Heute, Sonntag, 8. September, wird in vielen russischen Regionen gewählt. Insgesamt 6825 Wahlen haben die WahlbeobachterInnen von Golos gezählt, darunter acht Gouverneurswahlen und Wahlen zu 16 Regionalparlamenten. Die meisten Ergebnisse werden weder überraschend sein, noch nennenswerte Auswirkungen haben. Putins Leute und seine Partei Einiges Russland haben das ganze Land immer noch fest im Griff. Das ganze Land? Nein. Ein dickes, fettes, reiches Stück, das (politische und wirtschaftliche) Zentrum des Landes ist anders. Ein wenig zumindest. Die vorgezogenen Bürgermeisterwahlen in Moskau Machthabenden Sorgen. Ein wenig zumindest.
Das liegt zum einen an Moskau selbst. Es ist die einzige russische Region, in der Wladimir Putin bei den Präsidentenwahlen vor eineinhalb Jahren keine absolute Mehrheit erringen konnte (selbst Wahlmanipulationen nicht eingerechnet). Das liegt aber auch an einem der Kandidaten, an Alexej Nawalnyj, Blogger und eine, vielleicht die wichtigste Führungsfigur der Proteste gegen Wahlfälschungen und Wladimir Putin seit Dezember 2011.
In gewisser Weise ist Nawalnyj der einzige „echte“ Kandidat bei diesen Wahlen überhaupt. Allein durch seine Kandidatur wurden sie interessant, nachdem der Milliardär Michail Prochorow, der bei den Präsidentenwahlen immerhin mehr als 20 Prozent der Stimmen in Moskau bekommen hatte, aus verschiedenen Gründen von einer Kandidatur abgesehen hat (oder eher: absehen musste). Das „Echte“ an Nawalnyj hat natürlich etwas mit seiner Person zu tun, aber auch mit der Art, wie die Kandidatur zustande kam, wie Nawalnyj die Wahlkampagne führt und warum es diese Moskauer Bürgermeisterwahlen heute überhaupt gibt. Um dieses unterscheidende „Echte“ und seine (möglichen) Auswirkungen soll es hier gehen.
Kurz zur Vorgeschichte. Nach der repressiven Welle des vergangenen Jahres sucht der Kreml (oder zumindest ein Teil von ihm) nach zusätzlicher Legitimation. Wohl aus diesem Grund, vielleicht aber auch, weil der von Medwedjew vor drei Jahren ernannte Moskauer Bürgermeister politisches (!) Gewicht ansetzen soll und will, trat er im Mai zurück und erzwang so diese vorgezogenen Neuwahlen. Um durch Wahlen Legitimität zu erhalten, müssen sie aber zumindest ein wenig echt wirken, muss es also ein Mindestmaß an glaubhafter Konkurrenz geben. Das war nach Procherows Rückzieher nicht mehr der Fall. Sobjanin sorgte wohl deshalb durch einen unerwarteten und so auch beispiellosen öffentlichen Aufruf dafür, dass Alexej Nawalnyj überhaupt als Kandidat registriert wurde. Jeder Kandidat brauchte mehr als 110 Unterschriften von Moskauer Kommunalabgeordneten, die seine Kandidatur unterstützen. Ein vom Kreml unlängst installierter Kontrollfilter. Da die nur wenige Kommunalabgeordnete nicht vom Bürgermeisteramt kontrolliert werden, hätte Nawalnyj wohl ohne Sobjanins Intervention keine Chance gehabt auf den Stimmzettel zu kommen.
