Eigentlich fing alles ganz harmlos an. Der russische Regisseur Alexej Utschitel drehte einen Film über den letzten russischen Zar Nikolaj II. (gespielt übrigens vom deutschen Schauspieler Lars Eidinger) und seine, so muss man wohl sagen, Jugendliebe, die Primaballerina Matilda Kschesinskaja. Eine wirklich romantische Geschichte, musste der Thronerbe Nikolaj doch statt Matilda die standesgemäße Alix von Hessen-Darmstadt heiraten, die damit als Alexandra Fjodorowna letzte Kaiserin von Russland wurde.
Dieser romantischen, also sehr menschlichen Sicht auf Nikolaj II. konnte sich offenbar auch das russische Kulturministerium anschließen. Jedenfalls förderte es den Film mit umgerechnet rund 7 Millionen Euro, einem knappen Drittel des Gesamtbudgets. Die freizügige Förderung mag auch mit dem Regisseur zu tun gehabt haben. Alexej Utschitel ist bisher politisch nicht weiter aufgefallen. Freundlicherweise könnte man sagen, er halte sich öffentlich zurück. Eines ist er jedenfalls sicher nicht: ein Oppositioneller. Eher schon (und etwas weniger freundlich) könnt man ihn als Opportunisten bezeichnen. Nach der Krim-Annexion hat Utschitel, der politisch unauffällige, zusammen mit 99 anderen russischen Kulturschaffenden einen offenen Brief unterzeichnet, der Putin für diesen Schritt lobt. So weit, so gut.
Anfang dieses Jahres aber, ein gutes halbes Jahr vor dem Kinostart, begann die Dumaabgeordnete Natalja Poklonskaja ihren öffentlichen, so muss man es wohl nennen, Kreuzzug. Der Film beschädige das Ansehen eines Heiligen (der von den Bolschewiki im Sommer 1918 zusammen mit seiner Familie ermordete Nikolaj ist von der russisch-orthodoxen Kirche zum Märtyrer erklärt und in den Heiligenstand erhoben worden) und müsse daher verboten werden, forderte die ehemalige Staatsanwältin der Krim und schickte, Kraft ihres Amtes, auch gleich eine Beschwerde an ihre ehemaligen Kollegen von der Generalstaatsanwaltschaft. Poklonskaja war nach der Krimannexion so etwas wie das schöne Gesicht der neuen Damen und (vor allem) Herren auf der Schwarzmeerhalbinsel. Vor einem Jahr wurde sie über die Liste der Kremlpartei Einiges Russland ins Moskauer Parlament gewählt.
Nun ist Natalja Poklonskaja zwar Abgeordnete, aber kaum jemand würde sie als besonders einflussreich oder gar mächtig bezeichnen. Bis zum Jahresbeginn wurde sie eher in die gleiche Kategorie angeordnet wie andere Abgeordnete, die nach Schauspiel- oder Sportkarriere als populäre Aushängeschilder des politischen Systems herhalten, aber ansonsten meist nicht weiter auffallen. Entsprechend wirkten Poklonskajas Forderungen anfangs eher wie eine „Buffonade“, also eine Art Slapstick-Komödie, wie der Publizist Kirill Rogow schreibt. Doch schon wenig später bekam die Abgeordnete Unterstützung. Zuerst durch eine Gruppe namens Sorok Sorokow. Das ist eine Art selbsternannte, russisch-orthodoxe Sturmtruppe, die sich gegründet hat, um das kirchliche „Programm der 200 Kirchen“ in Moskau „zu schützen“. Sorok-Sorokow-Aktivisten bedrängten anfangs vor allem Anwohner, die dagegen protestierten, dass in einem nahegelegenen Park oder anstelle eines Kinderspielplatzes eine Kirche gebaut werden sollte. Die Schlägertruppe war aber auch auf dem Maidan in Kiew aktiv (auf Seiten der Regierung Janukowitsch, versteht sich) und unterstützte Igor Strelkow, einen der Anführer des Kriegs gegen die Ostukraine.
