Andreas Schockenhoff, Beauftragter der Bundesregierung für die gesellschaftliche Zusammenarbeit mit Russland und CDU/CSU-Fraktionsvize im Bundestag, hatte das Glück des Tüchtigen. Als er die vorwöchige Konferenz zum russischen „NGO-Agentengesetz“ im Auswärtigen Amt in Berlin Ende vorigen Jahres zu planen begann, konnte niemand wissen, wie aktuell der Zeitpunkt, Ende April 2013, sein würde. Seit Anfang März werden NGOs in Russland, die Geld aus dem Ausland erhalten, flächendeckend durch Staatsanwaltschaft, Justizministerium, Steuerinspektion und andere Behörden „überprüft“, bisher insgesamt schon über 600.
Mitte April wurden die ersten NGOs gerügt. Sie bekämen Geld aus dem Ausland, betätigten sich „politisch“ und seien deshalb verpflichtet, sich dem „NGO-Agentengesetz“ gemäß als „ausländische Agenten“ registrieren zu lassen. Während ich das am 1. Mai schreibe (und Präsident Putin den Dirigenten Walerij Gergijew, ab 2015 Chefdirigent der Münchener Philharmoniker, zum ersten postkommunistischen „Held der Arbeit“ ernennt) haben bereits mehrere Dutzend NGOs derartige Bescheide erhalten, darunter das Menschenrechtszentrum Memorial, Transparency International Russland, aber auch zum Beispiel der Organisation, „Hilfe für Mukoviszidose-Kranke“ aus Irkutsk. Weitere, wenn nicht die meisten der überprüften Organisationen werden, so muss man angesichts der jüngsten Entwicklungen befürchten, folgen. Binnen Monatsfrist müssen sich die gerügten NGOs nun als „Agenten“ registrieren lassen oder Einspruch einlegen und es auf eine offene Auseinandersetzung mit dem Staat ankommen lassen.
Vor diesem Hintergrund war das Interesse an der von Schockenhoff organisierten Konferenz riesig. Mehr als 400 Teilnehmer (aus Politik, NGOs, Städtepartnerschaften, deutsch-russischen Freundschaftsgesellschaften, natürlich Presse aber auch Wirtschaft) drängten sich im Europasaal des Auswärtigen Amtes, davon rund 100 VertreterInnen russischer NGOs, die mit deutschen PartnernInnen zusammen arbeiten. Nicht nur der Andrang, sondern vor allem die Beiträge zeigten die veränderte Stimmung in der deutschen Russland-Community. Während noch vor nicht allzu langer Zeit bei solchen, nun ja, teil-offiziellen Anlässen diejenigen zu überwiegen schienen, die einen pfleglicheren Umgang mit „Russland“ (gemeint war oft „mit der russischen Führung“) anmahnte, waren solche Stimmen diesmal in der Minderheit.
Den Anfang machte Bundesaußenminister Guido Westerwelle. Er führte die seit dem Herbst neue Linie der Bundesregierung fort. Der von den Koalitionsparteien und den Grünen bei Enthaltung der SPD und Gegenstimmen der Linken getragene Beschluss des Bundestags zur Russlandpolitik im vergangenen Herbst und die Putin-Kritik von Kanzlerin Angela Merkel Mitte November 2012 in Moskau markieren eine Art Wendepunkt. Wenn bis dahin Kritik intern angesprochen und später öffentlich darüber geredet wurde, erfolgt sie nun gleich öffentlich, wenn auch in angemessen diplomatischer Verpackung „Freie, vielfältige Gesellschaften“ seien „auf lange Sicht“ stabiler und zukunftsfähiger; in einer globalisierten Welt könnten „Staat und Zivilgesellschaft nur gemeinsam und über nationale Grenzen hinweg“ angemessen auf die vor uns allen liegenden Probleme reagieren; gute Investitionsbedingungen und eine starke Zivilgesellschaft seien „keine Gegensätze, sondern zwei Seiten ein und derselben Medaille“. Außerdem sei die Verflechtung zwischen Russland und Deutschland sowie der EU inzwischen so groß, dass man sich nicht nur öffentlich kritisieren könne, sondern sogar müsse. Die Worte sind gewogen, doch allein: Es zählen Öffentlichkeit und Publikum. In der ersten Reihe saß der russische Botschafter in Deutschland Wladimir Grinin. Der Beifall für Westerwelle war freundlich-zustimmend.
