Souveränes Internet

Souveränität ist schon seit einiger Zeit das russische Zauberwort. Ihr wird wie einem Fetisch inzwischen (fast) alles untergeordnet. Erst war es, in den 2000er Jahren, die souveräne Demokratie, schon ein Widerspruch in sich. Kaum weniger widersprüchlich erscheint, zumindest auf den ersten Blick auch ein seit einiger Zeit geplantes russisches, also souveränes Internet. Dahinterstehen, wie bei der souveränen Demokratie recht einfache, vor allem aber sehr handfeste Machtinteressen. Denn das System Putin ist erneut in die Krise geraten.

Wie ernst diese Krise werden wird, ist vorerst nur zu erahnen. Doch es gibt ein paar Anzeichen dafür, dass sie sehr ernst werden könnte. Das hat zuerst einmal etwas mit den sich verändernden ökonomischen und politischen Rahmenbedingungen zu tun. Grob gesagt lässt sich die Ära Putin in vier Etappen einteilen: In den 2000er Jahren wuchs das Vertrauen in Putin und gleichzeitig wuchsen Wirtschaft und Realeinkommen. Ab etwa 2008 begann das Vertrauen zu sinken, aber die Einkommen wuchsen (vorerst) weiter. 2014 drehte Putin das Blatt. Mit der Annexion der Krim wuchs die Zustimmung zu ihm in ungeahnte Höhen, aber die Wirtschaft schrumpfte und die Einkommen begannen zu fallen. Seit 2018 scheint dieser sogenannten Krim-Effekt aufgebraucht und erstmals unter Putin nehmen gleichzeitig die Einkommen und das Vertrauen in den Präsidenten ab.

Die kommenden, eher unruhigeren Zeiten zeichnen sich schon seit einiger Zeit ab. Vieles davon hat (auch) mit dem Internet zu tun. Der Reihe nach. Im Frühjahr 2017 veröffentlichte Oppositionelle Alexej Nawalnyj auf Youtube einen Film mit dem Titel „Er ist für uns nicht Dimon“ über den von Premierminister Dmitrij Medwedjew zusammengerafften Reichtum. Dieses Video wurde binnen weniger Wochen wehr als 10 Millionen Mal aufgerufen. Inzwischen (Stand 25.11.2019) steht der Zähler bei gut 32 Millionen. Kurz nach der Veröffentlichung rief Nawalnyj zu Protesten im ganzen Land auf. In Moskau und St. Petersburg wurden zusammen mehr als 1.500 Demonstrant/innen festgenommen. Auffallend und neu war (für alle, aber besonders für den Kreml), wie viele junge Menschen unter den Protestierern waren. Das passte zur schon länger (ja nicht nur in Russland) beobachteten Tendenz, dass je jünger die Menschen sind, sie sich umso mehr aus dem Internet und nicht mehr aus dem Fernsehen informieren.

Im Winter 2018 konnte Nawalnyj den Mobilisierungserfolg vom Frühjahr 2017 wiederholen. In fast 120 russischen Städten folgten erneut Menschen seinem Aufruf gegen die überbordende Korruption auf die Straße. Diesmal waren schon nicht mehr die jungen Protestierer die wichtigste Neuigkeit, sondern die große geographische Ausbreitung. Erstmals im postsowjetischen Russland demonstrierten bei einer landesweiten Aktion in vielen Provinzstädten im Verhältnis zur Einwohnerzahl mehr Menschen als in Moskau. Der überragende Mobilisierungs- und Kommunikationskanal war selbst verständlich erneut das Internet und hier vor allem die sozialen Netzwerke.

2018 war auch das Jahr des Beginns der Anti-Müllproteste. Sie begannen in Wolokolamsk, einer kleinen Stadt 100 Kilometer westlich von Moskau, wo Ausdünstungen einer Müllkippe dazu führten, dass Dutzende Kinder einer nahen Schule ins Krankenhaus eingeliefert wurden. Die Müllproteste weiteten sich schnell auf andere Müllstandorte im Moskauer Umland aus, die unter der Last (und vor allem unter dem Geruch) des überbordenden Mülls der 15-Millionenmetropole leiden. Eine als Reaktion auf diese Proteste von der Regierung angestoßene Müllreform ist gerade dabei wieder zu versanden. Die (eher kurzfristige) Lösung, den Moskauer Müll weit weg in dünner besiedelte Gebiete zu schaffen, trifft dort auf oft erbitterten Widerstand. Nahe des kleinen Ortes Schijes, rund 1000 Kilometer nordöstlich von Moskau im Gebiet Archangelsk, haben Anwohner gar ein Hüttendorf in der Art der „Freien Republik Wendland“ errichtet und erfahren enorme regionale Solidarität, sogar von Polizisten, Feuerwehrleuten und Hubschrauberpiloten. Geht es doch (zumindest auch) gegen die aus ihrer Sicht fetten, reichen und arroganten Moskauer, die nun in der Provinz ihren Unrat abladen wollen.

