Der Streit um die Isaaks-Kathedrale in St. Petersburg

Die Isaaks-Kathedrale in St. Petersburg, ein spätklassizistischer Kuppelbau, ist neben der Peter-und-Paul-Festung und dem Winterpalast eines der Bauwerke, die das Bild der Stadt prägen. Mit einer Länge von 111 Metern, einer Breite von 97 Meter und einer Höhe von 101,50 Meter dominiert die Kirche baulich die Admiralitätsseite der Stadt. Der Durchmesser der vergoldeten Hauptkuppel beträgt 26 Meter. Da die Innenstadt von St. Petersburg von sozialistischen und postsozialistischen Hochhausbauten weitgehend verschont blieb, hat, wer den Rand der Kuppel besteigt, eine wunderbare Aussicht über die gesamte historische Stadt (das Attribut „Altstadt“ verbietet sich für St. Petersburg, da die historische Stadt fast wie aus einem Guss binnen eines guten Jahrhunderts von Mitte des 18. bis Mitte des 19. Jahrhunderts gebaut wurde und sich bis heute fast vollständig so erhalten hat).

Mit der Errichtung der heutigen Isaaks-Kathedrale wurde 1818 begonnen, als nationales Denkmal an den Sieg über Napoleon. Der Vorgängerbau, die „3. Isaaks-Kathedrale“ wurde dazu abgerissen. Erst 1858, es gab unter anderem zwei jahrelange Bauunterbrechungen wegen statischer Probleme mit dem sumpfigen Untergrund an der Newamündung, war die Kirche fertig. Nach der Oktoberrevolution wurden in der Isaaks-Kathedrale noch bis 1928 Gottesdienste abgehalten. 1931 richteten die Bolschewisten in der Kirche ein antireligiöses Museum ein. Damals wurde ein 91 Meter langes Foucaultsches Pendel in die Kuppel gehängt. Im Zweiten Weltkrieg diente die Isaaks-Kathedrale als Depot für Kunstgegenstände aus den um Leningrad liegenden Zarenresidenzen.

1942 wurden die fünf vergoldeten Kuppeln mit einem grünen Tarnanstrich überzogen. Die Kathedrale hatte dennoch erheblich unter dem deutschen Artilleriebeschuss zu leiden. Nach dem Krieg begannen aufwändige Restaurierungsarbeiten, die 1960 abgeschlossen wurden. Als in der Gorbatschow-Zeit in der Sowjetunion größere Spielräume für Religion entstanden, konnte 1990 wieder ein festlicher Gottesdienst abgehalten werden. Eine erneute Restaurierung der Kathedrale erfolgte in den Jahren 1994 bis 2003 anlässlich des 300jährigen Jubiläums der Gründung von St. Petersburg. Heute werden an hohen Feiertagen Gottesdienste gefeiert. Aber vor allem ist die Kathedrale nach wie vor ein Museum und gehört dem Staat.

Anfang dieses Jahres nun entbrannte um die Isaaks-Kathedrale ein öffentlicher, ich würde gar sagen, ein politischer Streit. Am 10. Januar verkündete der St. Petersburger Gouverneur Georgij Poltawtschenko, dass die Kathedrale der russisch-orthodoxen Kirche „zurückgegeben“ werde. Diese (selbstverständlich) ohne vorherige öffentliche Debatte getroffene Entscheidung rief schnell heftigen Protest in der Stadt hervor. Schon das ist ungewöhnlich für das heutige Russland. Noch ungewöhnlicher ist, dass dieser Streit mit einem Kompromiss zu enden scheint (freilich muss später noch darauf eingegangen werden, was dieses Wort „Kompromiss“ heute in Russland bedeutet).

