Vor ziemlich genau einem Jahr habe ich in diesem Blog vorgeschlagen, den inzwischen zu einem Krieg eskalierten Konflikt zwischen Russland und der Ukraine eher als Teil des russischen Nationenwerdungsprozesses zu betrachten. Schon damals ist mir aufgefallen, dass sowohl diejenigen, die kurz und verfälschend „Russlandversteher“ genannt werden, als auch ihre Opponenten (die in der Diskussion interessanter Weise meist nicht auf einen so kurzen Begriff gebracht werden) dazu neigen, Russland als Fortsetzung, als ein wenig geschrumpfte Version der Sowjetunion anzusehen. Zwar ziehen sie unterschiedliche Schlüsse, wie damit umzugehen sei, aber sie sind sich oft darin einige, dass das Putinsche Projekt die Wiederherstellung eines russischen Imperiums ist. Ich will das an einem aktuellen (Debatten-)Beispiel erläutern.
Unlängst hat der SPD-Vorsitzende und Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel in einem Beitrag für die Zeitung „Die Welt“ plakativ gefordert, „Russland als Partner“ wieder zu gewinnen, wolle man die Russland-Ukraine-Krise lösen. Darin bezieht er sich ausdrücklich auf die Brandtsche Ostpolitik. Mit meinen Worten wiedergegeben, argumentiert Gabriel etwa so (und damit recht typisch für die, ich komme der Kürze wegen einfach nicht um den Begriff herum, „Russlandversteher“): Russland habe zwar böse Sachen gemacht, aber Frieden in Europa sei ohne Russland nicht möglich. Politik wiederum sei nun mal die Kunst des Möglichen. Und im Übrigen habe es ja auch schon einmal geklappt, das Land durch Kooperation zu einem Partner zu machen.
Nun kann man zwar durchaus darüber streiten, was denn nun das Ende der Sowjetunion und ihre freiwillige und, gemessen an der Größe der Aufgabe, erstaunlich friedliche Auflösung herbei geführt hat. Aber hier sei einmal angenommen, die Ostpolitik habe einen großen, vielleicht sogar entscheidenden Anteil daran gehabt, dass es so kam. Dann kommen bei Gabriel trotzdem zwei Dinge zu kurz.
Der wichtigste Unterschied zwischen Brandt und der heutigen (überwiegend, aber nicht nur) sozialdemokratischen Verklärung der ostpolitischen 1970er Jahre liegt darin, dass in ihr von der Brandtschen Ostpolitik nur noch ein Drittel übergeblieben ist, nämlich der Dialog. Zwei Aspekte sind weggefallen: erstens der Glaube daran, dass das westliche politische System einer liberalen, demokratisch verfassten, auf Menschenrechten und der Menschenwürde aufbauenden Gesellschaft mit einer sozialen Marktwirtschaft nicht nur ein ethischer und moralischer Imperativ ist, sondern dass es auch, auf mittlere und längere Frist den Menschen mehr Wohlstand, mehr Wohlergehen und ein besseres Leben (im umfassenden Sinn) ermöglicht; und zweitens fehlt der glaubhafte Wille, sich im Zweifelsfall gegenüber Aggressionen wie der russischen in der Ukraine auch militärisch zu verteidigen. Dieser doppelte Kleinmut ist das Putinsche Einfallstor.
Die Historikerin Anna Veronika Wendland, kritisierte Gabriel in einem langen Facebook-Beitrag, wie immer furios. Aber auch sie verwechselt das heutige Russland mit der Sowjetunion, wenn sie die heutige Konfrontation mit der damaligen gleichsetzt. Der Unterschied zu heute liegt eben nicht wesentlich darin, dass, wie sie schreibt, die Zeiten Ostpolitik „nicht die finstersten Zeiten des Kalten Kriegs“ waren. Auch die heutigen Zeiten sind weit von jenen „finstersten Zeiten“ entfernt. Es sollte nicht vergessen werden, dass Russland, trotz allem, was in den vergangenen zwei-drei Jahren passiert ist, immer noch unvergleichlich offener ist, als es die Sowjetunion jemals war (mit Ausnahme der letzte zwei, drei Jahre vielleicht, aber das war schon nicht mehr wirklich die Sowjetunion, das war schon der Übergang zu etwas Neuem).
