Erst die noch vorsichtigen, mehr andeutenden Signale, dass sich der scharf antiwestliche Wind in Russlands Führung gedreht habe, und nun die ganze Breitseite: Eine „europäische Freihandelszone von Lissabon bis Wladiwostok“ will der russischr Premierminister schaffen, Visafreiheit für seine Bürgerinnen und Bürger möglichst sofort, als Zeichen der Ernsthaftigkeit sozusagen. Geeignete Claqueure hatte Putin nicht nach Deutschland mitbringen müssen. Die sind längst da. Namentlich Siemens-Chef Löscher und Deutsche-Bank-Präzeptor Ackermann bekamen sich mit Elogen auf Russland und seine Führer nicht mehr ein.
Angefangen hat das alles, wie schon erwähnt, schon früher, im Mai 2009 mit dem „Reload“ der russisch-US-amerikanischen Beziehungen. Im Herbst schickte Präsident Medwejew sodann seine „liberalen Signale“ mit der Forderung einer „Modernisierung Russlands“ hinterher. Zu Beginn dieses Jahres häuften sich dann, erst noch in informellen Gesprächen mit Leuten, die man gewöhnlich als „dem Kreml nahe stehend“ bezeichnet, Bemerkungen von einer „prinzipiellen europäischen Wahl“, die die russische Staatsspitze, zumindest aber Medwejew getroffen habe. Im Frühjahr dann ließ das stockkonservative Außenministerium ein für Mwedwedjew geschriebenes proeuropäisches
Strategiepapier „zufällig“ an die Öffentlichkeit
gelangen und kurz darauf schwor der Präsident selbst die in Moskau versammelten
russischen Botschafter darauf ein, auf ihren Posten um enge bis engste Zusammenarbeit mit
der EU und ihren Mitgliedsstaaten zu werben. Die
russisch-polnische Annäherung (vor allem um und über das Thema Katyn) hatte den Boden
bereitet.
Es ist natürlich nicht unwichtig, dass gerade Putin Lissabon-Wladiwostok-Vorschlag macht. Ein großer Teil der westlichen Beobachter hat sich in den vergangenen Monaten gemütlich in der Vorstellung eingerichtet, es gebe einen zunehmenden Konflikt zwischen einem eher liberalen, eher dem Westen zugewandten Medwedjew und einem eher konservativen, eher konfrontativen Putin. Die lärmende Entlassung des Moskauer Bürgermeisters Luschkow musste genauso dafür als Beleg herhalten, wie unfreundliche Äußerungen Putins zu Moskauer Demonstranten für Demonstrationsfreiheit und noch vieles mehr.
Ob das stimmt (ich glaube eher nicht) ist Thema für einen der nächsten Blogeinträge. Heute soll es im Weiteren darum gehen, ob diese Charmeoffensive Richtung Westen auch, wie viel gehofft, auch von einer Liberalisierung im Inneren begleitet wird. Man kann, wie so oft, Anzeichen dafür finden, aber ebenso gut belegen, dass sich nichts ändert. Hier nur drei aus einer ganzen Reihe von Beispielen:
Argument pro Liberalisierung: Zulassung der Demonstration für Demonstrationsfreiheit am 31. Oktober. Gegenargument: Das geschah noch als Anti-Luschkow-Maßnahme. Der neue Moskuer Bürgermeister Sobjanin muss sich als besser beweisen.
Argument pro Liberalisierung: Alexander Ausan, langjähriger NGO-Aktivist, Kritiker des politischen Systems und Autor zahlreicher Arbeiten, die eine moderne Wirtschaft mit liberalen Freiheiten verbinden, wurde vergangenen Donnerstag zum Mitglied der präsidialen „Kommission für Modernisierung und
technologische Entwicklung der russischen Wirtschaft“
ernannt. Die Kommission wurde im Mai 2009 gebildet und besteht
gegenwärtig aus 22 Personen. Mewedjew selbst hat den Vorsitz, zudem
gehören ihr mehrere Minister (u.a. Naibullina/Wirtschaft,
Iwanow/Vizepremier, Wolodin/Vizepremier und Leiter des Regierungsapparats), wichtige
Beamte der Präsidentenadministration (u.a. Surkow), Chefs großer
Staatskorporationen (u.a. Tschubajs/Rosnanotechnologija,
Kirijenko/Rosatom, Tschemesow/Rostechnologija) und ausgewählte
Wirtschaftsführer (u.a. Prochorow/Gruppe Oneksim) an. Und nun Ausan, im
Ukas als „Präsident der Assoziation Unabhängiger Zentren zur
Wirtschaftsanalyse“, der etwa 40 private Wirtschaftsforschungsinstitute
angehören.
