Wie tief die weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise ist, kam in Russland noch langsamer an als sonst wo. Das hat vor allem zwei Gründe. Während Mitte September die Investment Bank Lehman Brothers pleite ging und eine verheerende Kettenreaktion auslöste, suhlte sich Russland noch in der Euphorie des Sieges im Georgienkrieg. Erstmals seit Ende des Kalten Kriegs vor knapp 20 Jahren hatte es Russland, so die fast einhellige Meinung bei Führung und Volk, dem Westen insgesamt, in erster Linie aber den USA endlich einmal wieder so richtig gezeigt. Das tat sehr wohl. Auf dieser Euphoriewelle schwimmend konnte der Kreml sich selbst und das Land in der Illusion wiegen, die Finanzkrise sei eine Krise des alternden Westens, dessen Herrschaft über die Welt zu Ende gehe, und werde das besser gerüstete Russland nur am Rande berühren. Das von vielen, auch im Westen, geglaubte Umlügen Russlands von einem zerfallenden Imperium mit maroder Wirtschaft in ein Mitglied im Klub der aufstrebenden, jungen Schwellenmächte ist vielleicht die größte politische Leistung Wladimir Putins.
Natürlich gab es auch in Russland von Anfang an warnende Stimmen, vor allem von unabhängigen Wirtschaftswissenschaftlern, aber auch aus dem Wirtschaftsblock der Regierung. Doch grundsätzlich herrschte und herrscht teilweise auch heute noch die Überzeugung vor, Russland werde aus der Krise dem Westen gegenüber relativ gestärkt hervorgehen. Vor allem die ja nicht grundlose Annahme, die niedrigen Rohstoffpreise seien nicht von Dauer, speist diese Sichtweise. Auch das Krisenmanagement der russischen Regierung, in der sich bisher die eher marktorientierten gegen die eher staatsmonopolistisch denkenden Kräfte durchgesetzt haben, ist durchaus erfolgreich. Der drohende Zusammenbruch des äußerst schmalbrüstigen russischen Bankensystems konnte verhindert werden. Die politische heikle Frage, wie mit dem Abwertungsdruck des Rubels umzugehen sei, nachdem jahrelang vom Kreml ein starker Rubel als Symbol für neue russische Stärke ausgegeben worden war, wurde durchaus sinnvoll gelöst. Nach vergeblichen, mehrere Dutzend Milliarden US-Dollar teuren Versuchen der Zentralbank, den Rubelkurs zu stützen, darf er nun langsam, aber stetig sinken. Auch die Liquidität vieler hoch im Ausland verschuldeter russischer Industrieunternehmen wird durch Rückgriff auf den in den vergangenen Jahren aufgebauten Stabilitätsfond gesichert.
Hier beginnen allerdings schon die spezifisch russischen Probleme. Während im Westen 80 und mehr Prozent der staatlichen Kreditgarantien den Banken zu gute kommen und damit zur Aufrechterhaltung des Finanzsystems eingesetzt werden, gelten in Russland andere Prioritäten. Nur 15 Prozent der Staatsgarantien bekommen Banken, 80 Prozent gehen direkt an große, als „strategisch wichtig“ eingestufte Industrieunternehmen. Dieses Ungleichgewicht ist leicht erklärt: In Russland regieren, nach einem Diktum von Dmitrij Trenin, „dieselben Menschen das Land, die es auch besitzen“. Wer oder was mit wieviel Geld gerettet wird entscheiden also diejenigen, die direkt davon profitieren. Entweder, weil sie Besitzer der Unternehmen sind, oder weil sie aufgrund ihrer politischen Macht über sie verfügen können. Und diese Verfügungsgewalt sichert umgekehrt wiederum eben diese politische Macht. Man kann mit einigem Recht vermuten, dass so die Wahrscheinlichkeit effektiver und für das Ganze sinnvoller Entscheidungen erheblich kleiner wird.
Dieser unmittelbare Zusammenhang zwischen wirtschaftlicher und politischer Macht, viel direkter als im deshalb oft gescholtenen Westen, erklärt die große Nervosität, die sich langsam in der politischen Elite des Landes breit macht. Nun rächen sich die vor allem in der zweiten Amtsperiode Putins versäumten oder gescheiterten Reformversuchen. Die russische Wirtschaft ist nach Aussagen liberaler Wirtschaftswissenschaftler heute in einem primitiveren Zustand als zum Ende der Sowjetunion. Das gute Leben vom Cash-Flow während der Rohstoffhausse schlägt zurück. Über Jahre wurden politische, soziale und wirtschaftliche Probleme buchstäblich unter großen Geldhaufen begraben. Nun kommen sie, vorerst noch langsam, wieder zum Vorschein. Und das Land ist darauf nicht vorbereitet. Während Barack Obama die Präsidentenwahlen in den USA mit dem Versprechen „change“ gewonnen hat, haben Putin und Medwedjew bei den Wahlen im vergangenen Frühjahr das Gegenteil, gleichsam „no change“ versprochen. Nichts sollte sich ändern. Es sollte immer weiter bergauf gehen. Das Zauberwort ist „Stabilität“. Nun ist diese Stabilität, die die enorme Zustimmung zu Putin wesentlich erzeugt, gefährdet.
Wie geht es weiter? Offensichtlich hat sich der Kreml entschlossen mit den Wölfen zu heulen. Das ist gut, solange international weiter gemeinsam versucht wird, der Krise Herr zu werden, weil sich dann wohl auch Russland anschließen wird. Damit würde mittelfristig eine Öffnung der russischen Wirtschaft und damit auch des politischen Systems zumindest nicht ausgeschlossen. Die teils schrille Rhetorik von der belagerten, von äußeren Feinden umzingelten Festung, die Wehrhaftigkeit nach Außen und Innen notwendig mache, ist in den vergangenen Wochen leiser geworden. Zwar betonen Putin und Medwedjew immer wieder, dass die Krise ihren Anfang in den USA genommen hat, aber gleichzeitig erklären sie auch, dass sie nur gemeinsam überwunden werden kann. Deshalb darf auch in der Außen- und Sicherheitspolitik trotz Georgien und der US-amerikanischen Raketenabwehr auf ein wenig Entspannung zwischen Russland und dem Westen gehofft werden.
Doch natürlich kann auch alles viel schlechter kommen. Sollten weltweit nationale, protektionistische Rettungsversuche überhand nehmen oder sollte sich die Krise in Russland so verschärfen, dass es zu sozialen Unruhen kommt, kann alles sehr schnell wieder kippen. Zuletzt hat der Georgienkrieg gezeigt, wie einfach und erfolgreich der Kreml heute in Russland mit Feind- und Kriegspropaganda politische Zustimmung erzeugen kann.
Jens Siegert, Moskau, 16.12.08