Montag vor einer Woche, abends im
Lew-Kopelew-Forum in Köln. Tag zwei nach der putinsch-medwedjewschen
Rochadeankündigung. Arsenij Roginskij und Jelena Schemkowa von Memorial und ich
waren eingeladen, „aus Moskau“ zu berichten. Elisabeth Weber moderierte. Wir
drei gaben unserer Verwunderung Ausdruck.
Wir – und mit uns, soweit ich das übersehen
kann, alle sich professionell mit russischer Politik Beschäftigenden in
Russland und in aller Welt – hatten es für möglich bis durchaus wahrscheinlich gehalten, dass Putin 2012 in den Kreml zurück kehrt. Doch dann würde für
Medwedjew ein warmes Plätzchen nicht ganz so im Machtzentrum gefunden. Der am
häufigsten geäußerte Tipp war der Vorsitz des Verfassungsgerichts.
Praktischerweise wird der im kommenden Februar frei und Medwedjew ist Jurist.
Oder, so das zweite in Erwägung gezogene
Szenarium, Medwedjew bleibt Präsident. Da Putin aber sichtbar das Premiersein
satt hatte, müsste in diesem Fall ein anderer Platz für den Mann mit der Macht
gefunden werden. Einer, in dem er die wichtigsten Fäden weiter ziehen können
würde und vor allem zu verhindern wüsste, dass er und die Seinen von den
Fleischtöpfen vertrieben würden. Was oder wo das sein könnte, blieb meist im
Ungefähren und oft wusste man es nur durch Vergleiche zu beschreiben: So wie
Deng Xiao Ping seinerzeit in China zum Beispiel. Oder eine Art iranischer
„Wächterrat“. Oder eine wie auch immer geartete Aufwertung und
Institutionalisierung von Putins Stellung als „nationaler Führer“, zu dem die
Kremlpartei Einiges Russland ihn zu den Wahlen vor vier Jahren ausgerufen
hatte.
Aber der schnöde Ämtertausch wurde nicht
diskutiert. Doch das erklärt die (unsere) Überraschung nicht ganz, und schon
gar nicht eine eher stille (leider!) Wut, die allenthalben zu spüren ist. Eine
Wut, die oft sehr ohnmächtig daher kommt, wenn politisch aktive Menschen
anfangen nachzurechnen, wie alt sie 2024 sein werden (dann würde eine im ersten
Schreck sehr wahrscheinlich erscheinende zweite Amtszeit Putins ende – die vierte insgesamt oder gar die fünfte, wenn
man, was nun oft geschieht, auch Medwedjews Amtszeit als „eigentlich
putinsche“ wertet).
Eine Erklärung für die Wut könnte sein, dass
Putin diesmal überzogen hat (was wohl letztlich erst die Zeit zeigen wird).
Damit meine ich nicht seine Entscheidung, wieder Präsident werden zu wollen.
Das war erwartet worden. Es war die Art, wie Medwedjew gezwungen wurde seine
eigene Erniedrigung zu verkünden. Wobei Erniedrigung ein wahrscheinlich viel zu
weiches Wort ist. Seine endgültige Vernichtung als selbstständiger Mensch.
Auch das allein wäre wohl noch von vielen als
normal hingenommen worden, gehört es doch zum unschönen russischen
Politikalltag, dass Untergebene und Unterlegene öffentlich erniedrigt werden, um auch allen
klar zu machen, wer Chef im Ring ist. Das hat etwas sehr Archaisches, passt
aber offenbar gut zu Putins Machoimage, das vielen im Land gefällt.
Doch nun wurde dieses Nichts, in das sich
Medwedjew an jenem Samstag binnen weniger Minuten verwandelte auch noch zum Ministerpräsidenten
gemacht. Also zu der Person, die das Land laut Verfassung ökonomisch führen
soll. Und dann verkündete Medwedjew auch noch, was alle wissen, was man so aber
selbst in Russland nicht sagen darf. Er sagte in den affirmativen Beifall der zu
tausenden versammelten Claqueure hinein, er entnehme diesem Beifall das recht, diese Entscheidung nicht begründen zu müssen (auch wenn er einige Tage später ein nichts sagendes und nichts erklärendes Interview mit den Chefs der drei führenden landesweiten Fernsehkanäle nachschob).
Um noch einmal auf die Wut zurück zu kommen:
Bisher war sie weitgehend von einem sehr verbreiteten und bewusst von oben
geschürten allgemeinen Zynismus verdeckt (der nicht nur das eigene Land
einschließt, sondern auch alle möglichen Alternativen). Nun ist der Zynismus
der Rotationsmaschine aber so groß geworden, dass dagegen (hoffentlich) bald
kein Zynismus mehr hilft.