Gegenargument: Ausan hat seine Seele den Teufeln verkauft (auch wenn er das vielleicht nicht weiß, er gilt als sehr integer) und wird dort als Feigenblatt sitzen.
Argument pro Liberalisierung: Auch im Fernsehen gibt es immer mehr Kritik am politischen Kurs. Aktuellestes Beispiel ist die Verleihung des Wladislaw-Listjew-Preises an den Fernsehjournalisten Leonid Parfjonow, der daraufhin in seiner Dankesrede das russische Fernsehen beschuldigt, keine „Informationen“ zu produzieren, sondern „Staats-PR“. Gegenargument: Die Dankesrede lässt sich zwar auf der Website des staatlichen ersten Fernsehkanals abrufen, wurde im Fernsehen selbst aber nicht gezeigt. Verboten ist Kritik an Putin und Medwedjew aber schon lange nur im Fernsehen (was Parfjonow kritisiert). Im Internet kann man, politisch bisher weitgehend folgenlos, fast alles schreiben und sagen.
Und nun kommen nur noch Gegenargumente: Der kritische Journalist Oleg Kaschin von der Tageszeitung Kommersant wurde Anfang November brutal zusammen geschlagen. Zu Kaschins Intimfeinden gehört die Kremljugend „Naschi“. Kurze Zeit darauf trifft sich Putin demonstrativ mit dem Naschi-Gründer Wassilij Jakemenko, der heute dem staatlichen Jugendkomitee vorsitzt. Der Anlass war nichtig, das Zeichen wurde allenthalben verstanden: Jakemenko und Naschi stehen unter Putins besonderem Schutz.
Oder: Allenhalben ist von einer beginnenden Destalinisierung die Rede. Zum 30. Oktober aber, dem (offiziellen!) Gedenktag an die Opfer politischer Repression, haben drei (!) Gouverneure (und es waren die gleichen, wie schon in den Vorjahren) es für nötig gehalten, sich dazu zu öffentlich äußern oder zumindest eine schriftliche Erklärung abzugeben. Zwar wurde von der Staatsduma vorigen Freitag eine Erklärung verabschiedet, in der die Ermordung von mehr als 20.000 polnischen Offizieren 1941 durch den sowjetischen Geheimdienst NKWD verurteilt wird, und allgemein wird erwartet, dass Medwedjew bei seinem Polen-Besuch Anfang kommender Woche weitere Archivmaterialien mitbringt. Gleichzeitig hat Memorial inzwischen 32 (!) Prozesses gegen staatliche Archive auf Herauisgabe von Katyn-Akten verloren, bis hoch zum Obersten Gericht.
Oder: Vor einem Jahr wurde der Anwalt Sergej Magnizkij im Untersuchungsgefängnis durch bewusste unterlassene Hilfeleistung ermordet. Die zuständigen Staatsanwälte, die ihn erst so unterbrachten, dass er tödlich erkrankte und dann eine medizinische Behandlung verweigerten, wurden erst befördert und dann kürzlich mit Orden ausgezeichnet.
Oder ganz alltäglich: Erst heute erschien in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung eine Art Tagebuch der Korrespondentin Kerstin Holm unter der Überschrift „Im Angesicht des Verbrechens„. Darin dokumentiert die Autorin vom 11.10. bis zum 26.11. über eineinhalb Monate eine schreckliche Chroik der laufenden, oft für Bürger tödlichen russischen Behördenwillkür (meist sind es Polizei, Staatsanwaltschaft und Gerichte).
Und über Tschetschenien und den Nordkaukasus habe ich noch kein Wort geschrieben. In Dagestan herrscht Krieg zwischen einem korrupten Staat und islamistischen Gruppen. Tschetschenien ist ein Schlachthof, in dem nicht einmal mehr das Schlachtvieh blökt. In Inguschetien und Karbadino-Balkarien sind Gewalt und Anschläge an der Tagesordnung. Im übrigen Land geraten Kaukasier im Gegenzug immer mehr und generellen Terrorismusverdacht.
Angesichts der Vorgeschichte von zehn Putin-Jahren und dieser nur kurzen und bei weiten unvollständigen Bilanz werde ich an Verbesserungen erst glauben, wenn sie sich über längere Zeit „mit den Händen greifen“ lassen. So lange ist die politische Führung nicht einmal auf Bewährung. Selbst die muss erst verdient sein.
Sollte man mit Russland deshalb zu handeln aufhören? Selbstverständlich nicht. Ich bin auch weiter für Visumsfreiheit. Die Visumspflicht trifft nicht das Regime und nur weil sie Putin fordert, ist ihre Abschaffung nicht falsch, sondern bleibt richtig. Die wegschauende Begeisterung der Löscher und Ackermänner, und von ihnen gibt es leider sehr viele in Deutschland, nicht nur in der Wirtschaft, aber bleibt obszön.