Ein Jahr „NGO-Agentengesetz“ – Zustandsbeschreibung und zwei Erklärungen von Memorial

Vor einem guten Jahr, Ende November 2012, ist das sogenannte „NGO-Agentengesetz“ in Kraft getreten (hier gesammelt die Posts, die ich dazu seither geschrieben habe). Anfang März begannen massenhafte Kontrollen der Staatsanwaltschaft, nachdem das eigentlich zuständige Justizministerium mit der Implementierung gezögert hatte. Geschätzt zwischen 700 und 1000 NGOs wurden überprüft. Etwas mehr als 60 erhielten Bescheide der Staatsanwaltschaft. Bei rund einem Drittel dieser gut 60 NGOs glaubten die Staatsanwälte Gesetzesverletzungen gefunden zu haben, forderten sie ultimativ zur Registrierung als „ausländische Agenten“ auf und machten teilweise mit Strafbefehlen über bis zu 10.000 Euro Druck. Die beiden anderen Drittel wurden nur „gewarnt“, sie könnten sich strafbar machen, wenn sie sich nicht als „Agenten“ registrieren ließen.

Bis auf wenige Ausnahmen wehrten sich alle betroffenen NGOs (von denen wir wissen) vor Gericht gegen diese Bescheide. Einige NGOs, so Memorial, gingen gerichtlich gegen die Rechtmäßigkeit der Kontrollen selbst vor. Einige NGOs, wie Golos, lösten sich auf, um so einer möglichen Kriminalisierung ihrer Vorstände zu entgehen und weil sie vor Gericht keine Chancen sahen.

Heute haben die meisten NGOs zumindest einige Gerichtsverfahren gegen die Staatsanwaltschaft gewonnen, manchmal in erster Instanz, manchmal in zweiter. Oft hielt die Grundargumentation der Staatsanwaltschaft, praktisch jede Öffentlichkeit als „politisch“ im Sinne des Gesetzes zu qualifizieren, der Überprüfung durch Gerichte nicht stand (das galt für einige Memorial-Organisationen ebenso wie z.B. für das LGBTI-Festival „Side-by-Side“ aus St. Petersburg). In anderen, selteneren Fällen (wie dem in einer Erklärung von Memorial dokumentierten Urteil gegen das St. Petersburger Antidiskriminierungszentrum Memorial) übernahm das Gericht die Argumentation der Staatsanwaltschaft. Der Stand aller Verfahren ist auf der Website Closedsociety.org dokumentiert, die ständig aktualisiert wird.

Allerdings gibt es noch keine letztendlich rechtsgültigen Urteile. Entweder die Staatsanwaltschaften oder die NGOs gingen immer in Berufung. Beschwerden liegen dem russischen Verfassungsgericht und dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte vor und sind zur Behandlung angenommen. Wann diese Verhandlungen stattfinden werden, steht noch nicht fest.

Seit dem Sommer verhandeln auch unterschiedliche Personen und Gremien (s u.a. der Vorsitzende des Rates für Zivilgesellschaft und Menschenrechte Michail Fedotow) mit dem Kreml über eine Reform des Gesetzes. Dabei geht es meist um die Definition des Schlüsselbegriffs „politische Tätigkeit“ und eine Ausweitung der Aufzählung von inhaltlichen Bereichen, die von vornherein im Gesetz aus der angeblichen „Agententätigkeit“ ausgenommen werden. Andere NGOs, erneut wie Memorial, halten das Gesetz für nicht reformierbar und schlicht verfassungswidrig (siehe dazu die Erklärung von Memorial zum Jahrestag des Inkrafttretens).

Darüber, was die unterschiedlichen Gerichtsurteile und die Verhandlungsbereitschaft Putins über eine Gesetzesreform bedeuten, gehen die Meinungen auseinander. Ohne Frage hat das Gesetz aus Kremlsicht bereits zwei Aufgaben erfüllt: In der Gesellschaft ist der Nexus zwischen „NGOs“ und „Agenten“ (oder besser: „Spionen“ oder „Verrätern“) sehr viel kräftiger ausgeprägt als vor Beginn der Kampagne im Frühjahr 2012. Außerdem sind viele unabhängige NGOs seither vor allem mit Selbstverteidigung beschäftigt. Das bindet viele Kräfte und Ressourcen, die für die eigentliche Arbeit fehlen. Deshalb sei es durchaus im Sinne des Kremls, nun die angesetzten Daumenschrauben ein wenig zu lockern – bis zum nächsten Mal.