Russland ist aber, bei allen politischen, gesellschaftlichen, ideengeschichtlichen und sonstigen Kontinuitäten, keine einfach nur kleinere Sowjetunion. Russland ist ein Nationalstaat im Werden. Das zeigt sich schon an der gerade neuen Staatsideologie. Sie hat keinen universalen Anspruch mehr. Vielmehr bezieht sie sich ausdrücklich auf eine „russische Welt“ und nutzt dazu das Adjektiv „russkij“, dass das „Russisch sein“ sprachlich, ethnisch und kulturell beschreibt, im Gegensatz zu „rossijskij“ das sich auf die Staatlichkeit bezieht und auch im Namen „Rossijskaja Federazija“ vorkommt. Womit nicht die Gefahr, die von einem russischen Nationalismus (denn darum handelt es sich) für die unmittelbaren Nachbarn ausgeht, verharmlost werden soll. Die ist, wie oft bei Nationalismen, durchaus groß und kann, wie sich momentan zeigt, sehr aggressiv sein.
Einen weiteren Hinweis darauf, dass das Putinsche Projekt kein primär imperiales, sondern in erster Linie ein nationales ist, bietet die Geschichtspolitik. Schon seit einigen Jahren gibt es den systematischen Versuch, die ja im historischen Kontext gesehen recht kurze sowjetische Geschichte, also die Geschichte des sowjetischen Imperiums in eine lange, „russische“ Geschichte einzubetten (ironischer Weise als „tausendjährige“ Geschichte, die mit dem Auftauchen der „Kiewer Rus“ Ende des 10 Jahrhunderts beginnt, als deren direkter Erbe der heutige russische Staat dargestellt wird). Dabei wird auch die Geschichte des „Russländischen Imperiums“ („Rossijskaja Imperia“, die Selbstbezeichnung Russlands seit Peter dem Großen) ent-imperialisiert.
Ich habe bereits vor einem halben Jahr in diesen Notizen darüber geschrieben, „wie Russland zum Sieger im Ersten Weltkrieg wurde“. Daran wird besonders deutlich wie durch einen Umdeutung der Geschichte (die immer als Abwehr einer „Fälschung der Geschichte“ durch andere, insbesondere „den Westen“ gerechtfertigt wird) eine besondere Rolle des National-Russischen etabliert wird.
In der sowjetischen Geschichtsschreibung war der Erste Weltkrieg ein „imperialistischer Krieg“, an dem auch das „Russische Imperium“, das die Sowjetunion dann ja durch eine Revolution überwunden hat, nicht unschuldig war. Grob gesagt, war es dieser Geschichtsdeutung nach seinerzeit das Streben aller Großmächte, die Welt unter sich aufzuteilen, ohne dass sie sich friedlich einigen konnten. So kam es zum großen Krieg, an dem alle mehr (Deutschland, Habsburg) oder weniger (Großbritannien, Frankreich, aber eben auch das zaristische, in sozialer und politischer Hinsicht „rückständige“ Russland) gleich schuldig waren.
Im kollektiven Gedächtnis in Russland war der Erste Weltkrieg bis vor Kurzen ein Neutrum. Es gab keine Veteranen, keine Heldentaten, die man hätte feiern können, weil sich die russischen Soldaten sofort nach Ende des Krieges in „Rote“ und „Weiße“ teilten. Die „Roten“ wurden Helden, die „Weißen“, die ja aber auch im Ersten Weltkrieg „für Russland“ gekämpft hatten, zu „konterrevolutionären“ Verrätern. Im vorigen Sommer begann sich das zu ändern. Präsident Putin sprach erstmals davon, dass Russland seinerzeit eigentlich zu den Siegern gehört habe. Der Sieg sei dem Land aber gestohlen worden. Im November, bei einem Treffen mit jungen Historikern ging Putin dann weiter. Es habe Verräter in den eigenen Reihen gegeben (hier schon: Liberale), die, mit ausländischer Hilfe (dieses Mal: die Briten), Russland den Sieg gestohlen hätten.
