Gruppe von etwa 40 Experten, vor allem aus Russland, aber auch aus den USA, Großbritannien und eben mit einem Deutschen, die Szenarien für die politische Entwicklung Russlands diskutiert. Dabei geht es natürlich nicht darum, die Zukunft voraus zu sagen, sondern um die Analyse plausibler Entwicklungsmöglichkeiten und, das dann doch auch, um die Bewertung ihrer Wahrscheinlichkeit. Für die Zeit bis 2025 entwickelte diese Gruppe 2010/2011 drei Szenarien: eine vorsichtige liberale Öffnung des politischen Systems, eine „Trägheitsszenario“ genannte Mischung aus autoritärer Kontrolle und begrenzten Freiheiten (ähnlich dem putinschen System unter Präsident Medwedjew), und eine Variante, die intern ein wenig selbstironisch „Stalin light“ genannt wurde und eine nationalkonservativ-imperiale Entwicklung beschrieb, die dem, was wir jetzt sehen, sehr nahe kommt.
Ziemlich einmütig kam diese ja nicht ganz kleine und auch politisch durchaus heterogene Gruppe zu dem Schluss, dass ein liberaler turn unter Putin kaum zu erwarten sei. Allerdings war 2011 noch Medwedjew Präsident und Putins Rückkehr in den Kreml zumindest nicht ausgemacht. „Stalin light“ hielten wir für eher unwahrscheinlich, vor allem weil es die Stellung Putins über der politischen Elite und als oberster „Schiedsrichter“ gefährden und wohl eine Dynamik auslösen würde, die Putins Herrschaft selbst gefährden könnte. Also blieb das „Trägheitsszenarium“. Für diese Erwägungen sprach auch die Putin bis dahin eigene Risikoscheu. Oder anders ausgedrückt der Umstand, dass er grundlegende und damit schwer oder kaum revidierbare Entscheidungen so lange wie möglich zu vermeiden versuchte.
Allerdings sahen wir auch die, wenn man so will, Gefahr, dass das Trägheitsszenarium, weil dabei echte Reformen ausbleiben, mit der Zeit unvermeidliche zu wirtschaftlichen, sozialen oder politischen Krisen führen würde, die wiederum den Machterhalt Putins in Frage stellen könnten. In solchen Krisen aber hat sich Putin bisher immer für, grob gesagt, weniger Freiheit und mehr Kontrolle entschieden. Im Falle einer großen (oder im Kreml als groß empfundenen) Gefahr und Krise würde, so urteilten wir seinerzeit, die Versuchung (möglicherweise gar eine machterhaltende „Notwendigkeit“) des Kreml, sich in Richtung „Stalin light“ zu bewegen, immer größer. Als mögliche Auslöser einer solchen Macht-Krise sahen wir vor allem künftige wirtschaftliche und soziale Probleme.
Ganz genauso ist es nicht gekommen. Wohl aber sehr ähnlich. Die Proteste gegen Wahlfälschung und Putins Wiederwahl im Winter 2011/2012 hatten entgegen dieser Annahmen vorwiegend politische Gründe (wenn auch die Wirtschaftskrise seit 2008/2009 verstärkend gewirkt haben dürfte). Putin reagiert mit seiner nationalkonservativen Wende und mit seither immer stärker werdender Repression nach innen. Alle Argumente gegen einen „feindlichen“ und „dekadenten“ Westen sind hier schon vorhanden (beispielsweise: Pussy Riot, NGO-Agentengesetz oder Dima-Jakowlew-Gesetz, dazu Putins „Waldai-Rede“ von 2013).
Diese dezidiert antiwestliche Wende leitete eine neue, eine Mobilisierungsphase des Putin-Regimes ein – und sie kam selbstverständlich nicht aus dem Nichts. Fiona Hill und Clifford Gaddy haben diese Entwicklung Putins von jemandem, der, wenn auch begrenzte, so doch Zusammenarbeit mit dem Westen sucht, zu jemandem, der seine „Enttäuschung“ über den Westen in Politik gießt, kürzlich in einem Aufsatz für „The Atlantic“ noch einmal detailliert nachgezeichnet.
Demnach ist Putin in den vergangenen zehn Jahren immer mehr zu der Überzeugung gelangt, „der Westen“ meine es nicht ehrlich mit ihm und „seinem“ Russland und betreibe (auch in Russland) einen Regime Change. Man kann das, aus Putins Sicht, auch „Vertrauensverlust“ nennen. Der Grund wird von russischer Seite immer wieder genannt: der „Westen“ habe russische „Sicherheitsinteressen“ nicht berücksichtigt, indem er sich von Moskau aus als natürliche Einflusszone betrachtete ehemalige Sowjetrepubliken (seit 25 Jahren souveräne Staaten) „einzuverleiben“ versucht habe. Ein typischer Fall von gegenseitigem Miss-Verständnis (ohne nun hier klären zu wollen, wer dazu mehr beigetragen hat – ich meine: Putin). Zur Entwicklung dieses „Vertrauensverlusts“ passt auch, dass sich Putin seit seiner Rückkehr in den Kreml zunehmend mit Leuten aus dem nationalkonservativen Lager umgeben hat. Einige ihrer Wortführer, wie Sergej Glasjew, bekamen sogar offizielle Posten (auch wenn diese Leute bisher weitgehend unter Kontrolle gehalten werden, also mal eine Weile eine vor allem fernsehmediale Rolle spielen dürfen, dann aber wieder in der öffentlichen Peripherie landen, wie unter anderem und auf unterschiedliche Weise die Beispiele Alexander Dugin oder Sergej Kurginjan zeigen).
