Regime ohne Zukunft – wie Russland zum Sieger im Ersten Weltkrieg wurde

Der russischen Führung unter Präsident Putin kann man in den vergangenen Jahren geradezu eine Besessenheit für die Vergangenheit (man kann es auch Geschichte nennen) attestieren. Ständig fühlt sie sich von „Geschichtsfälschern“ bedrängt, will, dass „endlich“ die „Wahrheit“ über dieses oder jenes historische Ereignis gesagt oder geschrieben werde. Folglich gibt es, schon seit Medwedjew, eine staatliche Kommission, die gegen diese angebliche „Geschichtsfälschung“ vorgehen soll. Einheitliche und verbindliche Geschichtslehrbücher sollen bereits Schülern die „richtige“ Sicht vor allem auf die russische Geschichte (und die ist immer als Geschichte des russischen Staates gemeint) beibringen. Allerjüngstes Beispiel dieser Manie ist ein Gesetzentwurf, der zum Beispiel andere Darstellungen zum zweiten Weltkrieg als die der Richtersprüche des Nürnberger Kriegsverbrechertribunals unter strafrechtlichen Vorbehalt stellt.

Im Gegensatz dazu fällt auf, dass die Zukunft, die es doch zu gewinnen gilt, weit weniger, wenn überhaupt, für den Kreml von Interesse ist. Jekaterina Schulman, eine Moskauer Kolumnistin, erklärt dieses Ungleichgewicht zu einer Grundeigenschaft sogenannter „hybrider Regime“, ein neues Modewort um jene neue Art politischer Herrschaft zu beschreiben, die weder demokratisch ist, noch wirklich, im alle Sphären des gesellschaftlichen Lebens durchdringenden Sinn, diktatorisch. Oder anders ausgedrückt: Die, weil sie behauptet demokratisch zu sein, beides imitieren muss, sowohl demokratische Verfahren und Institute, um den Schein zu wahren, als auch diktatorische Ent- und Geschlossenheit, um an der Macht zu bleiben.

Das reicht aber zur Legitimierung ihrer Herrschaft meist nicht aus. Das Putinsche Regime macht da keine Ausnahme. Hybride Regime haben, im Gegensatz zu den totalitären Regimen des 20. Jahrhunderts, keinen „Traum von der Zukunft“, mit dem die Leiden, die Ungerechtigkeit und die Unfreiheit der Gegenwart gerechtfertigt werden (könnten). Deshalb wenden sie sich zurück. Oder, wie Jekaterina Schulman es ausdrückt, liegt „die lichte Zukunft der hybriden Regime in ihrer Vergangenheit“.

Das zeigt sich übrigens besonders, wenn sie innere oder äußere Aggressionen zu rechtfertigen suchen. Es geht dann dabei selten um Verbesserungen einer schlechten und ungerechten Welt oder die Durchsetzung von Menschenrechten, sondern meist um eine als ungerecht empfundene oder dargestellte Vergangenheit, darum, vergangene Kränkungen zu rächen oder zu heilen, oder darum, „zurückzuholen“, was nach einem höheren, „geschichtlichen“ Recht, so zumindest die Behauptung, zu einem gehört.

Das Problem mit der Geschichte ist nun aber, dass sie schon war, also nicht einfach nur herbeiphantasiert werden kann, sondern zumindest aus vorhandenen Bausteinen konstruiert werden muss. Sie muss zudem den jeweiligen heutigen (Macht-)Bedürfnissen der hybriden Herrscher immer wieder angepasst werden, Bedürfnissen, die sich, je nach politischer Lage und Herausforderung, mitunter schnell und oft ändern. Die Sowjetunion war darin schon sehr erfahren. Nicht umsonst scherzten ihre Bewohner, nichts sei so unsicher, wie die Vergangenheit. In Russland war das, vor allem unter Jelzin, aber auch noch unter dem frühen Putin, einigermaßen aus der Mode gekommen. Seit einiger Zeit ist es aber unter dem Vorwand zurechtzurücken, was „der Westen“ schief gelogen habe, wieder hoch aktuell.

Bisher ging es dabei meist um den Zweiten Weltkrieg, in dem angeblich Russland „vom Westen“ die Teilhabe am Sieg abgesprochen werde. Dieser Krieg spielt, systematisch seit Breschnew, eine zentrale Rolle in der staatsrussischen Historiographie. Er ist sowohl (Haupt-)Quelle des russischen Großmachtanspruchs als auch wichtigstes moralisches Reservoir eines hartnäckig behaupteten „guten“ Russland, das nie angegriffen hat und sich immer nur verteidigen musste. Ich habe dieses Geschichtsbild, das das russische 20. Jahrhundert als eine Aneinanderreihung von ethisch einwandfreien Siegen darstellt, vor etwa einem Jahr hier in den Notizen unter der Überschrift „Russische Erinnerung – bisher lieber einfach als kompliziert“ ausführlich dargestellt.

