Eine und eine dreiviertel Stunde redete Präsident Dmitrij Medwedjew heute vor beiden Parlamentskammern und anderen Autoritäten der russischen Gesellschaft im Kreml zur Lage der Nation. Nach seinem Gastbeitrag „Vorwärts Russland“ in der oppositionellen Internetzeitung Gazeta.Ru von Mitte Oktober mit ihrer harschen Rundumkritik der Zustände im Land waren die Erwartungen zwar nicht hoch, aber es gab immerhin ein paar. Doch Medwedjew enttäuschte. Die Rede war nicht Fisch, nicht Fleisch. Der Jung-Präsident kann entweder nicht, will nicht oder darf nicht. So richtig zu entscheiden ist das auch nach dieser Rede nicht.
Dabei begann Medwedjew durchaus vielversprechend. Er nannte die Sowjetunion „totalitär“ und einen „industriellen Rohstoffgiganten“, der die Konkurrenz mit den postmodernen Gesellschaften des Westens nicht habe aushalten können und deshalb (gerechtfertigter Weise, muss man annehmen) untergegangen sei. Russland sei heute ein Land, das in die arbeitsteilige Welt eingebunden sei und das sich pragmatische (also keine ideologischen) Ziele setzen müsse. Außerdem solle man aufhören, die Schuldigen immer im Ausland zu suchen. Leider, so Medwedjew weiter, habe das Land die Zeit des hohen Ölpreises nicht zur durchgreifenden Modernisierung genutzt. Im Gegenteil hätten die hohen Preise bei zu vielen den Eindruck erzeugt, man könne mit den Reformen noch ein wenig warten. Das sei ein Fehler gewesen und nun sei es höchste Zeit.
Soweit konnten wohl auch die schärfsten Kritiker der gegenwärtigen politischen Führung Medwedjew zustimmen. Doch wer nun erwartete oder auch nur hoffte, Medwedjew werde Änderungen am politischen System fordern, wurde enttäuscht. Die vorgeschlagenen und mit großer Detailversessenheit vorgeschlagenen Maßnahmen trugen überwiegend technischen Charakter. Es ging um die technologische Entwicklung des Landes, Medizin und Energieeffizienz, um Stromzähler und Energiesparlampen. Als besonderes Bonbon schlug Medwedjew vor, die elf russischen Zeitzonen wg. Ineffektivität zu reduzieren, nach dem Motto sieben oder acht täten es ja auch. Der überbordenden Korruption möchte er mittels „elektronischer Verwaltung“ Herr werden.
Wie schon früher forderte Medwedjew wenig originell (wenn auch wohl richtig) weniger Staat in der Wirtschaft. Insbesondere die großen Staatskorporationen müssten aufgelöst und privatisiert oder, wo das nicht möglich, in Aktiengesellschaften in Staatsbesitz umgewandelt werden.
Nach dem Wirtschaftsblock ging Medwedjew zur Gesellschaft über und widmete der Schulreform eine ganze Viertelstunde, den „wir selbst müssen uns ändern“. Auch die Zivilgesellschaft blieb nicht unerwähnt. Medwedjew schlug vor das „Institut sozial orientierter gesellschaftlicher Organisationen“ zu schaffen. Gemeint ist wohl etwas Ähnliches wie die deutsche Gemeinnützigkeit, denn diese Organisationen sollen von Steuerzahlungen befreit werden. Allerdings soll das nur für bestimmte Bereiche gelten: Soziale Fürsorge, Gesundheit, Behindertenbetreuung und Sport. Außerdem erwähnte Medwedjew noch „juristische Hilfe“ als fördernswert. Ob darunter auch die Arbeit von Menschenrechtsgruppen fallen soll, ist mir nicht klar geworden, aber wohl zu bezeifeln.
Nach der Gesellschaft ging es ans Eingemachte, an das politische System. Medwedjew lobte die politischen Parteien, die heute viel verantwortlicher seien als früher (bei angesichts systematischer Parteienvernichtung in den vergangenen Jahren lediglich sieben übrig gebliebenen Parteien ist das auch kein Wunder). Seine Vorschläge für Veränderungen fingen mit dem Apell zur „Demokratisierung der Regionen“ an und hörten mit ihnen auch schon wieder auf. So soll bei Wahlen zu Regionalparlamenten künftig maximal eine Fünf-Prozent-Hürde gelten und auch keine Unterschriftensammlungen durch die nciht in der Duma vertretenen Parteien (drei von sieben) mehr notwendig sein, um zur Wahl überhaupt zugelassen zu werden. Für eine nicht näher bestimmte Zukunft stellte Medwedjew diese Erleichterung auch für die Dumawahlen in Aussicht. Ehrlich wie der Mann ist, lieferte es auch gleich die Begründung für solcherart bisher unbekannte Großzügigkeit: Angesichts der Entwicklung des Parteiensystems (sieben!) und der ohnehin hohen Hürden, eine Partei überhaupt zu gründen (nur mit des Kremls ausdrücklicher Erlaubnis!) gebe es von dieser Seite keine Gefahr „unverantwortlichen“ Handelns. Schöner kann man fast nicht mehr ausdrücken, alles unter Kontrolle zu haben. Das ist wie bei einem jungen Hund, der erst von der Leine gelassen wird, wenn er auf „Sitz“ und „Platz“ zuverlässig hört.
Am Ende sprach Medwedjew noch über den Nordkaukasus und schob einen Großteil der Probleme auf die katastrophale soziale und wirtschaftliche Lage in der Region. Die Worte über Außenpolitik wirkten zum Schluss lustlos und diensteifrig: Ein bisschen über die neue multipolare Welt der G20, ein bisschen über das von ihm vorgeschlagen „neue Sicherheitssystem“ in Europa, das, wenn es denn im Vorjahr schon existiert hätte, Georgien von seinem „frechen Überfall“ auf Südossetien abgehalten hätte. Russland habe nichts gegen die NATO, werde aber auch nicht in die NATO eintreten.
Ganz zum Schluss versuchte sich Medwedjew noch einmal als Putin, indem er entschlossenen Gesichts drohte, man werde es denjenigen zeigen, die „uns daran zu hindern versuchen, unsere Ziele zu erreichen“. Über diesen Ausbruch war dann wohl auch der Redner selbst so erschrocken, dass sie im Redeprotokoll auf der offiziellen Präsidentenwebsite (auf Russisch) nicht mehr vorkommen.