Lange war in Russland klar: Politik ist die Teilnahme an der Auseinandersetzung um institutionalisierte Macht. In der Sowjetunion gab es entsprechend keine Politik außerhalb der Partei. Oder besser: Es gab keine erlaubte Politik außerhalb der Partei. Und wer es dennoch versuchte, wurde hart sanktioniert und verschwand meist (erst) im Lager und dann (oft) in der erzwungenen Emigration. Das änderte sich mit der Perestroika. Anfangs noch unter den mütterlichen Flügeln der Gorbatschow-KPdSU, dann immer flügger tauchten überall PolitikerInnen auf. Ein kurzer Frühling begann, der so etwa bis zur Parlamentsbeschießung durch Präsident Jelzin im Frühherbst 1993 dauerte. Solange war Politik hip und frei und sogar ziemlich demokratisch (wenn auch ein wenig chaotisch, aber das ist ja auch mal ganz schön). Russland war plötzlich, politikgeschichtlich, sehr modern.
Ab 1993 schieden sich die einige Jahre vermischten Sphären von „politischer“ Politik (russisch: „polititscheskaja“ politika), also des meist, wenn auch nicht nur in Parteien organisierten Kampfs um politische Macht, und von „zivilgesellschaftlicher“ oder „staatsbürgerlicher“ Politik“ (russisch: „graschdanskaja“ politika). Diese leichte, im Wesentlichen bis heute anhaltende Begriffsverwirrung hat ihren Grund. Die Ausweitung „des Politischen“, im Westen eng mit dem Aufkommen der Bürgerinitiativbewegungen im Zuge und nach 68 und dem damit angestoßenen Prozess einer Enthierarchisierung vor allem der Machtverhältnisse zwischen Staat/Gesellschaft und Individuum und Mann und Frau verbunden, hat in Russland (wie in weiten Teilen Osteuropas) so richtig erst nach dem Ende der Sowjetunion Fahrt aufgenommen. Der deutsche Philosoph Jürgen Habermas nannte diese Ausweitung der Legitimität politischen Engagements außerhalb der staatlicherseits dafür vorgesehenen (und vom Staat, auch im Westen, kontrollierten) Institutionen schon 1962 in seiner Dissertation „Strukturwandel der Öffentlichkeit“.
Im Westen wurde in diesen „Strukturwandel“ der Politikbegriff erheblich erweitert, wie es schon im seinerzeit vielbenutzen Ausspruch (oft war sogar eher ein Ausschrei, ein Protestschrei) „das Private ist politisch“ deutlich macht. Politisch waren nun auch zuvor „private Angelegenheiten“ wie zum Beispiel Gewalt in der Ehe oder Familie. Und nach und nach wurde es so auch legitim (im Gegensatz zu legal, was es immer schon war), ohne Vermittlung durch politische Parteien und staatliche Institutionen für seine Rechte einzutreten. Später nannte man diese neue entstandene Sphäre, „Politik zu machen“, ohne Politiker zu werden Zivilgesellschaft.
All diese hochtrabenden Überlegungen waren den allermeisten nicht-staatlichen erst sowjetischen (die DissidentInnen) später russischen (alle anderen auch) Akteuren in Politik und Gesellschaft natürlich nicht bewusst (wie auch vielen ihrer westlichen VorgängerInnen), geschweige denn geläufig (obwohl die DissidentInnen im sozialistischen Polen, der Sowjetunion oder Ungarn erheblichen Anteil an ihrer Entwicklung hatten). Sie nahmen sich einfach diese Freiheit, weil sie, zu Recht, ein Recht darauf beanspruchten, das Schicksal ihrer Gesellschaften, vor allem aber ihr eigenes Schicksal mit zu bestimmen.
Das Ende der Unschuld der Perestroika in Russland kam ab 1993, erst mit der Parlamentsbeschießung, dann dem Tschetschenienkrieg 1994, der manipulierten Wiederwahl von Jelzin 1996 und dem bankrotten Oligarchen-Staat während Jelzins zweiter Amtszeit. „Politik“ trennte sich im Bewusstsein der meisten Menschen erneut scharf von „gesellschaftlichem Engagement“. Ersteres war dreckig, korrupt, gefährlich, moralisch anrüchig. Letzteres wohltätig, hatte eine gewisse, wenn auch vielen an Würdelosigkeit Gewöhnte verdächtige Würde, war aber zunehmend marginal. „Ich/Wir machen keine Politik“ wurde zum Mantra der engagierten, mit dem sie Zustimmung bei der Bevölkerung ebenso zu erlangen versuchten wie sie den Regierenden zu signalisieren versuchten, sie seien keine Gefahr für deren Macht.
Wladimir Putin hat dieses Verhältnis dann in seiner „gelenkten“ später „souveränen“ Demokratie formalisiert. Er machte sich schnell, wie schon kurz nach seinem Amtsantritt geschrieben wurde, zum „einzigen Politiker Russlands“ (also ganz im Sinne von Carl Schmitt, nach dem souverän nur ist, wer ohne andere zu fragen entscheiden kann). Die Sphären „Politik“ und „gesellschaftliches Engagement“ waren erneut streng getrennt. „Politik“ war ausschließlich Sache des Kremls. Wer das nicht einsah, wurde marginalisiert oder vernichtet. Gleichzeitig wurde „gesellschaftliches Engagement“ ohne ausgesprochenen politischen Anspruch sozusagen staatlich lizensiert. Eine beim Justizministerium registrierte Menschenrechts-NGO durfte sich um Menschenrechte kümmern, eine ökologische NGO um die Umwelt und ein soziologisches Forschungsinstitut durfte Meinungsumfragen machen. Kurz: ExpertInnen durften sich als „ExpertInnen“ zu ihren Fachgebieten äußern .