Wirklich rauschend war dagegen, drei Redner später, der Beifall für Pawel Tschikow. Der junge Rechtsanwalt aus Kasan in Tatarstan leitet die Menschenrechtsorganisation AGORA, die sich vor allem für Beschuldigte in politischen Verfahren einsetzt und NGOs rechtlich berät. Er fasste die gegenwärtige Entwicklung in Russland vielleicht ein wenig vereinfachend-überspitzt, nichtsdestotrotz aber treffend so zusammen: Zuerst sei mit dem „NGO-Agentengesetz“ der Gleichklang „NGOs – Geld aus dem Ausland – politische Tätigkeit – ausländische Agenten“ in der Öffentlichkeit etabliert worden. Inzwischen funktioniere bereits die Assoziation „NGOs – Geld aus dem Ausland – -ausländische Agenten“. Und bald, so prognostizierte Tschikow, gelte wohl ganz verkürzt „NGOs – ausländische Agenten“.
Tschikows eigene Organisation AGORA wurde Anfang dieser Woche von der tatarischen Staatsanwaltschaft zur „Agentin“ erklärt. Man sollte das nicht als Antwort auf seinen Auftritt in Berlin werten, es wäre ohnehin passiert. AGORA, so heißt es in dem staatsanwaltschaftlichen Bescheid, unterstütze Beschuldigte in politischen Prozessen. Da es aber in Russland keine politischen Prozesse gebe, sei das „politische Tätigkeit“, AGORA somit „Agent“ und habe folglich um Registrierung zu bitten, was bisher unterblieben sei. Eine, wie man in Russland sagt, „eiserne“ Logik, mindestens so eisern wie ein längst Geschichte gewordener (oder etwa nicht?) Vorhang.
Hier sollte nicht unerwähnt bleiben, dass noch am 24. Dezember vorigen Jahres unter der Vorgangsnummer 15/105591-AS und mit Unterschrift eines stellvertretenen Ministers das Justizministerium AGORA auf Anfrage versichert hatte, „keine Anzeichen“ von Agententum dort entdecken zu können. So schnell ändern sich die Zeiten.
Pawel Tschikow konnte in Berlin eine das Publikum sichtlich beindruckende Anzahl ähnlichen Logikprinzipen folgenden Argumentationsleistungen vorbringen. Immer geht es darum, dass sich NGOs um einen Missstand kümmern und dieser Missstand entweder von der Staatsanwaltschaft geleugnet wird oder der „Kompetenz“ der NGOs entzogen (weil er z.B. bei der Korruptionsbekämpfung in die „Kompetenz“ eben dieser Staatsanwaltschaft fällt). Folglich, so die Staatsanwaltschaft, kann es sich bei der Tätigkeit der jeweils befassten NGO nur um den Versuch handeln, staatliches Handeln zu beeinflussen. Den aber definiert das „NGO-Agentengesetz“, so ausländisches Geld im Spiel ist, als „politische Tätigkeit“ und damit, so die NGO nicht als „ausländischer Agent“ registriert ist, ergibt sich „Missachtung des Gesetzes“. Da noch niemand registriert ist (die meisten NGOs weigern sich; wer es dennoch versuchte, traf, wie oben am Beispiel von AGORA zu sehen, vor Beginn der laufenden Anti-NGO-Kampagne auf eine Ablehnung des Justizministeriums), wird es wohl bald sehr viele getroffen haben.