Es könnte also (zu hoffen) sein, dass Putin
diesmal einen Fehler gemacht hat. Das wäre nicht neu. Sein Handeln war immer
weit mehr von Taktik als Strategie geprägt. Er neigt meist dazu Probleme
kurzfristig zu lösen. Das ist aus Machterhaltungsgesichtspunkten wohl auch
richtig. „Richtige“, strategische Entscheidungen, also Entscheidungen, die
Probleme eines Gemeinwesens lösen, richten sich oft gegen die Entscheider. Das
mag in demokratischen Gesellschaften hinnehmbar sein (wenn auch zumindest narzisstisch
höchst kränkend), in autoritären Staaten ist es der (politische, damit meist
auch ökonomische und folgend oft strafrechtliche, manchmal auch physische) Tod.
Das wäre eine Erklärung.
Eine andere Erklärung wäre ganz banale Hybris.
Niemand zweifelt ernsthaft daran, dass Putin die Macht hat, diese Entscheidung
zu treffen – und durchzusetzen und noch, zumindest eine Weile, politisch zu
überleben. Er wohl auch nicht. Da könnte bei der Entscheidung der mögliche
Ingroupärger über und durch einen ausgebooteten Medwedjew als potentiell
gefährlicher bewertet worden sein, denn die jetzt aufkommende kalte öffentliche
Wut. Zumal Putins Erfahrung zeigt, dass sich das bisher immer wieder gegeben
hat. Wer weiß das schon?
Immerhin zwei negative Folgen dieser
Entscheidung kennen wir schon (wenn auch nicht ihre mittel- bis langfristigen
Auswirkungen): die Vernichtung Medwedjews (aus irgendwelchen Gründen,
wahrscheinlich überschießende Phantasie, wollen meine Finger immer wieder „Kastrierung“
tippen – das muss verdrängter Sexismus sein) und der öffentliche, protestierende
Abgang von Finanzminister Kudrin. Beide haben miteinander zu tun und vielleicht
war gar Kudrins Abtritt schon eine ungeplante (Teil-)Folge von Medwedjews Erniedrigung.
Zumindest hätte Medwejew vor der Rotationsankündigung
souveräner auf Kudrins Ankündigung unter ihm als Premierminister wegen
prinzipieller Meinungsverschiedenheiten nicht weiter Finanzminister bleiben zu
wollen reagieren können. Die Betonung liegt selbstverständlich auf „können“. So,
als „Zwerg“ (übrigens nicht nur wegen seiner Körpergröße schon länger ein
volkstümlicher Spitznahme), konnte Medwedjew sich solch eine Demarche nicht gefallen
lassen, wollte er sich auch nur noch geringste Autorität für die verbliebenen
Amtsmonate erhalten.
Doch warum hat Kudrin Harakiri begangen? Ich
lasse einmal außer Acht, er habe meinen können, damit durchzukommen. Die
meistgegebene Antwort lautet Enttäuschung. In beiden ganz am Anfang
geschilderten Szenarien (Putin wird Präsident, Medwedjew bekommt einen
Ruheposten; Medwedjew bleibt Präsident, Putin wird „nationaler Führer“ ohne
formales Amt) galt Kurdin als aussichtsreicher Anwärter für den Premiersposten,
zumindest aber für eine erhebliche Ausweitung seiner Kompetenzen. Andere
verweisen darauf, Kudrin habe schon lange gehen wollen, und nun endlich einen geeigneten
Anlass gefunden, das unter Aufwertung seines Images zu tun. Eine dritte
Erklärung nimmt Kudrins Begründung ernst, es seien die „prinzipiellen
Meinungsverschiedenheiten“ mit Medwedjew, die ihn zu diesem Schritt bewogen
hätten.
Alle drei Erklärungen überzeugen mich einzeln nicht,
geben zusammen genommen aber einen Hinweis. Die Rückkehr Putins in den Kreml und die
Rotation Medwedjews in die Regierung zeigen endgültig, dass unter diesem Regime
eine wirkliche Modernisierung Russlands nicht stattfinden wird. Der ökonomisch
unbedarfte Medwedjew bekommt die Zuständigkeit für eine Wirtschaft, die Putin
in die Ecke getrieben hat. Es kann gut sein, dass seine künftige Rolle Sündenbock
heißt.
Die Perspektive darauf aber dürfte Kudrins,
immerhin durchaus eines (im russischen Maßstab) Liberalen, innere und äußere
Legitimierung, diesem Regime zu dienen endgültig ad absurdum geführt haben. Denn
das ist die Meistererzählung der seltsamen Verbindung vieler
(Wirtschafts-)Liberaler mit Putin (und den Sicherheitsdiensten): Erst hilft man
mit ökonomischem Know How, den Staat wieder handlungsfähig zu machen, und dann
folgt die Modernisierung (die aus liberaler Sicht zum Erfolg notwendig auch
eine politisch-demokratische Öffnung beinhalten muss). Das ist nun endgültig
aus. Ob diese (auch von mir vertretene) These stimmt, dass Modernisierung ohne
Demokratisierung misslingen wird, werden wir sehen.
Um dieses etwas längere Stück auf einen kurzen Nenner zu bringen: Am Samstag vor einer Woche wurde uns versprochen, dass es nicht langweilig werden wird. Ob sich die Versprecher das auch so gedacht haben?