Am vergangenen Wochenende fanden in Russland 5810 Wahlen statt. Dazu 242 Referenden auf lokaler Ebene. Der allgemeine Wahlsonntag betraf bis auf drei Regionen das ganze Land. 16 Gouverneure wurden neu gewählt, zwei Dumaabgeordnete nachgewählt. Hinzu kamen 13 Stadtparlamente und, am wichtigsten, in Moskau die Wahl von 125 Stadtteilparlamenten. Darum soll es in diesen Notizen gehen.
Warum gerade die Wahl von 125 Stadtteilparlamenten, die keine großen Vollmachten haben und einer übermächtigen Bürokratie gegenüberstehe, so wichtig ein soll, bedarf der Erklärung. Der erste und einfachste Teil der Antwort lautet: Weil es sich um Moskauer Stadtteile handelt. Was immer in Moskau passiert, ist wichtig für das ganze Land. Der zweite Teil der Antwort hat etwas mit dem Ergebnis zu tun: Weil nicht vom Kreml lizensierte Oppositionelle in einigen dieser Stadtteile gewonnen haben.
Noch ist es zu früh für eine stringente Analyse. Ich will aber versuchen anhand einer Reihe von Fragen, die in Moskau (in Russland) nun diskutiert werden, ein paar Hinweise darauf geben, ob das alles überhaupt bedeutend ist, und wenn ja, was das alles bedeuten könnte.
Zuerst ein paar Fakten: Von 125 Wahlkreisen in Moskau haben oppositionelle oder unabhängige Kandidaten 15 gewonnen. In 13 weiteren haben sie zwar keine Mehrheit, aber eine Art Sperrminorität, die die dort dominierende Kremlpartei „Einiges Russland“ dazu zwingen wird, Kompromisse einzugehen. Insgesamt sind in ganz Moskau in 63 Wahlkreisen 266 Abgeordnete gewählt worden, die von einer oppositionellen Partei (meist war dies Jabloko) unterstützt wurden, einer Wahlinitiative angehörten (die größte von ihnen hat der ehemalige Dumaabgeordnete Dmitrij Gudkow initiiert und dabei auch mit Jabloko zusammengearbeitet) oder als Unabhängige kandidiert haben. Auffallend ist, dass sich der Anteil oppositioneller Abgeordneter auf die gesamte Stadt bezogen kaum verändert hat. Allerdings gibt es eine deutliche Bewegung von der sogenannten Systemopposition (also den eng mit dem Kreml zusammenarbeitenden Duma-Parteien) hin zu eben diesen „echten“ Oppositionellen. (Anmerkung: In unterschiedlichen Publikationen unterscheiden sich die Zahlen zu oppositionellen und unabhängigen Abgeordneten leicht; das liegt unter anderem daran, dass die Zuordnung einzelner Kandidaten und Abgeordneter nicht immer eindeutig möglich ist)
Der Kreml hat viele Instrumente, Wahlen in seinem Sinne zu kontrollieren. Das effektivste sind die vielzähligen und hohen Hürden bei der Zulassung von Kandidaturen. Kurz: Niemand kann kandidieren, wenn es der Kreml nicht will. Die Frage ist also nicht unwichtig, warum weit über 1.000 unabhängige und deutlich oppositionelle Kandidaten zu diesen Wahlen zugelassen worden. Das geschah ja nicht im Geheimen. Oppositionelle Politiker wie der schon erwähnte Dmitrij Gudkow haben eine regelrechte Kampagne geführt, um möglichst viele Leute zur Kandidatur zu ermutigen. Doch nicht nur das. Kandidaturwilligen wurde jede Unterstützung gewährt, die formal hohen und schwierigen Hürden einer Registrierung als Kandidat zu nehmen. Das geschah sehr systematisch und professionell. Kaum einer der Kandidaten machte einfache Fehler, die zu einer schnellen Ablehnung durch die Wahlkommissionen geführt hätten. Das ist die formale Seite.
Ein wenig politischer argumentiert, fallen zwei mögliche Gründe auf. Der erste sind die unerwartet großen Proteste, die es in Moskau im Frühjahr gab. Es kann gut sein, dass man es im Kreml vorgezogen hat, einige (von ganz oben gesehen: wenige) Sitze in den wenig einflussreichen Stadtteilparlamenten abzugeben, als sich möglicherweise neue Proteste einzuhandeln. Ein gutes halbes Jahr vor der Präsidentenwahl im März scheint Ruhe ein wichtiges Ziel zu sein. Der zweite Grund könnte in der Positionierung Putins für eben diese Präsidentenwahlen liegen. Nach allem, was aus dem Kreml nach außen dringt, werden dort vor allem zwei konkurrierende Wahlkampfpositionierungen diskutiert: eine Fortsetzung der forcierten Konfrontation mit dem Westen mit stark nationalistischen Tönen und eine eher zentristische Linie, die man „aufgeklärten Autoritarismus“ nennen könnte. Wenn sich Putin aber als ruhendes Zentrum Russlands präsentieren möchte, dann muss es auch sichtbare Ränder des politischen Spektrums geben. Bisher wurde diese Rolle von der in der Duma vertretenen sogenannten Systemopposition gespielt. Doch deren Glaubwürdigkeit lässt in letzter Zeit deutlich nach. Frische Akteure, so mag man im Kreml gedacht haben, wären hier nicht fehl am Platze.
