Proteste in Russland – Eintagsfliegen oder Tendenz?

Die landesweiten Proteste am 26. März dieses Jahres haben die politische Landschaft in Russland verändert. Sie waren in ihrer geographischen Ausdehnung ebenso wie in der Zahl der Protestierenden von niemandem erwartet worden, weder vom Kreml noch von irgendjemandem in der Opposition. Vor diesen Protesten herrschte der allgemeine Eindruck, Präsident Putin habe praktisch völlige Kontrolle über die politische Entwicklung in Russland. Er werde die Präsidentenwahlen im März 2018 ohne Mühe gewinnen und dabei nicht einmal sonderlich auf Propaganda oder gar Wahlfälschung angewiesen sein. Das steht nun alles in Frage.

Zu den Protesten hatten Alexey Nawalnyj und seine „Stiftung zur Bekämpfung der Korruption“ aufgerufen. Nawalnyj ist für seine Anti-Korruptionsenthüllungen bekannt und bereits erklärt, er werde in einem Jahr bei den Präsidentenwahlen antreten. Anfang März hatte Nawalnyj im Internet ein Video veröffentlicht, dass Ministerpräsident Dmitrij Mededjew der milliardenschweren Korruption zeiht. Nun ist die Behauptung, endemische Korruption sei eines der Erkennungsmerkmale des gegenwärtigen politischen Regimes in Russland und Politiker bis in die höchsten Ränge seien daran beteiligt, nicht wirklich neu und auch nicht wirklich umstritten. Trotzdem wurde ausgerechnet dieses Video zu dem, was man wohl neudeutsch einen viralen Hit nennt. Binnen kurzer Zeit hatten mehr als zehn Millionen Menschen den 50-Minuten-Film angeschaut (inzwischen, Stand 25.4.2017, sind es fast 20 Millionen). Medwedjew und der Kreml antworteten mit herablassender Missachtung und weitgehendem Verschweigen. Daraufhin rief Nawalnyj zu Protesten am 26. März auf.

Seine Unterstützer versuchten überall in Russland Demonstrationen anzumelden. In einigen Städten und Regionen gelang das, aber in den meisten, darunter Moskau und St. Petersburg, schlugen die Behörden Demonstrationsrouten weit außerhalb der Innenstädte vor, die die Anmelder ablehnten. Mit dem Argument, das Vorgehen der Behörden sei verfassungswidrig, rief Nawalnyj trotzdem weiter zu Protesten an den ursprünglich beantragten Demonstrationsorten auf. Die Zahl der Demonstranten übertraf dann alle Erwartungen. Zwar liegen die Schätzungen zwischen Innenbehörden und Organisatoren der Demonstrationen immer auseinander, aber alles in allem, gingen am 26. März landesweit wohl mindestens 60.000 Menschen auf die Straße. Allein in Moskau waren es etwa 30.000. In vielen anderen Städten waren diese Demonstrationen die größten seit den 1990er Jahren. Die Tatsache, dass die Demonstration in Moskau nicht erlaubt und eine Demonstrationsteilnahme deshalb nicht ungefährlich war (was die dann mehr als 1.000 Verhaftungen bestätigten) lässt zudem die Vermutung zu, dass bei einer genehmigten Demonstration die Zahlen vom Protestwinter 2011/2012 hätten erreicht werden können.

Recht schnell merkten viele Beobachter an, dass sich die Zusammensetzung dieser Demonstrationen von der vorheriger deutlich zu unterscheiden schien. Nie zuvor waren so viele so junge Menschen unter oppositionellen Demonstranten in Russland gesehen worden. Wenn diese Beobachtung stimmt, dann haben wir es nicht nur mit einem unerwarteten Wiederaufleben von politischen Protesten zu tun, sondern diese Proteste haben auch eine neue Qualität.

Dazu ein kurzer Blick zurück. Vor dem Protestwinter 2011/2012 gingen (gegen Putin) meist nur die „üblichen Verdächtigen“ auf die Straße, also allgemein gesprochen diejenigen, die schon die Perestroika Ende der 1980/Anfang der 1990er Jahre gemacht hatten. Im Winter 2011/2012 stellten sie immer noch den Großteil der Protestierer, aber inzwischen hatten sich ihre Kinder zu ihnen gesellt. Diese Kinder, damals Mitte 20 bis Mitte 30, galten in den (Putin-)Jahren zuvor als unpolitisch. Sie beschäftigten sich mit Bildung, Reisen, viel Kultur, aber kaum mit Politik. Politik galt ihnen als schmutzig, unwürdig, schlicht nicht angesagt. Ihr dann unerwartet und fast ohne Vorzeichen aufwachender Protest hatte viel mit den Modernisierungsversprechen unter Interimspräsident Dmitrij Medwedew zu tun, also mit einer Hoffnung auf Änderung und Öffnung des politischen Systems, die im Herbst 2011 mit der Ankündigung von Wladimir Putins Rückkehr in den Kreml jäh enttäuscht worden war.

Am 26. März nun gingen zwar nicht die Kinder der Kinder der Perestroika auf der Straße, wohl aber junge Menschen, die außer Putin keine politische Macht aus eigener Anschauung kennen, Putin-Kinder sozusagen. So wie vor den Protesten 2011/2012 die Nach-Perestroika-Generation als unpolitisch galt, weil sie sich der Politik enthielt, galten die heute 15- bis 25-jährigen als hoffnungslos, weil sie Kinder der Propaganda zu sein schienen, die in der Schule, im Fernsehen, überall in der Öffentlichkeit nichts anderes als nur Putin kannten. Allgemeine, das heißt im Kreml wie in der Opposition akzeptierte Grundlage dieser Annahme waren Umfragen, die zeigten, dass die überragende Mehrheit der Menschen in Russland sich über Politik aus dem Fernsehen informiert. Das Fernsehen aber wird (mit kleinen, im Landesmaßstab unbedeutenden Ausnahmen) völlig vom Kreml kontrolliert wird. Das war, wie sich nun gezeigt hat, offenbar ein gemeinsamer Fehlschluss. Wie es scheint, zielt die fernsehlastige Propagandamaschine zumindest teilweise an der Zielgruppe „junge Menschen“ vorbei.

