Normalerweise sind Vorhersagen im politischen Geschäft eine undankbare Sache. Nichtsdestotrotz habe ich vor zehn Tagen im gewagt, das baldige Ende der gegenwärtige Kampagne gegen unabhängige NGOs (mithilfe des sogenannten „Agentengesetzes“) in Russland für wahrscheinlich zu erklären. Ich könnte schneller Recht behalten, als gedacht. Und das hängt nicht unwesentlich am Kampagnenartigen des Ganzen.
Kampagnen neigen zu unkontrolliertem Überschießen. Das scheint auch diesmal wieder geschehen zu sein. In der westlichen Presse wurde viel vom Fall Gurijew berichtet. Der hat zwar nicht unmittelbar etwas mit dem „Agentengesetz“ zu tun oder auch nur mit NGOs im Allgemeinen, aber mittelbar schon.
Sergej Gurijew ist einer der international anerkanntesten russischen Wirtschaftswissenschaftler. Seit Mitte der 2000er Jahre stand er der „Russischen Ökonomischen Schule“ (RESch) als Reaktor vor und machte diese private Hochschule zur angesehendsten Wirtschaftshochschule des Landes (nur die Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät der Moskauer Staatsuniversität kann da mithalten). Gurijew selbst wird (oder wurde) dem Umfeld von Dmitrij Medwedjew zugerechnet (obwohl dieses „Zurechnen“ immer eine heikle Angelegenheit ist). Er sitzt in zahlreichen Aufsichtsräten, darunter von Staatsunternehmen, wie der mit Abstand größten russischen Bank, der Sberbank.
Gurijew hielt sich immer mit öffentlichen politischen Äußerungen zurück. Wenn er sich äußerte, dann nahm er deutlich die Position eines Wirtschaftsexperten ein. So kam es, dass er, zusammen mit fünf weiteren Experten, 2010 nach einer von Medwedjew geleiteten Sitzung des präsidialen Rats für Zivilgesellschaft und Menschenrechte gebeten wurde, ein Gutachten zur zweiten Verurteilung von Michail Chodorkowskij und Platon Lebedew zu schreiben. Das Gutachten kam zu dem Schluss, die beiden nun schon seit zehn bzw. fast zehn Jahren einsitzenden Unternehmer seien für „normale wirtschaftliche Tätigkeit“ verurteilt worden. Das Gutachten hatte weiter keine Folgen. Kurz nach seiner Veröffentlichung machte Medwedjew als Präsident wieder Wladimir Putin Platz. Hoffnungen auf eine Freilassung von Chodorkowskij und Lebedew gibt es kaum.
Im April dieses Jahren nun durchsuchten Staatsanwälte Gurijews Büro und Haus, ebenso wie die Räume der anderen fünf GutachterInnen. Sie suchten angeblich Beweise dafür, dass das Gutachten von Chodorkowskij bezahlt worden sei. Daraus sollte wohl (soll wahrscheinlich noch immer) ein Bestechungsdelikt konstruiert werden. Gurijew fragte bei hochgestellten Freunden und Bekannten, ob er denn noch sicher sei oder Angst haben müsse, bald in Haft zu landen. Nach eigener Aussage bekam er keine klare Antwort in dem Sinne, er solle sich nicht sorgen. Heute in Russland heißt das deutlich, dass Sorge höchst angebracht ist.
Daraufhin reist Gurijew nach Frankreich aus, wo in Paris seine Frau mit zwei Kindern längst arbeitete und lebte und ließ über Facebook wissen, „Paris ist besser als Krasnokamensk“. Damit hat er ohne Frage Recht, meint er doch die ostsibirsche Strafkolonie unweit der russisch-chinesischen Grenze, in der Chodorkowkij seine erste Strafe verbüßte.
„Paris ist besser als Krasnokamensk“ wurde trotz schneller Löschung in Gurijews Facebook-Account in Windeseile zum geflügelten Wort. Es drückt fast in Vollendung die Nervosität in liberal-intellektuellen Kreisen in Russland aus.