Im Sommer dann aber spitzte sich die Auseinandersetzung zu. Eine traditionelle Kreuzprozession in St. Petersburg Mitte September, die alljährlich zu Ehren der Umbettung der Gebeine des heiligen Fürsten Alexander Newskij abgehalten wird (der hatte den Deutschritterorden 1242 in der Schlacht auf dem Peipussee geschlagen), wurde von radikal-orthodoxen Aktivisten gleichsam gekapert. Sie liefen der Prozession mit Transparenten voran, die ein Verbot des Films „Matilda“ forderten. „Die Ehre des Herrschers ist die Ehre des russischen Volkes“ und „Matilda ist eine Ohrfeige für das russische Volk“ stand da zum Beispiel geschrieben. Andererseits trifft es das Verb „kapern“ hier wohl nicht ganz. Denn der Umstand, dass die Polizei nicht eingriff und sich auch die veranstaltende Russische Orthodoxe Kirche nicht von dieser Aktion distanzierte, wurde allgemein als Zustimmung von oben betrachtet.
Dann kam es noch schlimmer. In der Uralmetropole Jekaterinburg steuerte ein sich selbst so nennender „orthodoxer Aktivist“ ein mit Sprengstoff beladenes Fahrzeug in ein Kinotheater. Die Explosion zerstörte das Foyer. In Moskau wurden kurze Zeit später mehrere Autos vor dem Büro der Anwaltsfirma in Brand gesteckt, die Regisseur Utschitel vertritt (übrigens gehörten die Autos Leuten, die weder mit dem Anwaltsbüro noch mit Utschitel irgendetwas zu tun haben). Nur durch Zufall und zum Glück kamen in beiden Fällen keine Menschen zu Schaden.
Der politische Beobachter Alexander Baunow vom Moskauer Carnegie-Zentrum nennt diese Anschläge die ersten religiös motivierten in Russland, die keinen islamistischen Hintergrund haben. Das sei eine neue Qualität. Die national-orthodoxe Ideologisierung der russischen Gesellschaft von oben habe seine eigenen Ungeheuer von unten geschaffen.
Allerdings zeigte sich auch, dass die nationalistischen staatlichen Reihen selbst nicht so geschlossen sind, wie es bisher oft schien. Kulturminister Wladimir Medinskij, ansonsten einer der Anheizer gegen alles, was sich als „westlich“ oder „liberal“ denunzieren lässt, verteidigte den Film gegen die Angriffe von Natalja Poklonskaja. Das mochte wohl auch an der finanziellen Förderung durch sein Ministerium liegen. Medinskij ist zudem seit Monaten anderweitig unter Druck. Die staatliche Promotionskommission WAK (russ.: „Wysschaja Attestazionnaja Komissija“) prüft gerade, ob seine Dissertation auch tatsächlich den Doktorgrad wert ist. Eine entsprechende Kommission seiner Universität hatte der Arbeit vorige Woche die Wissenschaftlichkeit aberkannt. Die Zeitung „Nowaja Gaseta“ fand diese Woche heraus, dass zwei der drei Professoren, die als Opponenten bei der Verteidigung der Promotionsschrift mitgewirkt haben sollen, das abstreiten. Der dritte potentielle Opponent ist inzwischen verstorben.
Zwischenzeitlich haben sich auch andere Parlamentarier des Films angenommen. Der für Kultur zuständige Ausschuss der Staatsduma schaute sich den Film in einer geschlossenen Vorstellung an. Der Ausschussvorsitzende Stanislaw Goworuchin, selbst im Vorberuf Regisseur, kam danach zu dem Schluss, es gebe an dem Film nichts auszusetzen. Das ist vor allem deshalb bemerkenswert, weil Goworuchin keinerlei „liberaler“ Vorlieben verdächtig ist. Mehr noch: Bei allen bisherigen Wahlen war er ein Vertrauensmann von Präsident Putin. Vor den Wahlen 2012 leitete er sogar dessen Wahlkampfstab.