Über spezielle Beratungsgremien, den (Bei-)Räten und Kommissionen beim Präsidenten, bei der Regierung, beim Ministeriums X, beim Gouverneur Y, der Polizei oder dem Bürgermeister wurden so viele NGOs einerseits eingebunden, erhielten aber gleichzeitig, wenn auch begrenzten Einfluss auf Entscheidungsfindungen, und, so dachten die meisten zumindest, einen gewissen Schutz gegen staatliche Repressionen. Ähnliche korporative Strukturen gab und gibt es für nicht-staatliche Wissenschaftseinrichtungen, Think Tanks und Lobbygruppen. Dieses Arrangement schien fast schon ewig, aber die Wiederkehr öffentlicher Massenproteste und damit auch öffentlicher, nicht allein aus dem einen Zentrum namens Kreml kontrollierter Politik im Winter 2011/2012 änderten alles wieder.
Seither ist der Kreml wieder fieberhaft um das Einfangen, Einhegen und Eingrenzen der Politik und ihrer ProtagonistInnen (Subjekte!) bemüht. Dem dienen eigentlich all die im vorigen Jahr schnell (und oft handwerklich schlecht) gestrickten Gesetze: das liberalisierte Parteiengesetz, das verschärfte Verleumdungsgesetz, das verschärfte Gesetz über Landesverrat und das Gesetz zu Internetsperren. Bald wohl auch ein Gesetz zum Schutz religiöser Gefühle.
Aus dieser Reihe ragt in seiner Bedeutung das sogenannte „NGO-Agentengesetz“ heraus. In diesem Gesetz wird der Begriff „Politik“ von oben herab neu definiert und zwar paradoxer Weise nicht einschränkend, sondern umfassend. Alles ist nun Politik und entsprechend findet die Staatsanwaltschaft auch überall Politik: Soziologie ist Politik; Initiativen zum Umweltschutz sind Politik; Einfluss von Juristen und Anwälten auf die Praxis der Rechtssprechung ist Politik; Vorschläge an Kommunalverwaltungen sind Politik; das Monitoring staatlicher Rechtsverletzungen ist Politik. Über 50 verschiedene Tätigkeiten, die von der Staatsanwaltschaft als Politik in Bescheiden an NGOs in den vergangenen Wochen qualifiziert wurden, hat die Kasaner NGO AGORA schon aufgezeichnet. Und die Liste wird weiter wachsen.
Bei einem der bisher prominentesten „Agentenopfer“, dem Meinungsumfrageinstitut Levada-Zentrum, liest sich die „Verwarnung“ der Staatsanwaltschaft etwa so: Umfragen machen ist in Ordnung, sie aber zu veröffentlichen beeinflusst die öffentliche Meinung und ist damit dem NGO-Agentengesetz“ zufolge bei gleichzeitigen Einnahmen aus dem Ausland Politik. Und die ist ohne „Agentenanmeldung“ verboten. So wird aus der Ausweitung des Politikbegriffs ein Repressionsinstrument zur Kontrolle von Öffentlichkeit und der Versuch, sich das Politikmonopol zurück zu holen. Die berühmten Moskauer Küchen lassen grüßen.
Nun strebt jeder undemokratische Staat danach, Informationen zu kontrollieren (und sogar mancher demokratische auch). Geholfen hat es, zumindest auf längere Sicht, selten. Während die sowjetischen Partei- und Propagandamedien Ende der 1980er Jahre noch die Erfolge des Sozialismus feierten, veröffentlichten die gleichen Leute, die heute im Levada-Zentrum forschen, dass 93 Prozent der Menschen die wirtschaftliche Lage als „ungünstig“ und „kritisch“. Diese Glasnost, diese Offenheit hat das Ende der Sowjetunion sicher nicht herbei geführt, aber wohl beschleunigt. Nun versuchen die heutigen Machthaber den Geist wieder in die Flasche zurück zu bringen.
Mit dem Levada-Zentrum , das formal als NGO registriert ist, und weiteren, wie einer Filiale des staatsnahen Allrussischen Zentrums zur Untersuchung der Öffentlichen Meinung (WZIOM), dem St. Petersburger Zentrum für Unabhängige Sozialforschung (CISR) oder dem Forschungszentrum „Region“ aus Uljanowsk, sind nun zusammen mit vielen anderen NGOs auch Institute mit großer wissenschaftlicher Reputation betroffen. Und siehe da, die Wissenschaftscommunity regt sich. Eine Vereinigung der Umfrageinstitute, eine Assoziation unabhängiger Wirtschaftsforschungsinstitute, eine Vereinigung soziologischer Beratungsunternehmen und andere fordern in öffentlichen Erklärungen den Staat auf, die Finger von Levada und Co zu lassen (viele der Unterzeichner dienen als Auftragnehmer durchaus dem russischen Staat oder beraten ihn auf die eine oder andere Weise). Die russische Wissenschaft, insbesondere die Gesellschafts- und Wirtschaftswissenschaften sind eng mit ausländischen Partnern verbunden. Die Angst geht um, dass es bei den NGOs nicht bleibt.