Offenbar war man sich im und um den Kreml aber nicht so recht einig, ob diese echte Konkurrenz denn nun sinnvoll sei oder nicht vielleicht aus dem Ruder zu laufen drohe. Vielleicht war es aber auch nur die übliche Zwei-, Drei- oder Vierspännigkeit, mit der die Kremlpolitik zu hantieren pflegt, man sich also in den eigenen Intrigenspielen verhedderte. Jedenfalls wurde parallel zum Kandidaten Nawaylnyj auch noch der Häftling Nawalnyj vorbereitet. Die „Häftlingsfraktion“ schien Ende Juli die Oberhand zu gewinnen, Nawalnyj wurde in Kirow in einem äußerst zweifelhaften Prozess zu fünf Jahren Lagerhaft verurteilt und im Gerichtssaal verhaftet. Aus dem Lager lässt sich nun aber schlecht und wenig überzeugend Wahlkampf machen.
Was auch immer der Grund für die Verurteilung war, jedenfalls reagierte die „Kandidatenfraktion“ schnell, um ihr Szenarium zu retten, und schon zwei Stunden nach dem Urteil beantragte derselbe Staatsanwalt, der eben noch sechs Jahre gefordert und fünf Jahre bekommen hatte, Nawalnyj gegen jede Üblichkeit und Sitte der russischen Justiz, bis zur Berufungsverhandlung auf freien Fuß zu setzen. Das geschah am Tag darauf. Der Wahlkampf konnte beginnen.
Ich will nun auf drei Aspekte näher eingehen: Die Art des Wahlkampfs, die Frage, ob Nawalnyj nun ein demokratischer und damit „wählbarer“ Kandidat ist oder nicht, und auf das voraussichtliche Ergebnis.
Während Bürgermeister Sobjanin in guter Kremltradition den über allen stehenden Stadtvater mimte, der seine Kinder-Bürger umsorgt und umhegt und alle anderen Kandidaten das machten, was sie schon seit vielen Jahren immer wieder machen, unterschied sich Nawalnyjs Wahlkampf in einigen wesentlichen Punkten vom bisher Üblichen und Möglichen. Da ist an erster Stelle die sehr erfolgreiche Finanzierung durch Crowd-Funding. Sie erzeugte bei vielen Nawalynj-UnterstützerInnen ein bisher unerhörtes Gefühl von Beteiligung. Sie ist wesentlich transparenter als die übliche Wahlkampffinanzierung. Sie macht unabhängig. Und sie machte viele Konkurrenten, zwischenzeitlich auch Kremlagenturen wie die Zwentrale Wahlkommission, böse. Es gab mehrfach Versuche, Nawalnyj aus dem Crowdfunding einen Strick zu drehen, u.a., weil angeblich auch Ausländer spendeten, was verboten ist. Doch offenbar siegten erneut diejenigen, die des Konkurrenten Nawalnyj nicht entbehren wollten.
Nawalnyj führte einen echten Straßenwahlkampf. Mehr als vier Wochen trat er werktäglich dreimal, an Wochenendtagen bis zu fünfmal unter freiem Himmel, meist in der Nähe einer Metro-Station auf (hier das Video eines Auftritts im August). Das kann er wirklich gut (im Gegensatz zu Konkurrent Sobjanin, der ein fürchterlich schlechter Redner ist) und er machte es wirklich gut.
Eine wirkliche Premiere war auch die Erklärung von 37 InternetuntermehmerInnen, sie hätten mit Nawalnyj einen „Gesellschaftsvertrag“ geschlossen. Sie würden ihn unterstützen und er werde, sollte er gewählt werden, für rechtstaatliche Arbeitsbedingungen für Unternehmen sorgen und vor allem die Korruption effektiv bekämpfen. Erstmals seit der Verhaftung von Michail Chodorkowskij vor fast zehn Jahren haben sich Unternehmer getraut öffentlich politisch gegen Putin Stellung zu nehmen. Wichtiger noch: Sie haben es gemeinsam getan. Allein mosern lässt der Kreml mitunter durchgehen. Aber kollektives Vorgehen außerhalb enger korporativer Interessen ist eines der wichtigsten Tabus des Putin-Regimes. Wichtig ist auch, dass es sich ausschließlich um Menschen handelt, die ihre Unternehmen ohne staatliche Hilfe, ohne Schürfrechte, geschützte Monopole oder ähnliche „administrative Ressourcen“ aufgebaut haben.