Im Sommer dieses Jahres nun half das Internet sehr, die Proteste gegen die Nichtzulassung von unabhängigen Kandidat/innen zu Kommunal- und Regionalwahlen in Moskau und vielen anderen Regionen zu organisieren.

Natürlich ist der Kreml nicht untätig geblieben. Die meisten Maßnahmen tragen aber bisher weniger politischen als technischen Charakter. In Inguschetien im Nordkaukasus wurde damit experimentiert, bei heftigen Protesten gegen einen Gebietstausch mit dem benachbarten Tschetschenien tagelang das mobile Internet abzuschalten. Wirklich erfolgreich war diese Maßnahme nicht, rief aber ihrerseits neuen Unmut hervor.

Mittels Deep Package Inspection (DPI) werden seit einiger Zeit die Inhalte von Kommunikation innerhalb sozialer Netzwerke kontrolliert und missliebige Inhalte zu verlangsamen versucht. Die Aufsichtsbehörde Roskomnadsor blockiert eifrig einzelne Webseiten oder versucht gleich ganze Internetforen zu verbieten oder lahmzulegen. Mit dem Verbot des Messengers Telegram blamierte sich Roskomnadsor aber gründlich. Telegram funktioniert bis heute in Russland munter weiter, während in der intensiven Phase der Blockierungsversuche der Internetdienst Yandex (jenseits von China die einzige Suchmaschine weltweit, die in einem Land vor Google liegt) oft nur schlecht oder gar nicht zu erreichen war.

All diese Misserfolge, der Opposition das Instrument Internet zu vermiesen, haben dazu beigetragen, die schon vorher bestehende Idee eines souveränen, also von der übrigen Welt abgetrennten Internets in den Vordergrund zu rücken. Am 16. April dieses Jahres verabschiedete das Parlament ein entsprechendes Gesetz. Schon am Beginn des Herbstes gab es einen ersten Test, der aber wohl noch viele Probleme aufzeigte. In der russischen Presse wurden Internetexpert/innen mit der Einschätzung zitiert, es werde wohl mindestens noch ein Jahr dauern, bis die Abschottung wirklich funktionieren könne.

Andere wiederum bezweifeln, dass der Traum vieler Sicherheitspolitiker, es den Chinesen mit ihrer Great Firewall nachzumachen in Russland überhaupt realisierbar ist oder argumentieren, dass das sehr schwierig vor allem aber in jeder Hinsicht sehr teuer werden würde. Der wichtigste Grund ist ein technischer. Während das chinesische Internet von Anfang an so aufgebaut wurde, dass Abschottung vom Rest der Welt sehr einfach ist und es entsprechend nur drei Internetknotenpunkte gibt, über die alle Trafik läuft, ist das russische Internet völlig wild gewachsen und über hunderte Knotenpunkte mit der Außenwelt nicht nur verbunden, sondern regelrecht verwoben. Auch Trafik innerhalb Russlands geht oft über die Landesgrenzen. Experten vermuten zudem, dass selbst die Behörden nicht alle Knotenpunkte ins Ausland kennen.

Der zweite Grund ist, dass China über nationale Dienste in fast allen Bereichen des Internets verfügt. In Russland gibt es nur sektoral konkurrenzfähige Dienste. Yandex gehört dazu. Ironischerweise (das nun aber exilierte) Telegram. Die staatliche Sberbank, die größte russische Bank, versucht sich gerade als Internetkonzern neuzuerfinden. Aber Beobachter bezweifeln, dass sich das so leicht von oben, wenn auch mit viele Geld machen lässt.

Mit verschiedenen neue Gesetzen wird versucht, Anwender und Ausrüster zu zwingen, in Russland mit russischer Software zu arbeiten. So hat das Parlament erst vorige Woche beschlossen, alle internetfähigen Geräte müsste am 1. Juli nächsten Jahres mit russischer Software bespielt werden. Ob diese vor allem als Angriff auf Apple-Produkte verstandene Gesetz aber durchgesetzt werden kann, ist bisher fraglich. Ein anderes Gesetz begrenzt ausländische Anteile an als vom Staat strategisch eingeschätzten IT-Firmen. Bei dessen Bekanntwerden erlitten die Yandex-Aktien an der Börse heftige Verluste.

Für alle sichtbar stellt der Kreml erneut Machtsicherung vor wirtschaftliche Entwicklung. Das zukünftige Internet der Dinge dürfte sich schlecht mit dem souveränen Internet vertragen. Im Kleinen ist das längst sichtbar. IT-Start-Ups aus dem von der Regierung geschaffenen und geförderten Innovationszentrum Skolkowo bei Moskau entwickeln ihre Produkte wie gewünscht dort. Sobald sie aber marktreif sind, werden sie meist im Westen, vorzüglich in Europa westlich des Bugs, produziert und verkauft.


Dieser Text wurde ursprünglich für die Zeitschrift „Religion und Gesellschaft in Ost und West geschrieben