Ein anderer Fall hat direkt mit dem „NGO-Agentengesetz“ zu tun. Swetlana Makowezkaja ist eine gefragte Expertin für Verwaltungsreformen und Bürgerbeteiligung aus Perm, einer Millionenstadt am nördlichen Ural. Sie hat eine eigene Organisation namens „Zentrum für zivilgesellschaftliche Analyse und wissenschaftliche Forschung“ (GRANI). Gleichzeitig mit drei anderen Permer Organisationen wurde GRANI schon Ende Mai zu „Agenten“ erklärt.
GRANI und Swetlana Makowezkaja als Person beraten Regierungen, die russische, aber auch z.B. die kasachische. Aus einer dieser Beraterverträge hat GRANI nach Inkrafttreten des „Agentengesetzes“ rund 20.000 Euro Honorar bekommen. Ausländisches Geld, eine „Agenten“-Voraussetzung ist also erfüllt. Nun sitzt Swetlana Makowezkaja in verschiedenen Räten der russischen Regierung, in die sie u.a. von Premierminister Medwedjew und Wirtschaftsminister Andrej Belousow berufen wurde. Damit, mit ihrem von der Regierung angefragten Rat also, so die Staatsanwaltschaft, beeinflusse sie Regierungshandeln, das sei „politisches Handeln“, also sei auch das zweite Kriterium gegeben, ihre Organisation als „Agent.
Diese beiden Fälle (Gurijew und Makowezkaja) zusammen mit anderen, wie dem Moskauer Umfrageinstitut Levada-Zentrum, sind aus Sicht der Staatsanwaltschaft durchaus „logische“ Folgen des „NGO-Agentengesetzes“. Direkt, weil da eben „politische Tätigkeit“ steht und die Staatsanwaltschaft in guter totalitärer Tradition als „politisch“ alles Öffentliche definiert. Indirekt, weil mit den Angriffen auf die NGOs zunehmend alles unabhängige Handeln im öffentlichen Raum unter „Verdacht“ gerät und delegitimiert wird. Wer „gegen“ den Staat handelt (und wenn er oder sie sich nur auf eine Interpretation von Recht beruft, das staatlichen Stellen nicht teilen), kann nur unlautere, von „außen“ oder von „Feinden“ induzierte oder gar direkt „bestellte“ Ziele verfolgen.
Solange diese sehr schnell erneut Raum greifende (Staats-)Logik sich nur gegen die NGOs wandte, reagierte kaum jemand außer den NGOs selbst (und westliche staatliche und nicht-staatliche Akteure). Doch nun trifft es diejenigen, die sich eigentlich gut mit dem Putin-Staat eingerichtet zu haben schienen, von ihm hofiert wurde, „Bedeutung“ hatten, weil ihre Kompetenz, ihr Rat und ihre professionellen Fertigkeiten vor allem im wirtschaftlichen Bereich gebraucht wurden. Und sie reagieren nervös.
Gurijew zeitweises und selbstgewähltes Exil (das in der innerrussischen Diskussion durchaus mitunter kritisch als „angsthasig“ oder gar „Verrat“ bezeichnet worden ist) hat hier eine wichtige Katalysatorfunktion. Das Problem ist damit nicht mehr nur virtuell und individuell. Es hat eine politische Dimension bekommen. Auch darauf reagiert nun der Kreml. Wie?
Am 13. und 14. Juni tagte in Moskau der Civil G20 Summit. Beim Auftaktpanel umgingen erst alle TeilnehmerInnen, darunter Vizepermierminister Arkady Dworkowitsch und Ex-Finanzminister Alexej Kudrin das böse „Agentenwort“ und sprachen nur von „Problemen der Zivilgesellschaft“. Doch spätestens mit der Frage-und-Antwort-Runde war es damit vorbei. Kudrin, von Putin kurz zuvor erneut als weiterhin „enger Freund“ bezeichnet, kritisierte das „Agentengesetz“ als der weiteren wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung Russland schädlich. Es müsse zurück genommen werden. Nun konnte (oder wollte?) auch Dworkowitsch nicht zurückstehen (auch wenn er ein wenig dabei ins Schwitzen kam). Man solle ihm Vorschläge zur Änderung des Gesetzes machen. Er sei dann bereit, in der Regierung entsprechende Vorschläge einzubringen. Sprach es und verschwand zu einem Treffen mit Putin.