All das deutet auf zweierlei hin: Zum einen, dass diese Kampagne ursprünglich nicht von oben geplant wurde. Und zum zweiten, dass es bis heute dazu im Kreml unterschiedliche Ansichten gibt. Ich will im Folgenden versuchen, diese beiden Linien kurz nachzuzeichnen.
Die immer radikalere Ideologisierung der russischen Innenpolitik und die Entkernung der meisten staatlichen Institutionen zugunsten einer immer direkteren Herrschaft Wladimir Putins haben unterschiedliche, sich aber gegenseitig verstärkende Folgen. Zum einen verliert Putin zunehmend die Kontrolle darüber, wo die Grenzen des von ihm seit einigen Jahren protegierten und orthodox gefärbten Nationalpatriotismus liegen. Zwar strengt sich der Kreml von Zeit zu Zeit an, auch hier Grenzen zu ziehen. Webseiten werden verboten oder die Förderung für zu weit vorpreschende Vorfeldorganisationen wie zum Beispiel die Biker der „Nachtwölfe“ oder die sogenannte „Nationale Befreiungsbewegung“ (NOD) (die er vorher gepäppelt und mit Putins öffentlicher Aufmerksamkeit und Zustimmung bedacht hatte) gekürzt. Aber Eigeninitiative, die sich auf die staatliche Ideologie bezieht und sie (mitunter mit sehr viel Eigensinn) interpretiert, ist immer schwieriger zu stoppen. Da Putin seine Ideologie immer nur andeutet, gibt es, im großen Unterschied zur Sowjetunion, heute keinen Katechismus, auf den sich Anhänger beziehen könnten. Interpretation ist also keine Wahl, sondern ein Muss.
Zwar hätte Putin ohne Frage die Macht, die kleine Abgeordnete Poklonskaja zu stoppen. Das zunehmende fehlen von Checks und Balances führt aber, wie Alexander Baunow richtig schreibt, zu einem systemischen Problem. Am Anfang war Poklonskajas Initiative viel zu unbedeutend, als dass sich der über den Dingen stehende Präsident damit selbst hätte beschäftigen können. Vielleicht wurde sie im Kreml auch gutgeheißen. Nur haben solche Dinge, wie der Fall Matilda zeigt, mitunter die Angewohnheit, schnell zu wachsen. Wenn sie dann so groß sind, wie der Skandal um „Matilda“ heute, sind die Kosten, sie zu stoppen, meist schon sehr viel höher. Auch reichen dann die Interventionen von Gehilfen des obersten Herrn oft nicht aus. Im Fall Matilda müsste Putin schon längst persönlich und wohl auch öffentlich eingreifen, um die Lawine zu stoppen. Doch das ginge inzwischen wohl kaum mehr, ohne dass dies als ideologische Korrektur zugunsten einer liberaleren, weniger auf Konfrontation mit dem Westen angelegten politischen Linie interpretiert werden würde (und wohl auf dem national-patriotischen Flügel entsprechende Gegenwehr provozierte).
Damit kommen wir zur zweiten Linie. Die Auseinandersetzung um den Film „Matilda“ lässt sich durchaus auch, wie das zum Beispiel Kirill Rogow tut, als Auseinandersetzung um die generelle politische Linie der nächsten Präsidentschaft Putins interpretieren. Dieser Lesart zufolge strebt Sergej Kirijenko, der Leiter der Präsidentenadministration, mit seinen Gefolgsleuten und Verbündeten eine Art „aufgeklärten Autoritarismus“ als Leitlinie an (auch, um die dringend nötige wirtschaftliche Modernisierung endlich auf den Weg zu bringen). Dagegen steht die mitunter so genannte „orthodoxe Partei“ im Kreml, der viele Leute aus den Sicherheitsapparaten, aber auch der immer wieder als Beichtvater von Putin genannte Bischof Tichon Schewkunow zugerechnet werden. Ihr Ziel könnte man analog einen „unaufgeklärten Autoritarismus“ nennen. Diese Gruppe kämpft, so könnte man zugespitzt sagen, um Putins Seele. Vielleicht auch nur um seine politische Zustimmung.
