„NGO-Agentengesetz“ aus dem Koma geholt – zu den Massenüberprüfungen russischer NGOs

Im Februar  habe ich hier das sogenannte NGO-Agentengesetz als „im kontrollierten Koma“ befindlich beschrieben. Ich bezog mich dabei u.a. auf Aussagen des russischen Justizministers Alexander Konowalow, der das Gesetz im Januar als „nicht anwendbar“ bezeichnet hatte. Wenn wir, um im Bild zu bleiben, Konowalow in der Kreml-Klinik nun als Oberarzt betrachten, dann hat er (und ich mit ihm) seinerzeit nicht ausreichend mit dem Chefarzt gerechnet. Der, Wladimir Putin geheißen, ist anderer Meinung.

Mitte Februar hat sich Putin bei einer Versammlung in der Lubjanka, dem berühmt-berüchtigten Hauptquartier des Inlandsgeheimdienstes FSB, über Gesetze beschwert, „die nicht angewandt werden“. Dieses Signal ist offenbar angekommen. Am 6. März begannen „Prüfungen“ genannte aber Razzien ähnlichere Kontrollen bei vielen russischen NGOs, bei denen nicht das eigentlich zuständige Justizministerium die Führung hatte, sondern die Generalstaatsanwaltschaft. Mitunter mit Vertretern von fünf oder sechs weiteren Behörden im Schlepptau (fast immer dabei waren die Steuerbehörde und das Justizministerium, oft das für Brandschutz zuständige Katastrophenschutzministerium, das Innenministerium und die Gesundheitsbehörde) erklärten die Staatsanwälte, sie seien zu einer „planmäßigen Prüfung“ auf Grundlage des NGO-Gesetzes von 2006 erschienen und verlangten umfangreiche Akteneinsicht.

Anfangs war unklar, wonach die ungebetenen Besucher besonders suchten. Auf Nachfragen bezogen sie sich auf eine Anordnung der Generalsstaatsanwaltschaft. Die meisten NGOs ließen die Beamten ein und stellten, soweit sie das vermochten, die geforderten Dokumente zur Verfügung. Nur ein Beispiel des staatlichen Dokumentenhungers: Allein Memorial International in Moskau kopierte binnen einer Woche nach fünf Prüftagen knapp 9.000 Seiten und übergab sie den Behörden.

Gleichzeitig schrieben viele der heimgesuchten NGOs Beschwerden an die Staatsanwaltschaft, da die „planmäßigen Prüfungen“ ihrer Meinung nach in dieser Form gesetzwidrig sind. Um das zu erklären, ist ein kleiner Exkurs nötig:

Das NGO-Gesetz von 2006 sieht „planmäßige“ und „unplanmäßige“ Prüfungen vor. „Planmäßige“ müssen angekündigt werden und werden in dieser Ankündigung befristet. „Unplanmäßige“ können unangekündigt erfolgen, brauchen aber einen Grund. Zumindest in den ersten Wochen (später änderte sich das teilweise) kamen die Prüfer aber unangekündigt und ohne einen Grund zu nennen. Eben diesen Grund versuchen die NGOs in ihren Beschwerden zu erfahren. Gleichzeitig dienen die Beschwerden aber auch schon der Vorbereitung späterer Gerichtsverfahren, in denen gegebenenfalls die Ergebnisse der Überprüfungen angefochten werden.

Anfang April mischte sich dann Wladimir Putin höchstpersönlich ein. Kurz zuvor war allerdings ein Malheur passiert. Staatsanwälte hatten im St. Petersburger Büro der Konrad-Adenauer-Stiftung alle Computer konfisziert, angeblich um sie „auf nicht lizensierte Software“ zu prüfen. Das brachte das Bundeskanzleramt und das Auswärtige Amt auf den Plan. Der russische Gesandte in Berlin wurde „eingeladen“ und der deutsche Botschafter in Moskau sprach im russischen Außenministerium vor. Es gab deutliche Worte, wohl deutlicher als bisher üblich. Auch war der Zeitpunkt, zehn Tage vor Putins Hannoveraner Messebesuch wohl günstig (oder, aus Kremlsicht, ungünstig). Jedenfalls erhielten die Konrad-Adenauer-Stiftung in St. Petersburg und das ebenfalls schon in Prüfung befindliche Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung in Moskau Anrufe von der Staatsanwaltschaft, die Prüfungen seien beendet. Am nächsten Abend waren die Computer wieder da und, wie es aussieht, die anderen Büros deutscher politischer Stiftungen, darunter auch das der Heinrich Böll Stiftung, diesmal davongekommen.