Inzwischen haben sich mehrere Dutzend weiterer UnternehmerInnen angeschlossen. Passiert ist ihnen noch nichts. Aber die Wahl ist ja noch nicht zu Ende. Eine Reaktion wird sicher kommen. Die UnternehmerInnen sind also erstens mutig, zweitens aber sagt dieser Mut etwas darüber aus, wie nicht mit dem Kreml verbundene, durch ihn „lizensierte“ oder mit dem Zugang zu Ressourcen versorgte Unternehmen ihre wirtschaftliche Zukunft sehen, sollte sich nicht etwas am geschlossenen politischen System ändern.
Nun zum zweiten Punkt, ob Nawalynj für demokratisch gesinnte WählerInnen überhaupt wählbar ist. Zweifel daran säen vielzählige Erzählungen und Berichte, er habe nationalistische Tendenzen. Andere behaupten, Nawalnyj sei ein gewissenloser Machtmensch und so letztlich keine Alternative zu Putin, sondern nur das Gleiche in anderer Verpackung. Die Anschuldigungen scheinen nicht völlig haltlos zu sein. Zumindest weil unter den KritikerInnen Nawalnyjs viele honorige Menschen sind, müssen sie geprüft werden.
Vor sieben Jahren wurde Nawalnyj aus der demokratischen Jabloko-Partei (die mit einem eigenen Kandidaten, ihrem Vorsitzenden Sergej Mitrochin antritt) geworfen (Nawalnyj, seinerzeit im Vorstand von Jabloko, sagt, er sei selbst gegangen). Der Vorwurf lautete auf wiederholte nationalistische und fremdenfeindliche Äußerungen. Auch jetzt im Wahlkampf wurden diese Vorwürfe detailliert von Menschen wiederholt, die dabei waren (auch wenn sie als Jabloko-AnhängerInnen nicht ganz ohne eigene Interessen sind).
Nawalnyj nahm auch mehrfach am sogenannten „Russischen Marsch“ teil, den russische Nationalisten jedes Jahr am 4. November, dem von Putin gestifteten staatlichen „Tag der Einheit des russischen Volkes“ organisieren. Im vor einem Jahr im Internet gewählten „Koordinationsrat der Opposition“ arbeitete er immer wieder mit den dort auch vertretenen Nationalisten zusammen.
Die jüngsten Vorwürfe in dieser Richtung beziehen sich auf den jetzigen Wahlkampf. Gleich am Anfang hatte die Moskauer Stadtverwaltung eine Auseinandersetzung zwischen Polizei und HändlerInnen aus Dagestan (eine russische Teilrepublik im Kaukasus, die HändlerInnen sind also russischen StaatsbürgerInnen) auf einem Moskauer Markt zum billigen Anlass für eine Jagd auf „illegale Ausländer“ genommen. Mehrere Tausend Menschen wurden festgenommen und teilweise in einem schnell in der Stadt aufgebauten Zeltlager unter menschenunwürdigen Bedingungen interniert. Viele der Festgenommen wurden später abgeschoben.
Keiner der BürgermeisterkandidatInnen kritisierte diese eindeutig auf die zunehmend ausländerfeindliche Stimmung in Moskau zielende Kampagne grundsätzlich. Auch Nawalnyj forderte eine Visumspflicht für Menschen aus den zentralasiatischen, ehemals zur Sowjetunion gehörenden Ländern, die bisher ohne Visum nach Russland einreisen dürfen und seit einigen Jahren einen großen Teil der ausländischen Arbeitskräfte in Russland und insbesondere in Moskau stellen. Immerhin kritisierte Nawalnyj die vielfachen Gesetzesverletzungen bei den Festnahmen und Internierungen ausländischer Menschen und forderte, alles müsse rechtstaatlichen Normen folgen.