Dazu passen die schon seit längerem andauernden (und, wie Umfragen zeigen, durchaus erfolgreichen) Versuche, Stalins Image in das eines „effektiven Managers“ umzudeuten. Sie werden begleitet von einer Säuberung der Stalinzeit von allem Sowjetideologischen. Heraus kommt ein Stalin, der den russischen (!) Staat zu einem der beiden mächtigsten der Erde gemacht hat, indem er ihn erst „mit harter Hand“ modernisiert und industrialisiert und dann, im Zuge des Zweiten Weltkriegs oder, aus russischer Sicht besser des „Großen Vaterländischen Kriegs“ auch militärisch zu einer Großmacht gemacht hat. Heraus kommt eine Art Sowjetunion ohne Bolschewismus, eine Sowjetunion, die eigentlich Russland gewesen ist.
Die Kehrseite dieser „Russifizierung“ auch der sowjetischen Geschichte ist ihre, im Gegensatz zu früheren, imperialen Zeiten, Begrenzung der Reichweite. Das ist, wenn man so will, sowohl eine praktische Anpassung der neuen Staatsidee (mir scheint, der weitergehende Begriff der „Ideologie“ ist hier eine Nummer zu groß) an die geringeren Ressourcen des heutigen Russlands seinen Vorgängern gegenüber, als auch eine Anpassung der Ziele an die Staatsidee. Anders ausgedrückt beschränken sich die Ambitionen auf drei Ziele: auf die direkte Einbeziehung der „ostslawischen Welt“ in diesen Staat; einenwesentlich durch die Grenzen der Sowjetunion minus Baltikum markierten Sicherheitsraum darum herum, der als geopolitisch bevorzugte russische Einflusszone definiert und gefordert wird; und, ganz profan, aber sehr wichtig, letztendlich wohl sogar entscheidend, auf den Machterhalt im Land.
Die systematische Schwächung der EU und das (neue) Bündnis mit der (meist neuen) Anti-EU-Rechten dort lässt sich ebenfalls in Richtung Nationalstaatsbildung interpretieren. Dahinter steckt, neben dem klassischen Herrsche und Teile, das tiefe Misstrauen gegenüber nicht-imperialen multinationalen Zusammenschlüssen. Die Sowjetunion ist der in Russland vorherrschenden Meinung nach nicht zuletzt an den von Gorbatschow (viele denken, zumindest „fahrlässig“, die meisten aber „verbrecherisch“) von der Leine (oder aus den Ketten) gelassenen Nationalismen zugrunde gegangen (Politökonomie wird meist ignoriert). Auch hier wird mehr und mehr eine national-russische Konsolidierung des heutigen Russland als Lösung angesehen. Bei etwa 84% ethnischer Russen heute gegenüber weniger als 50% in der Sowjetunion ist das auch einfacher.
Ein letztes Problem für diese „Russifizierung“ stellt noch das „Vielvölkervolk“ („многонациональный народ») dar, das der Präambel der russischen Verfassung nach staatskonstituierend ist. Doch dieses Problem konnte Putin, wie es aussieht, durch die Konzentration auf die imaginierte und postulierte „russische Welt“ und die, zumindest zeitweise, Pazifizierung der Tschetschenen in zwei blutigen (Bruder-)Kriegen vorerst auf eine längere Bank schieben. Ramsan Kadyrow gibt sich, zumindest solange aus Moskau das Geld fließt, dabei allen außer Putin drohend, als der „russischste“ aller „Russländer“ und erster Verteidiger der „russischen Welt“.
Nun fehlt noch ein (im doppelten Wortsinn) Schluss. Also: Wenn wir es tatsächlich, wie ich meine, mit einer Nationalstaatswerdung zu tun haben und eben nicht mit einer Neuerfindung des Russischen Imperiums (was die Akteure wollen können, aber nicht unbedingt wollen und wissen müssen), dann liegt darin nicht nur das gegenwärtig zu sehende Aggressionspotential, sondern dann müssen darin auch Ansätze zu seiner Pazifizierung gesucht werden. Nationalstaatsbildungen sind in vielen Fällen mit erheblicher innerer und äußerer Gewaltanwendung verbunden. In den meisten Fällen ist eine Pazifizierung auch gelungen. Oft war der Preis allerdings sehr hoch, mitunter viel zu hoch. Die gegenwärtige russische Politik als Neoimperialismus misszuverstehen (selbst wenn Teile des russischen politischen Establishments das genau so sehen), würde den preis wahrscheinlich auch diesmal höher treiben als nötig.