Schwer zusagen, ob das nun Zufall war oder nicht, aber einen Tag später zeigte das russische Fernsehen Wladimir Putin im Gespräch mit dem Menschenrechtsbeauftragten Wladimir Lukin. Putin verteidigte die NGO-Kontrollen als „notwendig“, forderte die Prüfer aber auf, „keine Übertreibungen“ zuzulassen. Man könnte es durchaus so interpretieren, dass bei einer ausländischen Stiftung Computer zu beschlagnahmen eine „Übertreibung“ ist (vor allem, wenn sie außenpolitische Unannehmlichkeiten hervorruft), die massenhaften Razzien russischer NGOs aber nicht. Das eine ist internationale Politik, da ist „Einmischung“ oft nicht ganz vermeidbar. Das andere sind „innere Angelegenheiten“, da hat sich niemand einzumischen.

Im ARD-Interview dann verschärfte Putin den Angriff auf die russischen NGOs. Er behauptete, 654 russische NGOs hätten „in den vergangenen vier Monaten“ knapp eine Milliarde US-Dollar (28 Milliarden und 300 Millionen Rubel) erhalten und er könne das beweisen. Außerdem gebe es mit dem Foreign Agent Registration Act (FARA) von 1938 in den USA eine dem „NGO-Agentengesetz“ gleichende Bestimmung. Putin wiederholte diese Behauptungen auf der gemeinsamen Pressekonferenz mit Angela Merkel in Hannover.

Die Putin-Milliarde habe ich schon hier in meinem Blog  auseinander genommen. Ende voriger Woche haben 58 VertreterInnen von NGOs, die alle Geld aus dem Ausland für ihre Arbeit bekommen, Putin in einem Brief aufgefordert, die Namen der 654 NGOs und die genauen Geldzahlungen aus dem Ausland zu veröffentlichen. Nach dem Gesetz ist die Präsidentenadministration verpflichtet, binnen 30 Tagen zu antworten. Bisher gibt es nur Vermutungen woher die Milliarden-Zahl stammt.

Wahrscheinlich hat Nikolaj Petrow recht, der in der Moscow Times davon ausgeht, Rosfinmonitoring habe diese Angaben zusammengestellt. Rosfinmonitoring ist so etwas wie ein Bankgeheimdienst, der alle Geldbewegungen zwischen Banken in Russland und dem Ausland kontrolliert. Das „NGO-Agentengesetz“ nennt die Behörde ausdrücklich als Kontrollorgan. Sollte die Putin-Milliarde von dort stammen, dann könnte Rosfinmonitoring auf das gleiche Problem gestoßen sein wie das Justizministerium, nämlich, wie man „politische Tätigkeit“ definiert. Das ist das Schlüsselkriterium des „NGO-Agentengesetzes“. Was das aber genau ist und welche Tätigkeit darunter fällt, steht nirgendswo in den russischen Gesetzbüchern. Rosfinmonitoring könnte, das ist jetzt eine ganz ungeschützte Vermutung, einfach alle NGOs in eine Kodierung gepackt haben. Als NGOs sind aber auch, um nur Beispiel zu nennen, Forschungsverbände, Teile der Nuklearindustrie oder der russische Fußballverband organisiert. Dann erfolgt, auf Aufforderung aus dem Kreml, bei Rosfinmonitoring ein Knopfdruck und der Computer spuckt eine Zahl aus. So könnte es, wie gesagt, ich spekuliere nur, gewesen sein.

Unterdessen gehen die staatsanwaltschaftlichen „Prüfungen“ weiter. Mitte April, bei einer eigens einberufenen Sitzung des präsidialen Rates für Zivilgesellschaft und Menschenrechte (zu der die Generalstaatsanwaltschaft einen Absagebrief mit der schnöden Begründung schickte, alle zuständigen Beamten seien mit den NGO-Prüfungen beschäftigt und die könnten noch lange dauern), sagte die im Justizministerium für NGOs zuständige stellvertretende Abteilungsleiterin Tatjana Wagina, es seien inzwischen 528 NGOs aus 49 russischen Regionen „überprüft“ (Diese Zahlen entsprechen im Großen und Ganzen den Angaben der Menschenrechtsorganisation AGORA aus Kasan). Die „Prüfungen“ gingen aber weiter.

Weiter erklärte Frau Wagina, das Justizministerium betrachte gegenwärtig nur die Wahlbeobachterorganisation Golos als „ausländischen Agenten“. Golos war vorige Woche vom Justizministerium mit Hinweis auf das „NGO-Agentengesetz“ aufgefordert worden, sich als „ausländischer Agent“ registrieren zu lassen. Wie eine ganze Reihe von anderen NGOs auch, hat Golos erklärt, das unter keinen Umständen tun zu wollen. Zudem hat Golos seit Inkrafttreten des Gesetzes im vergangenen Herbst kein Geld aus dem Ausland mehr bekommen. Eine mit einer Preisverleihung aus Norwegen auf einem Golos-Konto eingegangene Geldzahlung schickte Golos umgehend zurück.