Immer wieder wird das Wort „Sotschi“ in die Diskussion gebracht. Putin könne vor den olympischen Winterspielen in Sotschi keine schlechte Auslandspresse gebrauchen. Bis dahin werde sich das regime zahm geben. Für die Zeit danach gibt es vielerlei Befürchtungen.

Ich weiß auch nicht genau, was nun der Grund für die (vorläufigen) Siege vor Gericht ist. Wahrscheinlich gibt es nicht nur einen Grund. Die Gegenwehr der NGOs war sicher (wie eigentlich immer) härter, geschickter und klüger als vom Staat erwartet. Die Staatsanwaltschaft hat, im Angesicht des sicheren Sieges (und weil genug qualifizierte „Kader“ fehlen), sicher schlampiger gearbeitet, als es für ein legalistisches Regime notwendig wäre. Der Blick der Weltöffentlichkeit auf Sotschi (welch wunderbarer Pathos!) mag wirklich ein wenig helfen. Grundsätzlich aber ist nichts oassiert. Die NGOs werden dem Staat allein nicht widerstehen können, wenn es nicht eine größere Bewegung in der Gesellschaft gibt.

Ich dokumentiere hier zwei Erklärungen von Memorial, die erste zum Jahrestag des Inkrafttretens des „NGO-Agentengesetzes, die zweite zum Gerichtsurteil gegen das Antidiskriminierungszentrum Memorial in St. Petersburg.

—————————————————————-

Es ist unmöglich, das Gesetz „über ausländische Agenten“ zu reformieren

Erklärung von Memorial International

Ein Jahr ist vergangen, seit das berüchtigte Gesetz „über ausländische Agenten“ [in Deutschland meist „NGO-Agentengesetz“ genannt, JS] in Kraft trat, das die Staatsduma in höchster Eile angenommen hat und das vom Föderationsrat und dem Päsidenten sofort bestätigt wurde.

Seither hat sich keine einzige unabhängige NGO als „ausländischer Agent“ registrieren lassen. Eine Welle von staatsanwaltschaftlichen Kontrollen hat zu einer Vielzahl von Gerichtsprozessen geführt, in denen darum gestritten wird, wie das Gesetz in der Praxis anzuwenden ist. Das Verfassungsgericht der Russischen Föderation und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte werden sich in absehbarer Zukunft mit dem Gesetz beschäftigen.

Wahrscheinlich deshalb sprechen viele Amtsträger – vom Präsidenten bis zum Generalstaatsanwalt – über notwendige Änderungen des Gesetzes, die die in ihm genutzten Definitionen genauer fassen sollen.

Wir sind der Meinung, dass dieses von Anfang an rechts- und verfassungswidrige Gesetz nicht reformierbar ist. Der Konzeption des Gesetzes „über ausländische Agenten“ liegt grundsätzlich nicht das rechtsstaatliche Prinzip zugrunde. Das Gesetz löst nicht ein einziges Problem. Die Ziele seiner Initiatoren waren zutiefst politische und konjunkturelle. Seine Formulierungen bleiben ganz offensichtlich von Anfang an unbestimmt.

Weder die Finanzierungsquellen (wenn es keine ungesetzlichen Quellen sind), noch der Charakter ihrer Tätigkeit (wenn nicht nachgewiesen wird, dass sie Gesetze verletzt) noch die Zugehörigkeit einer Organisation zu dieser oder jener rechtlichen Form einer Vereinigung von Bürgern können Grundlage für das selektive und diskriminierende Herausheben einer Organisation aus den Reihen anderer öffentliche Akteure sein.

Alle nichtkommerziellen  Organisationen, ob sie nun Geld aus dem russischen Staatshaushalt, von privaten Spendern und Stiftungen, egal ob aus Russland oder dem Ausland erhalten, beeinflussen auf die eine oder andere Weise die öffentliche Meinung, um aus ihrer Sicht positive Veränderungen im Land zu erreichen.

