Russische „NGO-Agentenjagd“ – eine Zwischenbilanz

Die Putins lassen sich scheiden (oder sind schon geschieden, wer weiß das schon).  Halb Russland rätselt warum. Und warum jetzt? Einerseits gibt es eine gewissen Anerkennung, weil damit nur öffentlich gemacht wird, was ohnehin Allgemeingut war. Andererseits ist das Land gewohnt, hinter jeder noch so kleinsten Regung seiner Mächtigen zweite, dritte oder gar vierte Gründe zu suchen. Vielleicht ist das ein Grund. Das Land ist beschäftigt und achtet weniger auf wichtigere Dinge. Zu den wichtigeren, wenn nicht gar gegenwärtig wichtigsten Dingen in Russland zählt das sogenannte „NGO-Agentengesetz“, das nicht umsonst diesen Blog seit Monaten dominiert. Nach den massenhaften „Überprüfungen“ durch die Staatsanwaltschaft seit Anfang März und den darauf folgenden Bescheiden in Form von Strafbefehlen, „Auflagen“ und „Warnungen“ ist Zeit für eine kleine Zwischenbilanz.

Insgesamt sind im ganzen Land etwa 300 „überprüfte“ NGOs bekannt. Da bei weitem nicht alle NGOs die „Besuche“ der Staatsanwaltschaft öffentlich gemacht und die Behörden von über 600 (Putin im ARD-Interview: 654) NGOs gesprochen haben, die seit Inkrafttreten des Gesetzes Ende November 2012 Geld aus dem Ausland erhalten haben, muss von einer recht großen Dunkelziffer ausgegangen werden. Vor allem von Think Tanks und religiöse Organisationen gibt es fast keine Informationen. Im Folgenden schreibe ich nur von den bekannten Fällen, die Dunkelziffer muss aber im Kopf behalten werden.

In 58 bekannten Fällen hat die Staatsanwaltschaft bisher nach Beendigung der „Prüfungen“ Bescheide über tatsächliche oder mögliche „Agententätigkeit“ verschickt. Hinzu kommen noch 20-25 Bescheide über angeblich mangelnden Brandschutz, Arbeitsplatzsicherheit, Gesundheitsvorsorge etc.  Die meisten Bescheide gab es bis Anfang Mai. Seither nur noch sehr wenige.

Mitte dieser Woche hat Justizminister Alexander Konowalow davon gesprochen,  die „Überprüfungen“ hätten ergeben, dass es im ganzen Land rund 100 als „ausländische Agenten“ zu betrachtende NGOs gibt. Nimmt es man die 58 uns bekannten und die Dunkelziffer zusammen, kommt man auf etwa diese Zahl. Das gibt die kleine Hoffnung, dass alle, die bisher noch keinen Bescheid bekommen haben, zumindest diesmal noch davon kommen könnten. Für alle anderen wird es damit aber ganz eng.

Zu den Bescheiden. Es gibt zwei Arten: „Auflagen“ und „Warnungen“. Bei den bisher 20 „Auflagen“ hat die Staatsanwaltschaft „Agententätigkeit“ bereits festgestellt. Die entsprechenden NGOs, so steht es in den Bescheiden, hätten das NGO-Gesetz verletzt, weil sie ausländisches Geld erhalten und sich „politisch betätigt“ hätten, ohne sich vorher, wie es ihre Pflicht gewesen wäre, als „ausländische Agenten“ registrieren zu lassen. Das binnen eines Monats nachzuholen wird ihnen jetzt aufgetragen. Diese Gruppe teilt sich noch einmal in 6 Bescheide mit gleichzeitigen Strafbefehlen (zwei Organisationen der WahlbeobachterInnen von Golos; eine NGO aus Kostroma, die offenbar den Fehler machte, einen Mitarbeiter der US-Botschaft zu einer öffentlichen Diskussionsveranstaltung einzuladen; das Antidiskriminierungszentrum Memorial  aus St. Petersburg, das sich um die Rechte von Roma kümmert; sowie die beiden LGBTI-Organisationen „Wychod“ und „Bok-o-bok“ ebenfalls aus St. Petersburg, die ProjektpartnerInnen der Heinrich Böll Stiftung sind) und 14 ohne gleichzeitigen Strafbefehl (darunter die Heinrich-Böll-Stiftungs-PartnerInnen Menschenrechtszentrum Memorial in Moskau, die Ökologische Baikalwelle in Irkutsk, die „Frauen des Don“ in Nowotscherkassk und vier NGOs in Perm). All diese NGOs haben nur noch die Möglichkeit, Beschwerde einzulegen und zu klagen. Erste Gerichtsverfahren (Golos, Bok-o-bok, Kostroma) gab es schon. Alle wurden verloren.

38 NGOs haben sogenannte „Warnungen“ in Bezug auf den „Agentenparagraph“ erhalten. „Warnung“ bedeutet, dass diese NGOs nach Ansicht der Staatsanwaltschaft noch nicht das Gesetz verletzt haben, aber ausländisches Geld bekommen und die Staatsanwaltschaft in ihren Statuten die „Möglichkeit politischen Handelns“ sieht. In den Warnungen werden diese NGOs aufgefordert, sich als „Agenten“ registrieren zu lassen, bevor sie „politisch tätig“ werden. Was die Staatsanwaltschaft mit „politisch tätig werden“ meint, wird in jedem einzelnen Fall genau und in fast jedem Fall unterschiedlich beschrieben. Gemeinsam ist all diesen Definitionen des „Politischen“, dass es sich um Öffentlichkeit handelt und staatliche Einrichtungen und Behörden eine Rolle spielen. In dieser Gruppe sind weitere unserer PartnerInnen.