Die Entscheidung des Stadtgouverneurs stützt sich auf ein 2010 verabschiedetes Gesetz, demzufolge anerkannten Religionsgemeinschaften ihre in der Sowjetzeit enteigneten Gebäude, Liegenschaften und sonstiger Besitz „auf Antrag zurück gegeben“ werden kann. Die Betonungen liegen dabei auf „Antrag“ und „kann“. Bis 2015 hatte die orthodoxe Kirche keinen Antrag gestellt. Der Staat kann die Rückgabe verweigern, wenn er dafür übergeordnete Gründe angeben kann. Wie eigentlich fast immer in solchen Fällen, blieb der Antrag öffentlich unbekannt. Häufig funktioniert derartig klandestines Vorgehen im Sinne der staatlichen Entscheider. Die Öffentlichkeit wird überrascht, der meist eher zaghafte Protest ignoriert und meist legt sich die Aufregung schnell wieder. In Fällen wie dem der Isaaks-Kathedrale hilft mitunter auch ein in der Gesellschaft weitgehend stillschweigend geteiltes Einverständnis, dass Kirchen eben zur Kirche gehören und nicht zum Staat. Doch diesmal funktionierte es nicht.

Schnell formierte sich heftiger Protest. Es gab Demonstrationen, Internet-Petitionen und auch prominente St. Petersburger wie der Regisseur Alexander Sokurow schlossen sich an. Sergej Schnurow, Frontmann der Kultband „Leningrad“ veröffentlichte auf seinem Instagram-Account ein sarkastisches Gedicht, das den Wiederaufstieg des „heiligen Russland“ aufs Korn nimmt (https://www.instagram.com/p/BQnVY1TgSfg/). Doch damit nicht genug. Auch aus dem eher kremlnahen Establishment gab es Widerspruch. Der prominenteste kam vom Direktor der Staatlichen Eremitage Michail Piotrowskij. Er rief den Patriarchen der russisch-orthodoxen Kirche Kirill Ende Januar öffentlich dazu auf, den Antrag auf „Rückgabe“ der Kathedrale zurückzuziehen, um „die Spaltung der Gesellschaft“ zu beenden (http://www.interfax.ru/russia/546991). 

Patriarch Kirill antwortete Mitte Februar mit einem Hirtenbrief (http://www.patriarchia.ru/db/text/4805764.html). Er hob die Auseinandersetzung gleich noch eine Ebene höher. Zitat: „Einst waren die Zerstörung von Kirchen und der massenhafte Mord an Gläubigen eine schreckliche Seite der nationalen Spaltung. Heute muss der Friede um die Rückgabe von Kirchen die Verkörperung von Einigkeit und gegenseitigem Verzeihen sein – von Weißen und Roten, von Gläubigen und Ungläubigen, von Reichen und Armen.“ Damit bezog sich Kirill deutlich auf die 100-jährige Wiederkehr des Revolutionsjahrs 1917. Wer gegen die Rückgabe der Isaaks-Kathedrale ist, ist auch gegen die Heilung der Wunden von damals, soll das wohl heißen.

Wer gegen die Rückgabe ist, ist damit, so muss geschlussfolgert werden, aber auch gegen Präsident Putin, der die Versöhnung zum Hauptmotiv der Erinnerung an die Revolutionen von 1917 in diesem Jahr erhoben hat. Der Kreml scheint jedoch, zumindest diesmal und in Bezug auf St. Petersburg, eine feinere Nase als der Patriarch zu haben. Am gleichen Tag, an dem der Hirtenbrief veröffentlicht wurde, erschienen in der Presse (mit Bezug auf „Quellen, die dem Kreml nahe stehen“) Meldungen, Poltawtschenko habe die Rückgabe der Isaaks-Kathedrale an die Kirche nicht mit Putin abgesprochen. Wegen der „sozialen Spannungen“, die durch die Rückgabe entstanden seien, so hieß es dort weiter, solle besser eine „gemeinsame Nutzung“ der Kathedrale durch Stadt und Kirche ins Auge gefasst werden (http://www.rbc.ru/politics/17/02/2017/58a6bcf79a79475a76c84e7f).