Und sie alle müssen Verantwortung dafür tragen, wenn ihr Handeln das Gesetz verletzt.

Das Gesetz „über ausländische Agenten“ führt praktisch eine Schuldvermutung für eine künstlich ausgewählte Gruppe von Organisationen ein, bevor oder anstelle einer Bewertung ihres Handelns vom Inhalt und vom Ergebnis her.

Die bewusste Ungenauigkeit und die juristisch laienhafte  von Formulierungen und Definitionen eröffnet ein weites Feld für Willkür. Das führt zur Zerstörung der rechtlichen Grundlagen eines modernen demokratischen Staats. Die Gesetzesanwendungspraxis durch viele russische Gerichte beweist zusätzlich die Unvereinbarkeit des Gesetzes mit dem Recht und dem gesunden Menschenverstand. Es ist absurd, wenn das Schreiben von Gerichtsgutachten über Menschenrechtsverletzungen oder gar die gesetzlich verlangte Veröffentlichung von Tätigkeitsberichten als politische Betätigung qualifiziert wird.

Dieses Gesetz ist nicht reformierbar. Jede Änderung, selbst wenn sie mit den besten Absichten geschieht, muss die grundsätzliche Konzeption bewahren und wird damit auch künftig rechts- und verfassungswidrige Ansätze in der russischen Gesellschaft und im Staat stärken.

Der einzige Ausweg aus dieser Situation ist die schnellstmögliche Abschaffung des Gesetzes „über ausländische Agenten“.

15.11.2013

————————————————————————–

Über die Verfolgung des Antidiskriminierungszentrum Memorial

Erklärung von Memorial International

Am 12. Dezember hat das Lenin-Kreisgericht in St. Petersburg das Antidiskriminierungszentrum Memorial – eine St. Petersburger NGO, die Vertreter diskriminierter ethnischer Gruppen unterstützt (hauptsächlich Roma) – zu „ausländischen Agenten“ erklärt und angewiesen, sich in das entsprechende Register eintragen zu lassen.

Am 10. Dezember hat Präsident Putin bei einem Treffen mit Menschenrechtlern zum Tag der Menschenrechte gesagt: „Der Staat und die Menschenrechtsbewegung haben genau die gleichen Aufgaben“. Zwei Tage darauf, am Tag der Verfassung Russlands, sagte er in seiner alljährlichen Botschaft an die Föderalversammlung, dass „eine der Prioritäten der gemeinsamen Arbeit von Staat und Gesellschaft die Unterstützung der Menschenrechtsbewegung sein muss“. Praktisch in genau dem Moment, in dem der Präsident vor den Parlamentskammern diese Rede hielt, hat das Gericht in St. Petersburg faktisch die Vernichtung einer der effektivsten Menschenrechtsorganisationen in Russland entschieden. Denn es geht genau um ihre Vernichtung, weil sich keine unabhängige NGO das beleidigende und verlogene Etikett „ausländischer Agent“ anheften lässt.

Es dürfte kaum möglich sein, augenfälliger zu demonstrieren, wie Worte und Taten des russischen Staates auseinander fallen.

Das, was in St. Petersburg geschehen ist, ist kein Zufall, sondern die direkte Folge des „NGO-Agentengesetzes“. Dieses Gesetz ist auf Initiative des russischen Präsidenten vorbereitet und in großer Eile angenommen worden und dient ausschließlich dem Kampf mit unabhängigen NGOs, die sich auf allen Ebenen staatlicher Willkür entgegenstellen.

Solange das Gesetz nicht abgeschafft wird, gibt es keinen Anlass irgendwelchen beruhigenden Reden Glauben zu schenken, unabhängig vom Status des jeweiligen Redners.

Wir solidarisieren uns mit unseren Kollegen vom Antidiskriminierungszentrum Memorial. Wir sind bereit mit ihnen zusammen diesem verfassungswidrigen Gesetz zu widerstehen und für eine Revision dieses Gerichtsurteils kämpfen.

Der Vorstand von Memorial International

Dieser Erklärung hat sich Memorial St. Petersburg angeschlossen