Die NGOs dieser zweiten Gruppe haben, da sie (ich wiederhole mich) das Gesetz ja noch nicht verletzt haben, theoretisch mehr Möglichkeiten zu reagieren als die der ersten Gruppe: Sie könnten auf ausländische Finanzierung verzichten; sie könnten ihre Satzungen ändern (auf die sich die Staatsanwaltschaft meist bezieht) und hoffen, dass ihre Tätigkeit dann  nicht mehr als „politisch“ eingestuft wird; sie könnten sich auch als „Agenten“ registrieren lassen und, zumindest nach dem Gesetz, weiter machen wie bisher. Fast alle NGOs aus dieser Gruppe ziehen es aber vor, Beschwerde und, wenn die abgelehnt wird, Klage auch gegen die „Warnungen“ einzulegen. Viele verzichten vorsichtshalber und zumindest vorerst auch auf ausländische Finanzierung.

Was machen die NGOs, die „überprüft“ worden sind, aber bis heute keinen Bescheid der Staatsanwaltschaft bekommen haben? Nach dem Gesetz ist die Staatsanwaltschaft nicht verpflichtet, das Ergebnis ihrer „Überprüfungen“ mitzuteilen. Wer bisher also noch keinen Bescheid hat, kann die Hoffnung hegen, dass bei ihm oder ihr keine „Agententätigkeit“ gefunden wurde. Justizminister Konowalows oben erwähnte „rund 100 Agenten“ legen das nahe. Theoretisch könnte die Staatsanwaltschaft aber auch nur deshalb keine Bescheide verschicken, weil sie es zweckmäßiger findet, das nicht zu tun. Zum Beispiel, weil damit weitergehende oder andere Ermittlungen gefährdet wären. Es gibt also nur Hoffnung, keine Gewissheit. Da fast alle PartnerInnen der Heinrich Böll Stiftung „überprüft“ wurden, gibt es sie auch unter den NGOs, die noch keine Bescheide bekommen haben.

Ist eine Systematik zu erkennen? Wie es scheint, sind in erster Linie LGBTI-Organisationen betroffen, dann WahlbeobachterInnen und auch noch NGOs, die sich mit Korruption beschäftigen. Grundsätzlich ist aber kaum eine wirklich klare Linie zu erkennen. Das dürfte auch damit zusammen hängen, dass ein wichtiges Ziel solcher Kampagnen immer die Abschreckung und die Verbreitung von Unsicherheit ist. Durch eine gewisse Willkür entsteht der (ja zutreffende) Eindruck, das es alle und jeden treffen kann, unabhängig an welchem Thema die Leute arbeiten und wie sie sich verhalten.

Wie geht es weiter? Eine Genugtuung für alle in der russischen NGO-Szene ist es, dass sich, trotz des enormen, nun ja auch strafrechtlichen Drucks, bis heute keine einzige NGO als „ausländischer Agent“ hat registrieren lassen (das entsprechende, auch online zugängliche Register des russischen Justizministeriums ist bisher leer). Das ist ganz offenbar kein Ergebnis von irgendwelchen Absprachen. Es gibt zwar selbstverständlich viel Kommunikation und gegenseitige Unterstützung der NGOs untereinander. Aber es kann kein koordiniertes Vorgehen bei der für jede Organisation einzeln zu entscheidenden Frage geben, wie man sich selbst am besten verhält. Dahinter scheint eher ein inzwischen allgemein verbreitetes Verständnis der eigenen Würde zu stehen. Wenn man so will, ist das ein Zeichen für den Reifungsprozess ziviler, staatsbürgerlicher Akteure in Russland in den vergangenen 20 Jahren. Hinzu kommt aber auch, dass das NGO-Gesetz so formuliert ist, dass eine Organisation die Registrierung als „Agent“ selbst beantragen muss. Sollte sie das machen, besteht nach Ansicht von Juristen das gegenwärtig kaum abschätzbare Risiko, dass dann später die Leitungen der NGOs in Gefahr laufen, wegen Landesverrats belangt zu werden. Das Landesverratsgesetz wurde ja ebenfalls im Herbst verschärft und ist seither fast unendlich weit auslegbar.

Diejenigen NGOs, die Bescheide erhalten haben (das betrifft vor allem die erste Gruppe; inwieweit auch die zweite, ist vorerst unklar) und nun den Rechtsweg begehen, haben im schlimmsten Fall noch bis zum Herbst zu leben. Wenn alle Beschwerden und Klagen abgelehnt werden, werden die ersten Bescheide im September rechtskräftig. Weitere Folgen können dann neben den bereits ausgesprochenen Geldstrafen die Schließung der Organisation sein und, weil eine weitere Verweigerung der Registrierung von Staatsanwaltschaft und Gericht als „mutwillige“ Gesetzesverletzung eingestuft werden könnte, eine strafrechtliche Verfolgung der Vorsitzenden der NGOs sein. Das Gesetz sieht Geldstrafen und bis zu zwei Jahren Haft vor.