Die Welt im Umbruch – Russlands strategische Alternativen

Die Welt ist im Umbruch. Russland sucht sich
neu – und gleichzeitig seine neue Rolle in der neu entstehenden politischen
Weltordnung. Die russischen Bewegungsrichtungen und historischen Bezüge sind
suchend bis widersprüchlich.

 

Im außenpolitischen Denken dominiert ein geopolitisches
Weltbild, das eher aus dem 19. denn aus dem 21. Jahrhundert stammt.
Gleichzeitig erscheint es angesichts seiner Beharrung auf der Behauptung, dass
es nur eine multipolare, niemals aber eine (von den USA dominierte) unipolare
Weltordnung geben könne, fast schon wieder modern. Der russische
außenpolitische Diskurs sprüht nur so vor Genugtuung darüber, dass das  nun endlich-endlich die ganze Welt eingesehen
zu haben scheint, die USA eingeschlossen.

 

Gleichzeitig schauen die meisten russischen
Außenpolitiker (Außenpolitikerinnen gibt es weiter sehr wenige) auf die ihrer
Meinung nach schwache und über kurz oder lang zur Unterordnung oder zum
Untergang verurteilte EU hinab. Paradox ist dabei aber, dass trotzdem, offenbar und letztendlich
nichts anderes übrig zu bleiben scheint, als mit eben dieser EU zusammen zu gehen, weil man,
allem Backenaufpumpen der Vor-Krisen-Jahre und stolzem Zu-BRIC-Gehören zum
Trotz, selbst auch auf dem absteigende Ast ist.

 

Dabei geht es aber nicht nur um die EU,
sondern, sozusagen dahinter, als eigentliche Macht, immer auch um die USA (und
ihren verlängerten Arm, die NATO), als deren sicherheitspolitischer
Juniorpartner die EU nicht ganz zu Unrecht angesehen wird. Das Verhältnis zu
den USA ist ebenso widersprüchlich wie das zur EU: Sie wird als Bedrohung, als
das Maß aller geopolitischen Dinge angesehen. Aber sie dient auch, wie in so
vielen Ländern, als Traumwunderland. Sie ist dort, wo man selbst hinkommen
will, nämlich ganz oben. Die Rede vom Niedergang der Supermacht USA ist auch
immer Teil dieses Aufstiegswillens. 

 

 

Drei Charakteristika des russischen
außenpolitischen Denkens

 

Neben dem Denken in geopolitischen Kategorien,
in dem Souveränität verstanden als Fähigkeit zu handeln ohne andere zu fragen
(frei nach Carl Schmitt) internationaler Vernetzung und Interdependenz entgegen
steht, bestimmen zwei weitere Charakteristika die russische Außenpolitik:

 

Zum einen wird Sicherheit weiterhin vorwiegend
als „strategische Tiefe“ empfunden. Daher auch die empfindlich-abwehrenden
Reaktionen auf die NATO-Erweiterung und mögliche NATO-Mitgliedschaften von
Georgien oder gar der Ukraine. Hier gibt es eine Kontinuität von Stalin über
die späte Sowjetunion und sogar, wenn auch durch Schwäche abgeschwächt das
Jelzinsche Russland bis heute.

 

Zum zweiten gilt der Nationalstaat (und nur
er) als das gegenwärtig, vor allem aber auch zukünftig allein maßgebende
Subjekt internationalen Handelns (was einen Teil, wenn auch nur einen Teil der
EU-Skepsis erklärt). Gleichzeitig ist der russische Nationalstaat selbst noch
sehr jung (als Nationalstaat und nicht als Imperium gerade einmal 20 Jahre alt)
und seiner selbst und seiner historisch nie dagewesenen Grenzen sehr unsicher. Der
Zerfall der Sowjetunion wird in Russland eher als ein Abfall vom (russischen)
Zentrum aufgefasst (und gefühlt), dem weitere Separationsbewegungen folgen
könnten. Die Sorge um die „territoriale Integrität“ des Landes war beides:
Grund und Vorwand für den Tschetschenienkrieg. Diese Sorge und Unsicherheit
drückt sich auch im mal schroffen, mal hochfahrenden, mal konfrontativen
Verhalten gegenüber „unseren westlichen Partnern“ (O-Ton Putin) aus.     

 

 

Herausforderungen

 

Welche strategischen Herausforderungen ergeben
sich aus Sicht der gegenwärtigen politischen Führung (im Gegensatz zu vielen
anderen Politikbereichen herrscht hier große Einigkeit bis weit in die Reihen
der marginalisierten Opposition hinein) aus dieser Gemengelage? Ich möchte,
ohne dass eine tiefere Analyse an dieser Stelle möglich ist, fünf nennen. Die
Reihenfolge gibt durchaus eine Rangfolge ihrer Wichtigkeit wieder:

 

  • Globale Machtbalance
  • Globale Energiepolitik
  • Die sogenannte „privilegierte Interessenssphäre“, d.h. ehemalige
    Sowjetunion ohne Baltische Staaten, also

    • Ukraine, Belarus, Moldowa
    • Südkaukasus
    • Zentralasien
  • Handelsbeziehungen mit der EU
  • BRIC

Die strategische Autonomie schützen aus
russischer Sicht ausschließlich die strategischen Atomwaffen. Zwar ist der
russischen Führung klar, dass eine Parität mit den USA über die aktuellen
russischen Kräfte geht. Umso wichtiger ist es aber, gemeinsam mit den USA eine
Nuklear-Überlegenheit allen anderen gegenüber aufrecht zu erhalten.