Nun ist es, sehr vorsichtig gesagt, unwahrscheinlich, dass Poltawtschenko eine so bedeutende Entscheidung wie die Rückgabe der Isaaks-Kathedrale an die Kirche ohne Rücksprache mit dem Kreml, ja mit Putin persönlich getroffen hat (zumal dem Präsidenten, der in Leningrad geboren und aufgewachsen ist, ein großes persönliches Interesse an den Entwicklungen in der Stadt nachgesagt wird). Der Protest in St. Petersburg hat also gewirkt. Das gilt übrigens auch dann, wenn es sich, in Russland immer gern geglaubt und möglich, um ein abgekartetes Spiel handeln sollte, wenn dieser „Kompromiss“ von Kreml und Kirche also von vornherein angestrebt, zumindest aber als Rückfallposition in Erwägung gezogen wurde. Auch in diesem Fall war es der (antizipierte) Protest, der eine vollständige Rückgabe verhindert hat.

Was macht den St. Petersburger Protest gegen die Rückgabe der Isaaks-Kathedrale nun so besonders, dass er nicht nur entstehen konnte, dass nicht nur alle wussten und davon ausgingen, dass er entstehen wird, sondern dass er auch noch, zumindest teilweise, erfolgreich sein könnte?  Die Antwort auf diese Fragen hat zumindest zwei Teile, einen direkt auf St. Petersburg bezogenen und einen, der vielleicht nicht für das ganze Land gelten mag, aber doch immerhin für einen großen Teil.

Zum St. Petersburger Teil der Antwort. Kultur, vor allem die Stadt selbst als architektonisches Ensemble, gehört zum St. Petersburger Selbstverständnis. Die Phrase von der „kulturellen Hauptstadt Russlands“ (in Abgrenzung zu Moskau) ist zwar abgenutzt, sitzt aber nichtsdestotrotz tief, nicht zuletzt, weil Moskau eben doch mit großem Abstand in fast Allem das Zentrum Russlands ist. Kultur ist wohl auch deshalb in St. Petersburg noch mehr Kultur als in Russland insgesamt. Alle Eingriffe von außen (und die Kirche dürfte hier ziemlich sicher als eine äußere Kraft aufgefasst werden) treffen auf entsprechende Abwehrreflexe. Zudem hatte der bisher letzte Sieg der St. Petersburger gegen „die da oben“, die Verhinderung eines Gasprom-Wolkenkratzers am Rande der Innenstadt, ebenfalls mit dem Anblick der Stadt, ihrem Image als einmaliges, ganzheitliches Architekturensemble zu tun. Vergangene Siege machen Mut, es wieder zu versuchen. Nichts ist halt erfolgreicher als der Erfolg. Außerdem ist heute in Russland gegen den Staat direkt kaum etwas zu gewinnen, gegen die Kirche (oder eben früher gegen Gasprom) schon. Beide sind zwar sehr eng mit dem Staat verbunden, aber eben doch nicht der Staat.

Ein zweiter Grund mag in der Person von Gouverneur Poltawtschenko liegen. Er ist grau, öffentlichkeitsscheu, hat ein eher asketisches Image und ist schlicht so unbeliebt in der Stadt, wie es ein aus Moskau (!) gesandter Kommissar nur sein kann. Da hilft es kaum, dass der Entsender, Putin, ein Sohn der Stadt ist und Poltawtschenko, als Siebenjähriger mit seiner Familie zugezogen, im Grunde auch. Aufgrund ihrer Funktionen sind sie virtuell zu Moskauern geworden. Auf solche Emigranten aus St. Petersburg kann man stolz sein, weil sie es in Moskau geschafft haben, ja die Hauptstadt sogar in gewisser Weise übernommen haben. Aber eben deshalb sollten sie sich möglichst wenig in ihrer Heimatstadt einmischen.

Hinzu kommt, als dritter Grund, das Image der orthodoxen Kirche. Zwar bezeichnen sich in Umfragen über 70 Prozent der Menschen in Russland als orthodoxe Christen, aber nur drei bis vier Prozent gehen von Zeit zu Zeit, zumindest an den großen christlichen Feiertagen, zum Gottesdienst. Gar nur etwa ein Prozent sind regelmäßige Kirchgänger. Sich zur russisch- orthodoxen Kirche zu bekennen ist viel eher die Versicherung „ich bin Russe“ als ein Glaubensbekenntnis (in diese Richtung weisen übrigens auch Untersuchungen, wie gut die Menschen die orthodoxen Glaubensmaximen kennen, nämlich nicht sehr gut; selbst viele Gläubige und sogar nicht wenige Priester offenbaren ein für die orthodoxe Hierarchie erschreckendes Niveau kanonischer Unkenntnis bis hin zu einer Nähe zu römisch-katholischen Dogmen).

