Jeden 29. Oktober kehren in Moskau die Namen zurück. Namen von zwischen dem 5. August 1937 und dem 18. Oktober 1938, dem Großen Terror, vom Staat ermordeten Menschen. „Die Rückkehr der Namen“ heißt die von Memorial alljährlich am Solowezker Gedenkstein für die Opfer politischer Verfolgung in der Sowjetunion auf dem Lubjanka-Platz vor dem KGB(heute: FSB)-Hauptquartier organisierte Aktion. Von 10 Uhr morgens bis 10 Uhr abends kommen Menschen zu einem kleinen Pult, nehmen eine Kerze und lesen aus vorbereiteten Listen Namen, Beruf, Geburts- und Sterbedaten von jeweils etwa 10 Ermordeten. Manche fügen noch jemanden hinzu, erinnern vielleicht an einen Verwandten oder eine Freundin. So geht das den ganzen Tag. Ruhig und stetig. Etwa 400 Menschen kommen jedes Jahr dran.
Eine kleine, lebendige Erinnerung an dunkle Vergangenheit in einer Stadt, in der es außer diesem 1990 von Memorial vom kleinen Inselarchipel der Solowki im Weißen Meer hierher geschafften Stein kein einziges Denkmal für die Opfer des sowjetischen Terrors gibt. Auf den Solowki nahm der sowjetische Gulag in den 1920er Jahren seinen Anfang. Der 30. Oktober ist ein offizieller Gedenktag. 1991 machte ihn der Oberste Sowjet der gerade noch existierenden Sowjetunion dazu. Doch der Staat kümmert sich kaum um diesen Gedenktag. Jedes Jahr gibt es eine dürre offizielle Erklärung. Selten äußern sich Präsident oder Premierminister. Wladimir Putin besuchte nur einmal, am 30. Oktober 2007, den Erschießungsplatz Butowo vor den Toren Moskaus. Dort wurden in den fünfzehn Monaten des Großen Terrors über 20.000 Menschen erschossen.
Später, im Frühjahr 2010, als der damalige Moskauer Bürgermeister Jurij Luschkow zum Tag des Sieges über das nationalsozialistische Deutschland Portraits des Oberkommandierenden Stalin in Moskaus Straßen aufhängen lassen wollte, nannte Dmitrij Medwedjew, damals Präsident, Stalin einen Verbrecher und erklärte die Verurteilung seiner Verbrechen zur „Staatsideologie“. Dieser Tage meldete er sich, nun als Premierminister, per Facebook erneut zum Thema zu Wort: „Es ist sehr bequem, Stalinist zu sein, wenn Du weißt, dass niemand Dich nachts abholen kommt. Und wenn niemand in einem ruhigen Büro mit Bleistift die Erschießungslisten abzeichnet.“
Ja, niemand wird heute in Russland zur Erschießung abgeholt. Aber vor Polizei und Geheimdienstbesuch ist niemand gefeit. Es genügt gegen Putin zu protestieren. Stalin ist ein Untoter. Kaum scheint er endgültig erledigt, taucht er wieder auf. Zumindest seine Herrschaftsmethoden. Nicht die Erschießungen, nein. Wohl aber die Vorstellung, Russland sei eine umlagerte Festung. Und die Opposition im Lande alles Verräter und Spione. „Stalin ist schon lange tot – aber Stalinisten gibt es noch,“ schreibt dazu Andrej Kolesnikow, Kommentator der Nowaja Gaseta,“und unter den Herrschenden in Russland konkurriert der Tyrann in Bezug auf seine Popularität mit Peter dem Großen. Das ist wie mit den Juden: Die meisten sind ausgewandert, aber der Antisemitismus steht in voller Blüte. Irgendwer muss doch das Spinnennetz der weltweiten Verschwörung gegen Russland weben, denn wie soll man sonst erklären, was im Land vorgeht…“
Das NGO-Agentengesetz vom Sommer, das bald in Kraft tritt, atmet diesen stalinschen Geist, den Geist zynischen Misstrauens. Gestern verabschiedete das Parlament ein verschärftes Spionagegesetz. Sollte Putin dieses Gesetz unterzeichnen, wird jeder Mensch in Russland, der Kontakt zum Ausland hat zum potentiellen Vaterlandsverräter. Memorial hat die Empfindung, dass die gegenwärtige Entwicklung einer schiefen Ebene in eine ferne und doch so nahe Vergangenheit gleicht, aus Anlass des Erinnerungstags an die Opfer politischer Verfolgung in eine Erklärung gefasst:
Russland wird auf seinen gewohnten und tragischen Weg gedrängt
Vor 38 Jahren, am 30. Oktober 1974 haben Gefangene in den Lagern in Mordowien und im Gebiet Perm, sowie im Gefängnis in Wladimir mit Hungerstreiks und anderen Protestaktionen den „Tag der politischen Gefangenen in der UdSSR“ begangen.
Heute begehen wir den 30. Oktober nicht nur als Tag der Erinnerung an die Opfer politischer Repression, sondern auch wieder als Tag der politischen Gefangenen, nun schon im modernen Russland.
Die Ereignisse der vergangenen Wochen haben gezeigt, dass die russische Staatsmacht im Dialog mit der Opposition vor allem die Sprache der Repression nutzt: Festnahmen, Gerichte und Lager. Wieder, wie in den 1920er und 1930er Jahren wird Erfahrung bei der Fabrikation politischer Prozesse gebraucht. Erneut sind Verwünschungen als „ausländische Agenten“ im Gebrauch. Nützlich ist auch die frische „kaukasische“ Erfahrung mit Entführungen und Geheimgefängnissen.
Russland wird erneut auf seinen gewohnten und tragischen Weg gedrängt.
Wir appellieren nicht an das historische Verantwortungsgefühl unserer Staatsführer. Dieses Gefühl fehlt ihnen offenbar. Wir wenden uns auch nicht an den Selbsterhaltungsinstinkt der russischen Machtelite. Um dieses Gefühl zu entwickeln müsste es zumindest eine ungefähre Vorstellung der Realität geben, die aber bei der gegenwärtigen Elite letztendlich fehlt.
Wir wenden uns an die Gesellschaft und hoffen auf ihre staatsbürgerliche Reife. Wir haben kein fertiges Rezept, wie wir verhindern können, dass Russland in eine neue Spirale von Revolution und Staatsterrorismus abrutscht. Wir müssen gemeinsam nach Formen suchen, wie wir diesen verrückten und selbstmörderischen Schritten, die die Staatsmacht unternimmt, entgegen wirken können. Das Einzige, zu dem alle gesellschaftlichen Kräfte, unabhängig von ihrer politischen Orientierung, aufzurufen wir notwendig finden, ist die unbedingte Absage an jede Form von Gewalt. Zu Ruhe, Weisheit und Standhaftigkeit.
Wir sind in der Lage die Freiheit zu schützen, wenn wir uns auf das Recht stützen und nicht auf Gewalt.
Vorstand Memorial International, 30. Oktober 2012