Dort schrieb ich bewusst nur über das 20. Jahrhundert. Denn wer weiter zurück wollte, traf bisher auf ein fast unsichtbares, aber trotzdem unüberwindbares Hindernis, den Ersten Weltkrieg. In der sowjetischen Geschichtsschreibung war der Erste Weltkrieg ein „imperialistischer Krieg“, an dem auch das „Russische Imperium“, das die Sowjetunion ja durch eine Revolution überwunden hatte, nicht unschuldig war. Grob gesagt, war es dieser Geschichtsdeutung nach seinerzeit das Streben aller Großmächte, die Welt unter sich aufzuteilen, ohne dass sie sich friedlich einigen konnten. So kam es zum großen Krieg, an dem alle mehr (Deutschland, Habsburg) oder weniger (Großbritannien, Frankreich, aber eben auch das zaristische, in sozialer und politischer Hinsicht „rückständige“ Russland) gleich schuldig waren.

Im kollektiven Gedächtnis in Russland wurde der Erste Weltkrieg so zu einem Neutrum. Es gab keine Veteranen, keine Heldentaten, die man hätte feiern können, weil sich die russischen Soldaten sofort nach Ende des Krieges in Rote und Weiße teilten. Wie hätten die künftigen Rotarmisten auch als Weltkriegshelden geehrt werden können, ohne ihre ehemaligen Kameraden zu vergessen, die nun allerdings zu verachtenswerten Konterrevolutionären geworden waren?

Seit diesem Sommer hat sich das geändert, wie der Moskauer Historiker Nikita Sokolow, Chefredakteur der Zeitschrift „Otetschestwennyje Sapiski“, am 14. November dieses Jahres in einem glänzenden Vortrag auf dem von der Heinrich-Böll-Stiftung und Memorial veranstalteten 4. Europäischen Geschichtsforum in Berlin darlegte.

Alles begann mit der Einweihung einer Gedenkstätte für die gefallenen russischen Soldaten des Ersten Weltkriegs auf dem Gelände der zentralen Gedenkstätte für die Helden und Heldinnen des Zweiten Weltkriegs, oder besser: des Großen Vaterländischen Krieg auf der „Poklonnaja gora“, etwa zehn Kilometer westlich des Kreml in Moskau, die Wladimir Putin mit dem Ausruf „Ruhm den russischen Waffen“ beendete. An diesem 1. August 2014 sprach er auch erstmals davon, dass Russland seinerzeit eigentlich zu den Siegern gehört habe. Der Sieg sei dem Land aber gestohlen worden.

Am 5. November, bei einem Treffen mit jungen Historikern (man muss wohl eher von einer Vorlesung sprechen), wurde Putin genauer. Er sagte (ich zitiere nach Sokolow): „In diesem Jahr reden wir viel über den Ersten Weltkrieg […]. Wir haben praktisch die Namen vieler unserer vergessenen Helden zurückgeholt und wir haben den damaligen Ereignissen und Ergebnissen, die für Russland tragisch waren, neue, ausreichend objektive Bewertungen gegeben. Warum war das so? Wir sind von innen zerstört worden, das ist passiert. Russland hat sich selbst zum Verlierer erklärt. Wem gegenüber? Einem Land, das selbst den Krieg verloren hat. Das ist doch Unsinn.“

Was Putin verklausuliert, aber doch wohl meint, sprach etwas später, am 13. November, der populäre rechtsnationalistische Publizist Nikolaj Starikow in der Fernsehsendung „Ein Abend mit Wladimir Solowjow”, einer allabendlichen Propagandashow im staatlichen Fernsehkanal “Rossjia-1”, unverblümt aus: „Warum haben wir im Ersten Weltkrieg nicht gewonnen, obwohl wir alles dafür hatten? Weil es Verräter gab. Und das waren nicht die Bolschewiki. Im Februar 1917 wurde Russland nämlich von den Liberalen verraten. Die haben gemeinsam mit der englischen Botschaft einen Staatsstreich organisiert.”

So weit wie Starikow, also Liberale zusammen mit dem (damaligen) Westen einer Verschwörung zu zeihen, um Russland (nicht der Sowjetunion!) den eigentlich verdienten Sieg zu nehmen, würde der Kreml (momentan noch) nicht gehen. Das hat aber eher damit zu tun, dass dann ganz schnell auch die Bolschewiki ins Verräterlicht gerieten, denn sie haben den Frieden von Brest-Litowsk mit Deutschland geschlossen, dessen „Schande“ bisher dem Zarenreich zugerechnet wurde, weil es sich nicht ausreichend zu modernisieren verstanden hatte.

Das aber würde nicht in das Putinsche Konzept von einem immer siegreichen und immer guten Russland passen; von einem von Feinden umzingelten Russland, das sich immer nur verteidigt, und zwar nicht nur sich, sondern auch andere vom jeweiligen Weltübel bedrohte Freunde, Brüder und Schwestern; vor hundert Jahren die Serben und heute eben die „russische Welt“ außerhalb der Grenzen Russlands: im März auf der Krim, seit dem Sommer im Donbass. Fortsetzung – leider – nicht ausgeschlossen.