Wenn es um die „Rückgabe“ von Dorfkirchen geht, ist das für die meisten Menschen in Russland in Ordnung. Sie „gehören“ für sie fraglos zur Kirche (bei allen Konflikten, die es in Einzelfällen immer wieder gibt). Etwas Anderes ist es mit einer „Staatskirche“ wie der Isaaks-Kathedrale. Sie war immer mehr ein Staatssymbol als eine Kirche für Gläubige und das Gebet. Auch juristisch ist es eine kniffelige Frage, denn das vorrevolutionäre Russische Imperium kannte keine Eigentumstrennung zwischen Staat und Kirche. Der Zar war das Oberhaupt der Kirche und die Kirche durch ihn mit dem Staat untrennbar verbunden. Was heute rechtmäßig der Kirche gehört, und was dem Staat ist also vor allem eine politische und nur zweitrangig eine juristische Frage.

Soweit St. Petersburg, nun zum Land insgesamt. Von außen sieht es oft so aus, als sei in Putin-Land alles asphaltiert und so ruhig, wie auf dem Riesenparkplatz eines Rieseneinkaufszentrums am Sonntag (wobei dieses Bild schon deshalb schief ist weil in Russland gerade an Sonntagen auf den Riesenparkplätzen von Rieseneinkaufszentren – sehr zum Zorn der orthodoxen Kirche – die Hölle los ist). Tatsächlich ist regionaler und lokaler Protest nichts Ungewöhnliches und stellt den Staat durchaus immer wieder vor Probleme. Auch ist St. Petersburg nicht widerständiger oder widersinniger als zum Beispiel Moskau oder andere russische Städte und Regionen. Jede Stadt, jede Region hat ihre besonderen Symbole, für deren Schutz (auch vor dem Staat) viele Bürger bereit sind, auf die Straße zu gehen. Ich verweise hier nur auf ein besonders anschauliches Beispiel, den Protest gegen den Bau einer Ölpipeline am Baikalsee vorbei zum Pazifischen Ozean im Fernen Osten. Ich habe diesen Protest seinerzeit in der Zeitschrift „Osteuropa“ ausführlich beschrieben (https://www.boell.de/sites/default/files/assets/boell.de/images/download_de/weltweit/baikalpipeline.pdf).

Hinzu kommt die seit Jahren schwierige wirtschaftliche Situation, die sich einfach nicht bessert. Protest gibt es an vielen Orten. Neben St. Petersburg sind das momentan (nur eine kleine, nicht repräsentative Auswahl) zum Beispiel:

  • in Wladiwostok demonstrieren Arbeiter eines Rüstungsbetriebs seit Monaten für die Auszahlung ausstehender Löhne);
  • in Moskau wurden im Januar Menschen verhaftet, die Proteste gegen den Bau einer Kirche in einem städtischen Park vor ihrer Haustür organisiert hatten;
  • in Jekaterinburg bildeten Mitte Februar Anwohner eine Menschenkette um einen Teich in der Stadt, der ebenfalls einer neuen Kirche weichen soll;
  • im Gebiet Rostow protestieren Bergarbeiter bereits seit Monaten gegen ausstehende Lohnzahlungen und gefährliche Arbeitsbedingungen in den Schächten.

Man sollte diese Proteste nicht überbewerten. Meist bleiben sie lokal. Meist sind es nicht mehr als ein paar hundert Menschen, die protestieren. Fast nie werden diese Proteste politisch, indem sie (mehr) Mitsprache oder politische Veränderungen fordern. Mein persönlicher Eindruck ist aber, dass die Zahl solcher Proteste zunimmt (ich kenne allerdings keine Untersuchungen, die das mit Zahlen belegen könnten). Sollte mein Eindruck stimmen, wäre das ein deutliches Zeichen von wachsender Unzufriedenheit unter der 85-Prozent-Zustimmung-für-Putin-und-die-Krim-Oberfläche.