 

Gleichzeitig muss der eigene, relative
Machtverlust begrenzt werden. Wichtigstes Mittel hierzu ist die russische
Mitgliedschaft in vielen Allianzen gleichzeitig (die manchmal erst auf russische
Initiative hin gegründet wurden): G8, G20, BRIC, Iran, Shanghaier Organisation
etc.

 

Zbigniew Brzezinski, einer der bekanntesten
und in Russland meistgehassten US-Russlandfalken, wird nichtsdestotrotz, wohl
aber auch deshalb als geopolitische Autorität geschätzt. Das ihm zugeschriebene
Diktum, es gebe kein russisches Imperium ohne die Ukraine, ist auch die
Überzeugung der politischen Elite in Russland. Da nun die
Wiedereinverleibungschancen gering sind, ist es Ziel, die
Ukraine zumindest zu neutralisieren, also nicht „Teil des Westens“ werden zu
lassen. Ebenso wird angestrebt, Georgien zu neutralisieren. Ersterem Ziel
scheint die russische Führung nach dem Machtwechsel in der Ukraine von
Juschtschenko zu Janukowitsch im Frühjahr wesentlich näher gekommen zu sein –
und das, ohne viel dazu beigetragen zu haben (außer der Klugheit vielleicht, die 2004 übel
verbrannten Finger diesmal draußen vor gelassen oder feinfühliger eingesetzt zu
haben). Georgien ist gleichzeitig, nach dem Krieg vor zwei Jahren, unter
Saakaschwili auf dem besten Weg, sich selbst weiter unattraktiv und unwichtig
zu machen, zumindest für die EU-Europäer.

 

Wie passt das nun alles zusammen?

 

In der russischen Diskussion um den richtigen
außenpolitischen Weg spielt die Frage nach den möglichen und den wünschenswerten Verbündeten eine immer wichtigere Rolle. Dmitrij Trenin, Direktor des Carnegie Moscow Centers,
befürchtet, die gegenwärtige Führung habe sich zur „Alleinfahrt“ entschlossen
(„Odinotschnoje plavanije“, so der Titel seines neusten Buchs), habe sich vielleicht sogar eher unfreiwillig darin wieder gefunden. Das stimmt insofern, als sie
sich nicht so recht zwischen Allianz und Konkurrenz mit dem Westen entscheiden
kann (oder will). Doch im Zeichen der Krise gewinnt die These wieder mehr
Anhänger,  dass das mittelfristig
schwächer (und weniger) werdende Russland auch in der erträumten multipolaren
Welt strategische Partner braucht und sich nicht, frei nach Bush und je nach Situation, jeweils nur auf die willigen partner stützen kann.

Wie allein (gelassen) man so werden kann, haben die inzwischen fast zwei jahre nach der einseitigen Anerkennung der Unabhängigkeit von Abchasien und Südossetien gezeigt: Außer Nicaragua und Samoa hat sich, trotz intensivster russischer Werbungen, kein Staat der Welt diesem Schritt angeschlossen. Selbst Hugo Chavez' Venezuela hat es bisher bei einer Ankündigung belassen.  

So klein die Auswahl ist, so erbittert die
Diskussion, zumal sie eng mit der Frage nach dem Selbstbild und der inneren
Verfassung des Landes verwoben ist. Das Fehlen einer eindeutigen Antwort liegt
aber auch daran, dass die möglichen Verbündeten ganz verschiedene Qualitäten
und Mängel haben und dabei gleichzeitig unterschiedliche Bedürfnisse Russlands
abdecken. Kurz und der Reihe nach:

 

Eine enge Bindung an die USA wird allgemein
abgelehnt. Das liegt auch, aber nicht nur daran, dass die USA immer noch das „große
Andere“ sind, an dem sich Russland misst. Ein großer Teil der Russen nennt die
USA auch zwanzig Jahre nach Ende der Sowjetunion immer noch als die größte
Gefahr für die nationale Sicherheit. Auch wenn die politische Führung das
inzwischen nicht mehr so sehen sollte (was ich nicht weiß), so ist das doch ein
gut handhabbares innenpolitisches Machtinstrument. Gleichzeitig wird die USA
aber als Partner gebraucht, da nur ihre Anerkennung Russlands als einzige
einigermaßen ebenbürtige Atommacht auf der Welt dem Land zumindest einen Hauch
von Großmachtstatus lässt. 