Einmal zugelassen, haben die oppositionellen Kandidaten sehr anständig abgeschnitten. Das war nicht ausgemacht. Neben den Zulassungshürden haben die Behörden noch eine ganze Reihe anderer Instrumente, oppositionellen Kandidaten das Leben schwer zu machen. All diese Instrumente kamen aber nur sehr begrenzt zum Einsatz. Natürlich kamen die oppositionellen Kandidaten im Fernsehen nicht vor (mit Ausnahme des Internetsenders TV-Doschd, der allerdings ebenso wie der eher liberale Radiosender Echo Moskaus eine reservierte bis spöttische Haltung einnahm). Auch wurde bei Auszählung und Zusammenrechnung der Stimmen hier und dort gefälscht. Aber all das blieb in einem sehr engen Rahmen, fand, jedenfalls an den russischen Maßstäben des vergangenen Jahrzehnts gemessen, praktisch nicht statt.
Das wirft die Frage auf, warum der Kreml das so laufen ließ? Immerhin gibt es die (aus Kremlsicht) schmerzhafte Erfahrung mit dem Straßenwahlkampf, den Alexej Nawalnyj 2013 bei den Bürgermeistermeisterwahlen geführt hat (siehe dazu hier). Nawalnyj holte, bei allen beschriebenen Widrigkeiten, 27 Prozent der Stimmen. Bürgermeister Sergej Sobjanin kam im ersten Wahlgang nur mit Ach und Krach über die 50-Prozent-Hürde (und es gibt zahlreiche Hinweise darauf, dass ohne Fälschung selbst das nicht gelungen wäre). Erneut lässt sich über diese Gründe nur spekulieren.
Auch wenn Nawalnyjs politisches Talent inzwischen im Kreml anerkannt (und auch, zumindest ein bisschen, gefürchtet wird), so dürften die zu den Kommunalwahlen angetretenen Kandidaten nicht in diese Kategorie einsortiert worden sein. Weder Dmitrij Gudkow, noch Ilja Jaschin (beides immerhin auch im Landesmaßstab bei politisch Interessierten bekannte Namen) oder gar Jelena Rusakowa oder Julia Galjamina sind bisher als besonders gute Wahlkämpfer aufgefallen. Allerdings waren diese Wahlen anders.
Als Erstes und vielleicht Wichtigstes haben sich die Oppositionellen nicht zerstritten. Alle Absprachen, wer wo kandidiert, wurden eingehalten. Es gab keine Konkurrenz untereinander. Zum zweiten gab es unter oppositionell gestimmten Moskauern offenbar eine Stimmung, für egal wen zu stimmen, Hauptsache gegen Kremlkandidaten. Das haben auch die Systemoppositionsparteien zu spüren bekommen. Sie sind eben für diesen Teil der Wählerschaft keine Opposition (mehr). Hier wirkten, zum Dritten, auch die Proteste vom Frühjahr nach. Das wichtigste Ergebnis dieser (für alle) unerwartet starken Proteste in Bezug auf die Wahlen war, dass die Behauptung der Kandidaten, man habe eine Chance, nicht völlig absurd erschien. Wählen zu gehen, schien daher zumindest einen Versuch wert zu sein. Viertens hatte die oppositionelle Wahlkampagne, wie auch die Proteste im Frühjahr, ein ausgesprochen junges Antlitz. Jung meint in diesem Fall sowohl das Lebensalter als auch die politische Erfahrung. Es waren frische Gesichter, deren Auftritte entsprechend frisch wirkten.
Der vielleicht wichtigste Grund für den (relativen) Erfolg der Opposition in den Moskauer Kommunalwahlen lag aber vermutlich in der Taktik, die der Kreml für den Wahlsonntag im ganzen Land insgesamt eingeschlagen hatte. Vertrauend auf die (teils erzwungene, teils freiwillige) Disziplin seiner direkten Ressourcen (Staatsangestellte, Polizei und Militär, Rentner) setzte der Staat auf eine möglichst niedrige Wahlbeteiligung. „Wir können dafür sorgen, dass unsere Leute wählen gehen und für die richtigen Kandidaten stimmen, die schwach organisierte Opposition kann das nicht“, könnte die Überlegung gewesen sein. Diese Rechnung ist nicht aufgegangen. Mehr noch: Die Strategie ist nach hinten losgegangen. Denn das Mobilisierungspotential einer liberalen Opposition ist in Russland tatsächlich begrenzt. Allerdings hat sie es bei diesen Wahlen fast vollständig ausschöpfen können. Man kann davon ausgehen, dass bei voller Mobilisierung von den über 80 Prozent Nichtwählern weit mehr für die Kremlkandidaten gestimmt hätten als für die Opposition.