Im Gegensatz zur Erklärung der Justizministeriumsvertreterin sucht die Generalsstaatsanwaltschaft augenscheinlich vor allem „ausländische Agenten“. Das jedenfalls geht aus einer Äußerung ihrer Sprecherin Marina Grindjewa von voriger Woche hervor. In der Bezirksstadt Kostroma, nördlich von Moskau an der Wolga gelegen, hat die dortige Staatsanwaltschaft gegen das dortige „Zentrum zur Unterstützung von gesellschaftlichen Initiativen“ ein Bußgeldverfahren eingeleitet, weil es sich nicht als „ausländischer Agent“ habe registrieren lassen, obwohl sie sich „politisch“ betätige. Als Beweis für die angebliche „politische Tätigkeit“ dient die Organisation eines Runden Tisches zu den US-amerikanisch-russischen Beziehungen, an dem auch der stellvertretende Leiter der politischen Abteilung der US-Botschaft in Moskau teilgenommen hatte. Außerdem, so die Staatsanwaltschaft, sei die NGO von einem ehemaligen Politiker gegründet worden, der Anfang der 2000er Jahre (vergeblich) für einen Parlamentssitz kandidiert habe. Grundlage dafür ist das „NGO-Agentengesetz“ nach dem sich, selbst ohne viel Kasuistik, fast jede öffentlichen Äußerung als „politische Tätigkeit“ interpretieren lässt. Um die Frage, wie weit man dabei geht und wer die Interpretationshoheit hat, dreht sich offenbar die trotz der öffentlichen Intervention Putins nicht beendete Auseinandersetzung zwischen dem Justizministerium und der Generalstaatsanwaltschaft. Das allein ist schon bemerkenswert.

Zusammengefasst: Die Kampagne gegen die NGOs ist noch nicht zu Ende. Bisher hat sie auf Seiten der NGOs vor allem viel Arbeit und Aufmerksamkeit gekostet. Die Verunsicherung, vor allem außerhalb Moskaus ist sehr hoch. Zigtausende Kopien von Finanz- und Sachdokumenten wurden der Staatsanwaltschaft, dem Justizministerium, der Steuer- und anderen Behörden übergeben. Die werden nun dort studiert und die Erfahrung zeigt, dass es eine große Menge an Beanstandungen, Bußgeldbescheiden und möglicherweise auch Schließungsverfahren geben wird. Erste Bescheide wegen mangelndem Brandschutz oder nicht eingehaltener Arbeitsschutzbestimmungen gibt es schon. Dabei gehen die Bußgeldbescheide in den meisten Fällen an die gesetzlich zulässigen Höchstgrenzen. Das kostet die NGOs noch mehr Aufmerksamkeit, Arbeit und auch Geld.

Je nachdem, wie die Auseinandersetzung in der Staatsführung (sichtbar: Staatsanwaltschaft hier, Justizministerium dort) ausgeht, ist mit weiteren Aufforderungen zu rechnen, sich als „ausländische Agenten“ registrieren zu lassen. Da eine ganze Reihe wichtiger und großer NGOs wie Memorial oder Transparency International Russland das grundsätzlich ablehnt, ist hier, aber auch bei den Bußgeldbescheiden mit langanhaltenden gerichtlichen Auseinandersetzungen zu rechnen. Allerdings sitzt der Staat auch hier am längeren Hebel, weil das „NGO-Agentengesetz“ dem Justizministerium das Recht gibt, die Tätigkeit einer NGO bis zu einem halben Jahr auch ohne Gerichtsbeschluss  „auszusetzen“. Für viele NGOs würde das das sichere Aus bedeuten.

In großen Teilen der russischen Öffentlichkeit sind NGOs durch die Razzien weiter diskreditiert worden. Allen ist zudem noch klarer als schon zuvor geworden, dass Zusammenarbeit mit ihnen Ärger mit dem Staat bedeuten kann. Die Begleitung zahlreicher „Kontrollbesucher“ in Moskau durch Aufnahmeteams des Fernsehsenders NTW (z.B. bei Memorial und Amnesty International, wo die Staatsanwälte vor der Tür auf die Fernsehleute warteten, weil diese zu einer falschen Adresse gefahren waren) bestätigt die These, dass Diskreditierung eines der Hauptziele der Kampagne ist.