Folgt man dieser Interpretation, ist die Auseinandersetzung um den Film nur ein (kleiner) Teil eines viel größeren Kampfes. Eines Kampfes allerdings – hier trifft sich die zweite Linie mit der oben beschriebenen ersten –, bei dem es um die grundsätzliche ideologische Ausrichtung des Landes geht (oder zumindest der von Putins Herrschaft). Nach Meinung des meist ausgezeichnet informierten Chefredakteurs des Radiosenders Echo Moskaus Alexej Wenediktow, steht Schewkunow sowohl hinter dem Skandal um die Rückgabe der St. Petersburger Isaakskathedrale an die Russische Orthodoxe Kirche als auch der Verhaftung des Moskauer Theaterleiters und Regisseurs Kirill Serebennikow (siehe dazu auch hier).
Ziel der unaufgeklärten Gruppe könnte es demnach sein, vor der Wahl im März die Überführung der Gebeine Nikolaus II. aus der Peter-und-Pauls-Kathedrale in die Isaakskathedrale zu zelebrieren. Dadurch würde der Mythos des „Heiligen Russland“ – im Gegensatz zu einem liberal-profanen Russland – erneuert und hervorgehoben. Das Überführen der Gebeine wäre dann der Kulminationspunkt einer Inszenierung, die Putin als den Bewahrer dieser großen Tradition darstellt. In solch ein Szenarium passte ein Film über den Zaren als romantisch liebenden Menschen trotz all seiner Harmlosigkeit natürlich nicht. Was wiederum den Furor der Kampagne gegen ihn erklären würde.
Das Problem der unaufgeklärten Gruppe ist, dass Russland, trotz aller Euphorie um die Krimannexion und die gleichzeitig verschärfte ideologische Ablehnung alles Westlichen, insgesamt doch ein eher profanes Land geblieben ist. Zwar dient die Orthodoxie vielen im Land als nationales Identifikationsmerkmal (orthodox gleich ethnisch und kulturell russisch), aber es gibt trotzdem wenig Religiosität.
Die Auseinandersetzung um die ideologische Ausrichtung der Präsidentenwahlkampagne von Wladimir Putin birgt zudem ein Ringen um Antworten auf die für alle unerwartet großen Straßenproteste im Frühling. Soll diesen Leuten, darunter viele junge Menschen, ein Angebot gemacht werden (das wäre die aufgeklärte Variante) oder soll der Staat mit aller polizeilichen und ideologischen Härte zurückschlagen?
Wie dem auch sei, scheint sich in Sachen Matilda die Waagschale momentan gegen die Gegner des Films zu senken. Die Generalstaatsanwaltschaft, die von Poklonskaja über die Monate mit 43 Eingaben überschüttet wurde (sie hat als Abgeordnete das Recht zu Eingaben, die die Staatsanwaltschaft in engen Fristen untersuchen und beantworten muss), erklärte gerade diese Woche, sie habe die staatliche Finanzierung des Films überprüft und keinerlei Beanstandungen gefunden. Auch die beiden größten russischen Kinoketten „Formula Kino“ und „Cinema Park“ entschlossen sich am vergangenen Wochenende, den Film in ihren Kinos zu zeigen, nachdem sie zuvor davon abgesehen hatten, weil sie, wie sie sagten, nach den Anschlägen die Sicherheit der Kinobesucher nicht gewährleisten könnten. Als Grund für diese Meinungsänderungen gaben die Kinoketten die gute Arbeit der Strafverfolgungsbehörden an, die das Risiko inzwischen minimiert hätten. Kinostart ist nun der 26. Oktober.
Trotz allem: Die Geschichte – oder besser: der Kampf – ist noch nicht zu Ende. Der Hausarrest des Regisseurs Kirill Serebrennikow wurde diese Woche erneut verlängert und die Mitarbeiter des Kulturministeriums, die seinem Theater Fördergelder bewilligt haben, sollen von Gerichts wegen überprüft werden. Auch die Übergabe der Isaakskathedrale an die Russische Orthodoxe Kirche wird wohl in den kommenden Wochen abgeschlossen werden.