Später am Tag dann traf Putin eine Delegation des Civil G20 Gipfels. Auf die vorgebrachte Kritik am „Agentengesetz“ verteidigte er zwar das Gesetz, wie schon zuvor immer, als „notwendig“, aber die Durchführungspraxis müsse man wohl überarbeiten.
Ein paar Tage später zeigte sich Justizminister Alexander Konowalow, ohnehin kein Freund des für sein Ministerium eher unangenehmen Gesetzes, überzeugt, dass die immer noch leere „Agenten“-Liste auch leer bleiben werde. Es gebe doch so viele Ausweichmöglichkeiten für die NGOs, wie z.B. die Bildung einer GmbH, für die das Gesetz nicht gelte. Da werde sich keiner freiwillig eintragen lassen. Da weiß man nun nicht, ob das Wohlwollen, Zynismus oder einfach nur Realitätssinn ist. Wahrscheinlich eine ein wenig obszöne Mischung aus all dem.
Noch ein paar Worte zum „Überschießen“ der Kampagnen in Russland. Die Schwäche des russischen Staates liegt in den Kampagnen, dass er gleichsam nicht anders kann. Die Kampagnen selbst dann werden, wie das ja oft bei langer Praxis ist, durchaus virtuos genutzt. Deshalb sollte man das „Überschießen“ auch nicht als Unfall oder Fehler interpretieren. Damit wird in der politischen Führung selbstverständlich gerechnet. Es ist, politologisch gesprochen, ein wesentlicher Bestandteil der Herrschaftsmethode. Und zwar nach innen wie nach außen.
Nach innen dient es der Disziplinierung. Diejenigen, die „überschießen“, könne dafür abgestraft werden. Dadurch werden Plätze frei und so lässt sich, diesmal modern gesprochen, Personalpolitik machen. Nach außen kann sich der Herrscher, hier Putin die traditionelle Rolle als „guter Zar“ aneignen, der das alles so gar nicht gewollt hat (schon im März sprach Putin davon, man solle doch bitte bei der Anwendung des „Agentengesetzes „Übertreibungen“ unterlassen). Außerdem verbreiten Kampagnen viel mehr Unsicherheit und Angst, da sie letztlich doch unberechenbar bleiben. Wer ihr Opfer wird, kann nur noch auf Barmherzigkeit und Milde rechnen, nicht mehr auf Recht.
Die bisher eher zarten Signale, die „Agenten“-Kampagne könne sich mit einigen wenigen Opfern begnügen und habe mit der ein geflößten Angst und dem NGOs gegenüber gesäten Misstrauen ihre Ziele erreicht, sollten aber nicht darüber hinweg täuschen, dass der Druck auf unabhängige NGOs (wie auf alles und jeden, was nicht vom Kreml abhängt und das auch noch zeigt) weiter hoch bleiben wird. Neuestes Beispiel ist die gewaltsame Räumung des Büros von „Für Menschenrechte“ (Leiter: Lew Ponomarjow), einer der ältesten Menschenrechts-NGOs Mitte Juni durch „unbekannte Personen“ im Auftrag der Moskauer Stadtverwaltung und unter den Augen von Spezialeinheiten des Innenministeriums, die aber nur „die Ordnung“ aufrecht erhalten hätten (wegen der schnell anrückenden DemonstrantInnen und den Menschenrechtsbeauftragtem Wladimir Lukin wahrscheinlich, die aber auch nichts ausrichten konnten).
Was immer hinter dieser gewaltsamen Räumung steht: Es ist eine weitere und sicher gewollte Folge des „Agentengesetzes“, dass NGOs zu einer Art Freiwild werden.