Beenden möchte ich diese Notizen mit Bemerkungen zu zwei Punkten: Zu Nawalnyj und zu dem, was dieser Sieg für die Zukunft bedeutet. Zuerst zu Nawalnyj. In vielen Kommentaren ist Alexej Nawalnyj als Verlierer dieser Wahlen bezeichnet worden, obwohl, oder besser: gerade weil er sich (mit seiner Organisation) nicht an ihr beteiligt hat. Nawalnyj konzentriert sich völlig auf die Präsidentenwahlen (bei denen kandidieren zu wollen er erklärt hat, aber, wie die meisten Beobachter vermuten, wohl nicht zugelassen werden wird). Außerdem hatte er sich abwertend über die oppositionellen Kampagnen (insbesondere in Moskau) geäußert. Ich halte das für einen künstlichen Gegensatz. Nawalnyj ist auf dem (besten) Weg ein im ganzen Land bekannter Politiker zu werden (sein Wiedererkennungswert hat im Frühjahr in Umfragen die Fünfzigprozentmarke überschritten). Erst am vergangenen Wochenende hat er in Jekaterinburg und in Nowosibirsk mehr Menschen bei Kundgebungen auf die Beine gebracht, als in diesen Städten je ein oppositioneller Politiker unter Putin zuvor.
Davon sind die oppositionellen Sieger in Moskau weit entfernt. Die Spannungen im liberal-oppositionell Lager (ich weiß, viele halten Nawalnyj nicht für liberal, aber er läuft in der öffentlichen Meinung in Russland in dieser Kategorie) sind groß, aber nicht unüberwindlich, wie gerade die Moskauer Kommunalwahlen gezeigt haben. Es hat also wenig Sinn, über Sieger oder Verlieren unter den Liberalen zu sprechen. Wichtiger dürfte die weitere Verbreiterung und Verjüngung der personellen Basis sein. Eines der Grundprobleme liberaler Politik in Russland ist ihre personell immer noch enge Verbindung mit den 1990er Jahren unter Jelzin. Egal wie man inhaltlich dazu steht, wirkt diese Verbindung gegenwärtig in Russland wie ein Kainsmal. Sowohl die Kampagnen Nawalnyjs als auch die viele der Kommunalwahlkampagnen vom vergangenen Wochenende (und das nicht nur in Moskau), sind ein Schritt aus dieser lähmenden Vergangenheit heraus.
Eines der Hauptargumente gegen das Engagement im Kommunalwahlkampf hatte gelautet, die zu wählenden Abgeordneten hätten kaum Kompetenzen und schon gar keine Macht, es lohne sich also nicht, viel Mühe und Ressourcen in diese Imitation von Mitbestimmung zu investieren. Und es stimmt, Abgeordnete auf dieser, der untersten kommunalen Ebene haben in Russland kaum etwas zu sagen, schon gar nicht gegenüber einer strukturell ohnehin fast mit Allmacht ausgestatteten Exekutive. Doch diese sich so praktisch gebende Sichtweise erweist sich bei näherem Hinsehen als bei weitem nicht so selbsterklärend wie es ausschaut. Zwar können die Abgeordneten tatsächlich wenig selbst bewegen. Aber sie haben umfassende Auskunftsrechte und können die bisher völlig intransparente Stadtverwaltung (in Moskau) ein wenig durchsichtiger machen. Eine Nachfrage dazu gibt es. Das haben auch gerade die Frühjahrsproteste erneut gezeigt.
Vielleicht wichtiger aber noch dürfte die Tatsache des (wenn auch kleinen) Sieges selbst sein. Und sein Ort. Es ist zudem symbolisch wichtig, dass diese kleinen Siege im Moskauer Stadtzentrum, in Sichtweite des Kremls errungen wurden. In dem Wahlbezirk, in dem Präsident Putin seine Stimme abgegeben hat, hat die Kremlpartei Einiges Russland keinen einzigen der 12 zu vergebenden Sitze errungen. Nichts sei erfolgreicher als der Erfolg, lautet ein nur auf den ersten Blick tautologischer Aphorismus. Nichts macht mutloser als ständige Erfolglosigkeit, könnte man hinzufügen. Es sei ein Missverständnis, dass die Menschen in Russland nicht wählen gingen, weil sie Angst hätten, schreibt die Moskauer Politologin Jekaterina Schulman in einer Analyse in der englischsprachigen Wochenzeitung The Moscow Times. Das sei falsch. Es sei völlig ungefährlich, an in Russland an Wahlen teilzunehmen. Viel wichtiger sei es, so Schulman, dass die Leute nicht zu den Verlierern gehören wollten. Die Durststrecke beendet und das Image der ewigen Verlierer abgeschüttelt zu haben ist für die Oppositionellen wahrscheinlich wichtiger als der Sieg selbst.