Pawel Tschikow hatte in Berlin mit seiner im Stakkato vorgetragenen Kette absurder Beispiele vor dem 400er-Publikum leichtes Spiel. Der russischen Entwicklung seit Mitte 2011 folgend, scheint der Putinsche Lack auch in Deutschland zu blättern. Das hat drei Gründe. Der erste ist Putin selbst. Er hat, aus welchen Gründen auch immer, genau in dem Moment beschlossen, in den Kreml zurück zu kehren, in dem sein Stern zu sinken begann (ich wähle dieses Bild vom sinkenden Stern ganz bewusst). Putin hat viele Menschen, auch in Deutschland, geblendet. Nun strahlt er immer schwächer (wie u.a. Umfragen des Lewada-Zentrum deutlich zeigen), und damit werden auch seine Schwächen sichtbar(er). Wenn Westerwelle damit Recht hat (was ich glaube), dass die moderne, globalisierte Welt vielfältigere Antworten erfordert, dann ist Putin ganz sicher nicht der richtige Mann dafür. Außerdem hat er das banale Problem aller Politiker, die lange an der Macht sind: Sie hängen den Menschen zunehmend zum Halse raus.
Der zweite und der dritte Grund sind ganz ähnlich, unterscheiden Deutschland (und teilweise den Westen insgesamt) aber von Russland deutlich: die Einkerkerung von Pussy Riot und die Anti-Homosexuellengesetze. Beide Gründe machen auf einer vordergründig wenig politischen Ebene fundamentale Unterschiede zur Frage deutlich, wie eine moderne Gesellschaft verfasst sein sollte, und zwar nicht nur auf der Ebene der Regierungen, sondern sogar vielleicht mehr noch der Gesellschaften. Beide machen auf einer vordergründig wenig politischen Ebene fundamentale Unterschiede darüber deutlich, wie eine moderne Gesellschaft verfasst sein sollte. Es ist hier jetzt nicht der Platz, die Gründe genauer zu beleuchten (die etwas mit dem Stichwort „68“ und der damit verbundenen Prozesse der Dehierarchisierung des Verhältnisses Staat/Gesellschaft-Individuum und der Geschlechterverhältnisse zu tun haben). Beides aber wird in Deutschland als nicht mehr zeitgemäß aufgefasst. Oder anders ausgedrückt: So etwas macht man nicht.
Dem konnte sich offenbar auch Rainer Lindner, Geschäftsführer des Ostausschusses der Deutschen Wirtschaft nicht entziehen. Fast entschuldigend verteidigte er das wirtschaftliche Engagement deutscher Firmen in Russland, das immerhin zu verhältnismäßigem Wohlstand mehrerer Hunderttausend Arbeitnehmer führe und so auch einen Beitrag zur Demokratisierung Russlands leiste. Allerdings, so Lindner, gebe es auch in der Wirtschaft Sorge um eine, so wörtlich, „Belorussisierung“ der russischen Politik. Auch das ein Anzeichen dafür, dass Putin vom „Garanten“ eines guten Investitionsklimas zu seiner Gefährdung zu werden droht (oder schon geworden ist).
Fast unhörbar blieben auf der Konferenz im AA jene Stimmen, die davor warnen, „Russland von oben herab“ zu behandeln, oder „die Russen belehren zu wollen“. Eine der lautesten von ihnen, der Vorsitzende des Deutsch-Russischen Forums und ehemalige deutsche Botschafter in Moskau Ernst-Jörg von Studnitz, hatte sich mit einem harschen offenen Brief selbst ausgeladen. Von Studnitz wollte sich nicht damit abfinden, auf dem Auftaktpanel keinen Platz zu finden (im Anschluss an die Ministerrede, besetzt mit Schockenhoff, dem Vorsitzenden des russischen Rates für Zivilgesellschaft und Menschenrechte beim Präsidenten Michail Fedotow und seiner Vorgängerin Ella Pamfilowa, sowie Pawel Tschikow). Die Moderation eines Panels am zweiten Tag lehnte Studnitz ab.
So übernahm es ein junger Mann, der sich als Mitglied des Deutsch-Russischen Jugendparlaments vorstellte, für einen sanfteren Umgang mit „Russland“ ohne öffentliche Kritik zu werben. Ihm antwortete unter anderen Jelena Schemkowa, Geschäftsführerin von Memorial. Wer denn dieses „Russland“ sei, von dem der junge Mann spreche? Sie sei auch ein Teil Russlands, und sei sehr froh über die auf der Konferenz gehörte Kritik, sehr dankbar für die aus Deutschland und von anderswo kommende Hilfe und sie schäme sich keineswegs für die vielfältige internationale Zusammenarbeit.