In der Opposition (ich nutze den Begriff, obwohl ich natürlich weiß, dass es die Opposition nicht gibt) entspann sich in den vergangenen Wochen eine zum Teil erbittert geführte Diskussion darüber, ob man unter diesen Umständen als anständige(r) DemokratIn für Nawalnyj stimmen könne. Viele Publizisten, wie z.B. der stellvertretende Chefredakteur der Internetzeitung Polit.Ru Boris Dolgin, den ich sehr schätze, zermartern sich öffentlich den Kopf, ob man denn „taktisch“ oder „strategisch“ (also nicht, weil man den Menschen und/oder sein Programm so gut findet) für jemanden stimmen könne, der Positionen vertritt, die aus ethischen und moralischen Gründen unannehmbar sind (in Deutschland würde man sagen: den „Boden des demokratischen Konsenses verlassen“ haben).
Mir ist eine Position nahe, die der Leiter des Panorama-Zentrums Wladimir Prybilowskij auf seiner Facebook-Seite so ausgedrückt hat: „Wenn das Bürgermeisterwahlen wären, würde ich für Sergej Mitrochin stimmen. Aber das sind keine Bürgermeisterwahlen, sondern ein Referendum für oder gegen den Status Quo. Deswegen werde ich für Alexej Nawalnyj stimmen.“ Es geht bei diesen Wahlen nicht um einen besseren oder schlechteren Moskauer Bürgermeister. Es geht darum, ob es vielleicht (sehr vielleicht) gelingt, die vom Kreml bisher allein diktierten politischen Spielregeln im Land ein wenig zu verändern. Anders ausgedrückt: Es geht darum, zu verhindern, dass der Kreml sich sein seit Dezember 2011 angeknackstes Politikmonopol endgültig zurück holt.
Und es geht um Institute. Putin hat alle demokratischen Institute ausgehöhlt und allgemeiner, zynischer Missachtung ausgeliefert. Die Proteste gegen die Wahlfälschungen im vorvorigen Winter haben aber gezeigt, dass das nicht allen Menschen in Russland egal ist. Es gibt eine (noch) Minderheit, die nur in einer Wiederbelebung der demokratischen Institute eine Entwicklungsperspektive für sich und das Land insgesamt sieht.
Nun zum letzten Punkt: Was wird herauskommen? Das offizielle Ergebnis dürfte bereits feststehen. Wie Wladimir Putin bereits in der Vorwahlwoche verkündete, wird Sobjanin 60 Prozent plus bekommen (und wer soll das wissen, wenn nicht er). Nawalnyj dürfte irgendwo zwischen 10 und 20 Prozent landen. Die anderen Kandidaten bleiben alle unter 5 Prozent. Die wichtige Frage ist, wie stark für dieses Kremlwunschergebnis gefälscht werden muss. Bekommt Nawalnyj real viel mehr Stimmen und Sobjanin viel weniger (oder sollten das zumindest viele Menschen glauben), könnte die Wahl erneut zum Trigger für Proteste werden und der Opposition Auftrieb geben (was dann aber auch zu neuen Repression führen dürfte).
Michail Chodorkowskij rief aus dem Lager auf, für Nawalnyj zu stimmen. Nicht, weil er ihn für den besseren Bürgermeister hielte, sondern weil das Nawalnyj vor dem drohenden Gefängnis retten könne. Das ist leider nicht sicher. Paradoxer Weise könnte eine hohe Stimmenzahl Nawalnyj sowohl schützen (weil der Kreml sich vor der Reaktion seiner vielzahligen AnhängerInnen fürchtet) als auch erst Recht ins Gefängnis bringen (weil der Kreml sich davor fürchtet, Nawalnyj könnte zu stark werden).
Kurzfristig hängt immer noch alles vom Willen Putins ab. Aber mittelfristig ist die Zukunft weiter offen.