Damit komme ich zum konkreten Fall und dem von der Nowaja Gaseta vorgelegten Dokument zurück. Dabei geht es in erster Linie um die Frage, was es bedeutet, sollten Krimannexion und Ostukraineinvasion tatsächlich schon vor dem Sturz von Janukowitsch beschlossen (und nicht nur in – eher unverbindlichen – Szenarien erwogen) worden sein. Angenommen, das Dokument ist echt (wovon ich aus Respekt vor Dmitrij Muratow und der Nowaja Gaseta ausgehe). Wäre es tatsächlich etwas so sensationell Neues, dass Derartiges von einem der zahllosen Think-Tanks, im Kreml oder dessen Umfeld gedacht und durchgeplant würde? Sicher nicht. Allein im Generalstab sind mehr als 4.000 Offiziere mit der Ausarbeitung aller möglichen Pläne für alle möglichen Situationen beschäftigt. Russische Sicherheitspolitiker und Militärs wären zudem keine Profis, wenn sie nicht Pläne für die Sicherung der Schwarzmeerflotte auf der Krim in Sewastopol für alle denkbaren Krisen ausgearbeitet hätten (ungeachtet ihrer völkerrechtlichen, politischen oder auch moralischen Bewertung). Auch eine Eroberung der Ostukraine dürfte da durchgespielt worden sein. Man kann davon ausgehen, dass sowohl die politische und mehr noch die militärische Führung die immer wieder wiederholte Behauptung einer angeblichen Bedrohung der Schwarzmeerflottenbasis in Sewastopol durch die NATO wirklich glauben (geglaubt haben).
Ist es unter diesen Umständen erheblich, dass der Beschluss des Kreml (also, wie wir annehmen müssen, Putins) zur Annexion der Krim und zur Intervention in der Ostukraine (mit welchem endgültigen Ziel auch immer) nun tatsächlich schon ein paar Wochen vor dem Sturz Janukowytschs gefallen sein soll? Mir scheint, kaum. Allerdings bereitet sich die russische Armee schon seit einiger Zeit auf einen neuen „Weltkrieg“ vor, in dem der angenommene Gegner der alte aus dem Kalten Krieg, also die USA und die NATO sind. Das steht so auch in der erst Ende vorigen Jahres erneuerten Militärdoktrin Russlands. Allerdings wird dort angenommen, dass dieser Krieg nicht jetzt, sondern „erst“ irgendwann später, zwischen 2020 und 2025 ausbrechen wird. Früher wären die mit ihren Reformen nur sehr zäh, wenn überhaupt voran kommenden russischen Streitkräfte nicht bereit dazu. Pawel Felgengauer, einer der angesehensten russischen Militärexperten, weist denn auch in einem jüngst erschienenen Interview darauf hin, dass russische Militärs darüber klagen, der Krieg in der Ukraine sei „zu früh“ gekommen. Die russische Armee habe ihre Modernisierung noch nicht abschließen können. 2018 oder 2020 wäre demnach besser gewesen.
Und noch eine Beobachtung: Die Tatsache, dass die Soldaten auf der Krim anfangs keine Hoheitsabzeichen trugen und Putin sie verleugnet hat, zeugt entweder von schlechtem Gewissen oder von Unsicherheit (oder von beidem). Offenbar war man sich im Kreml nicht sicher, ob das gut gehen würde. Das spricht selbstverständlich nicht dagegen, dass es solche Pläne gibt, lässt aber daran zweifeln, dass die Annexion der Krim und die Intervention in der Ostukraine (jetzt) Teil eines langfristigen, sozusagen strategischen Vorgehens sind. Hinzu kommt eine auch von Hill und Gaddy beschriebene Eigenschaft Putins. Er liebt es nicht, in alternativlose Situationen zu geraten. Das ist er nun aber. Erstmals ist Putin, so beschrieb es auch Nikolaj Petrow auf der Jahreskonferenz des Lewada-Zentrums Anfang Februar in Moskau, weniger Herr der politischen Entwicklung denn ein von ihr Getriebener. Seine Wahlmöglichkeiten sind beschränkt. Hält er die Zustimmung im Land durch weiteres Schüren des Konflikts in der Ukraine und mit dem Westen hoch, droht mittelfristig der wirtschaftliche Kollaps (wobei seine Populariätsspitze, was meistens unbemerkt bleibt, im vorigen Mai lag; seither geht es, wenn auch langsam, wieder bergab). Entschließt sich Putin aber, wirklich Frieden zu machen (in der Ukraine und mit dem Westen), könnte das entfachte nationalkonservative Feuer ihm selbst schnell sehr gefährlich werden.
Ganz zum Schluss: Vor allem für die Diskussion in Russland könnte der Unterschied von wenigen Wochen eine kleine Bedeutung haben. Bisher baut die Kremlpropaganda stark auf die Erzählung, alles sei nur eine Reaktion „der Menschen auf der Krim und in der Ostukraine“ auf einen angeblichen „Putsch“ gegen Janukowitsch. Russland unterstütze nur die verständlichen Interessen und Rechte dieser Menschen. Diese Erzählung ist nun noch weniger glaubhaft. Allerdings dürfte die Propaganda vorerst in der Lage sein, diese grobe Unstimmigkeit zu überspielen.