 

China kommt als bevorzugter Verbündeter auch
nicht in Frage. Denn erstens aller Wahrscheinlichkeit nach zukünftiger Hegemon,
zweitens zu groß und drittens direkter Konkurrent in Sibirien und Zentralasien.
Insbesondere die Angst vor der schleichenden Sinisierung Sibiriens verstört die
russischen politischen Eliten schon seit langem. Zwar fasziniert die „lenkenden
Demokraten“ in Russland das chinesische Modell von wirtschaftlichem Erfolg ohne
politische Freiheit fraglos sehr. Doch die Diskussion über seine
Übertragbarkeit auf Russland bezieht ihre Schärfe vor allem aus der Abgrenzung
zum Westen.

 

Eine dritte Option wäre der Ausbau von BRIC
(Brasilien, Russland, China, Indien) zu einem Bündnis der künftigen Mächte
gegen den immer noch dominierenden Norden-Westen. Doch das wäre allenfalls eine
mittelfristige Perspektive. Zu gering sind die Bindungen bisher, zu gering auch
die langfristigen gemeinsamen Interessen. Außerdem weiß auch der Kreml, dass
Russland mit seiner schrumpfenden Bevölkerung und auf Rohstoffexporten
basierenden Wirtschaft eigentlich nicht in diese Gruppe gehört. Es hat sich da
eher reingelogen, so wie die Sowjetunion in die antikoloniale Bewegung der
1950er und 1960er Jahre.

 

Weder China noch BRIC sind letztlich wirklich
ernsthafte strategische Optionen. Die Diskussion darüber wird aber immer wieder
genutzt, um Druck auf die USA und die EU auszuüben.

 

 

Alternative Europäische Union

 

Bleibt noch eine Alternative: die EU. Die EU
hat aber in der russischen Analyse einen entscheidenden Fehler. Sie wird als schwach
und auf mittlere Sicht geopolitisch marginalisiert angesehen, kommt also als starker,
strategischer Partner nicht so recht in Frage. Paradoxer Weise ist es aber
gerade die geopolitische Schwäche gepaart mit ihrer wirtschaftlichen und
technologischen Kraft, die die EU für Russland attraktiv macht. Man kann sich, so
der Schluss, mit ihr zusammen tun, ohne Zweiter werden zu müssen. Russland
bringt in dieser Perzeption die geostrategische Härte und die Rohstoffe mit,
die EU das Wirtschafts- und Modernisierungspotential. Das ergänzt sich auf dem
Papier sehr gut und entspricht auch am ehesten den historischen
Zugehörigkeitsgefühlen.

 

Die Chancen für die Wahl der russischen
politischen Elite stehen nicht schlecht. Das antiwestliche Hoch mit der
Auseinadersetzung um die Unabhängigkeit des Kosowo und die Luftangriffe von NATO-Flugzeugen
auf Rest-Jugoslawien (wenn auch unter UN-Mandat) verblasst langsam. Die
NATO-Osterweiterung in Mittel- und Osteuropa einschließlich der baltischen
Staaten wird inzwischen weitgehend akzeptiert, wenn auch mit Zähneknirschen.
Selbst das neue Zwischenhoch antiwestlicher und Anti-NATO-Ressentiments rund um
den Georgienkrieg vor zwei Jahren war nur von sehr kurzer Dauer, zumal ein
möglicher NATO-Beitritt von Georgien, vor allem aber der Ukraine in naher
Zukunft wohl ausgeschlossen ist.

 

Ein jüngst wohl nicht zufällig in die
Öffentlichkeit gelangtes Strategiepapier des russischen Außenministeriums
unterstützt in wesentlichen Teilen diese Analyse.

 

Allerdings bleibt das russische Grunddilemma
der vergangenen drei Jahrhunderte bei dieser strategischen Wahl ungelöst: Wie
kann man Europa näher kommen, ohne seine Identität zu gefährden? „Europa“ ist
eben, auch und gerade in der russischen Diskussion, nie nur technischer und
wirtschaftlicher Fortschritt, sondern immer auch „Zivilisation“. Heute heißt
das vor allem Demokratie und Menschenrechte, Rechtsstaat und liberale
Bürgerrechte. Das möchte man zwar „im Prinzip“ auch, aber „selbstbestimmt“, auf
„russische“ Weise.

 

Dieses Dilemma, wie das bei echten Dilemmas
eben ist, lässt sich nicht „lösen“. Es muss ausgelebt werden und sich
möglicher- und hoffentlicherweise irgendwann einmal überleben (wobei dieses
„überlebt haben“ den dann Lebenden erst im Rückblick klar werden wird). Ein
schönes, wenn vorgehalten im heutigen Russland aber auch abschreckendes Beispiel
ist Deutschlands „langer Weg nach Westen“. Noch vor knapp 100 Jahren, während
des Ersten Weltkriegs wetterte Thomas Mann in seinen „Betrachtungen eines
Unpolitischen“ gegen die „Zivilisationsliteraten“ gegen „deutsche Sapadniki“
als Totengräber der deutschen Identität, die es gegen den krämerischen Westen
zu verteidigen gelte.

 


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