Nun hatte allerdings der Kreml auch für diesen Fall vorzusorgen versucht. Denn schon 2011/2012 wurden das Internet und die sozialen Netzwerke als Katalysatoren der Proteste gefeiert. Seither schien der Staat das Internet und die sozialen Netzwerke wenn schon nicht erobert, so doch eingehegt zu haben. Dass das zumindest in Teilen (noch nicht) gelungen ist, bedeutet wahrscheinlich nichts Gutes für die immer noch große Freiheit des Internets in Russland. Die Diskussion um die Einschränkung dieser Freiheit in Kremlkreisen hat jedenfalls seit Ende März schon wieder Fahrt aufgenommen.

Im Gegensatz zu 2011/2012 reagiert der Staat dieses Mal aber sehr schnell. Seinerzeit konnte man eine mehrmonatige Schockstarre beobachten. Das hing einerseits damit zusammen, dass auch diese Proteste von niemandem vorhergesehen worden waren. Zudem standen im März 2012 Präsidentenwahlen an. Priorität im Kreml hatten zuerst diese Wahlen. Erst danach ging der Staat hart gegen Oppositionelle vor. Diesmal sind ist es dagegen zum einen noch ein ganzes Jahr bis zu den Präsidentenwahlen. Bis dahin kann noch viel passieren. Zum anderen waren zwar die Proteste erneut unerwartet, die Instrumente und Strategien zum Umgang mit ihnen hat der Staat aber in den vergangenen fünf Jahren immer weiter entwickelt.

Auch 2011/2012 wurden bei den ersten Demonstrationen Anfang Dezember viele Protestierer festgenommen, aber meist sofort wieder freigelassen. Es gab einige administrative Strafen, auch einigen sogenannte „administrative Arreste“ von bis zu zwei Wochen. Doch erstens heizten diese staatlichen Repressionsmaßnahmen den Protest nur weiter an und zweitens zeigte sich schnell, dass das eher eine Routinereaktion denn durchdachtes Vorgehen war. Dieses Mal sieht es nicht so aus, als ob sich die Proteste in den kommenden Wochen verstärkt fortsetzen würden. Es ist eher so als ob auch die Opposition zu einem Spiel auf lange Sicht bereit ist. Das hat sicher auch etwas damit zu tun, dass eine harte Reaktion des Staates erwartet werden musste. Auch die Opposition hat gelernt.

Alexander Tscherkassow vom Menschenrechtszentrum Memorial merkt an, dass es an einem einzelnen Tag habe in Moskau nur einmal mehr Festnahmen gegeben als am 26. März, und zwar am 4. Oktober 1993 als Präsident Jelzin das Parlament mit Panzern beschießen ließ. Soweit das jetzt schon abzusehen ist, wird es neben den vielen Geldstrafen und „administrativen Arresten“, die schon ausgesprochen wurden, auch einige Strafverfahren wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt und Körperverletzung geben.

Ein weiterer wichtiger Unterscheid zu den Protesten von 2011/2012 ist die geographische Ausdehnung. Vor fünf Jahren waren die Proteste fast ausschließlich auf Moskau und, schon weit weniger, St. Petersburg beschränkt. Diesmal fanden, in absoluten Zahlen gerechnet, die größten Proteste zwar wieder in diesen beiden Megapolen statt. Gemessen an der Einwohnerzahl standen aber andere Städte und Regionen im Vordergrund. Ganz vorne waren zudem Städte, in denen es schon seit einiger Zeit andere, meist soziale  Proteste gibt. Das verweist darauf, dass die eher großstädtisch-mittelschichtlichen Proteste vom 26. März wohl auch etwas mit wachsender sozialer Unruhe wegen der andauernden Wirtschaftskrise zu tun haben. Hier nur eine kleine Auswahl:

  • In Wladiwostok demonstrieren Arbeiter eines Rüstungsbetriebs seit Monaten für die Auszahlung ausstehender Löhne);
  • in Moskau wurden im Januar Menschen verhaftet, die Proteste gegen den Bau einer Kirche in einem städtischen Park vor ihrer Haustür organisiert hatten;
  • in Jekaterinburg bildeten Mitte Februar Anwohner eine Menschenkette um einen Teich in der Stadt, der ebenfalls einer neuen Kirche weichen soll;
  • im Gebiet Rostow protestieren Bergarbeiter bereits seit Monaten gegen ausstehende Lohnzahlungen und gefährliche Arbeitsbedingungen in den Schächten.

Man sollte diese Proteste nicht überbewerten. Meist bleiben sie lokal. Meist sind es nicht mehr als ein paar hundert Menschen, die protestieren. Fast nie werden diese Proteste politisch, indem sie (mehr) Mitsprache oder politische Veränderungen fordern. Mein Eindruck ist aber, dass die Zahl solcher Proteste zunimmt (ich kenne allerdings keine Untersuchungen, die das mit Zahlen belegen könnten). Zusammen mit den Protesten vom 26. März ist das alles aber ein deutliches Zeichen von wachsender Unzufriedenheit in der Bevölkerung.