Die anfänglich sehr missverständlichen Meldungen erst in der russischen und dann auch in der internationalen Presse über den Schließungsantrag des russischen Justizministeriums gegenüber „Memorial Russland“ zeigen zweierlei: Zum einen, wie schnell sich im Internetzeitalter unkorrekte Meldungen verselbständigen und nur sehr schwer und mühsam wieder eingeholt werden können. Zum anderen aber auch, dass die komplizierte Struktur von Memorial zu solchen Missverständnissen geradezu einlädt. Deshalb versuche ich hier nun, das historisch gewachsene Memorial-Netzwerk etwas verständlicher zu machen.
1. Memorial ist eine Konföderation von gegenwärtig mehr als 60 Organisationen, die meisten davon in Russland, aber auch z. B. in der Ukraine, in Deutschland, Belarus, Italien und anderswo. Sie alle haben sich in der Organisation „Memorial International“ zusammengeschlossen.
2. Alle russischen Organisationen sind noch einmal Mitglied bei „Memorial Russland“. Der Grund liegt vor allem in der russischen Gesetzgebung, die „Memorial International“ mit ihren ausländischen Mitgliedsorganisationen nicht alles erlaubt, was dem ausschließlich russischen „Memorial Russland“ möglich ist, obwohl beide Organisationen juristische Personen nach russischem Recht sind. Hinzu kommt, dass die russische Öffentlichkeit mitunter Interventionen nicht ausschließlich „russischer“ Organisationen nicht gutheißt.
3. Es gibt verschiedene Arten von Memorial-Mitgliedsorganisationen. Die drei wichtigsten sind:
- Regionale Organisationen mit eigenem juristischen Status (dazu gehören z.B. Memorial Perm oder Memorial Moskau)
- Regionale Organisationen, die Filialen von Memorial Russland sind, aber auch Mitglieder von Memorial International.
- Thematische Organisationen wie das Menschenrechtszentrum Memorial, das Wissenschaftlich-Historische Forschungs- und Aufklärungszentrum Memorial (NIPC) oder das Museum Perm-36. Auch sie sind alle Mitgliedsorganisationen sowohl bei Memorial International als auch Memorial Russland
4. Die repräsentativste Memorialorganisation, auf die sich alle beziehen, ist Memorial International mit seinem Vorstandsvorsitzenden Arsenij Roginskij und einem gegenwärtig 27-köpfigen Vorstand. Zum Vorstand gehören viele Vorsitzende regionaler Memorial-Organisationen, Vorstand und Mitglieder des Menschenrechtszentrum und Vertreter/innen nicht-russischer Memorial-Mitgliedsorganisationen. Wie in einer Konföderation üblich, gibt es selbstverständlich mitunter Meinungsverschiedenheiten und unterschiedliche Einschätzungen. Allerdings bemühen sich die Memorial-Mitgliedsorganisationen über den Vorstand von Memorial International um eine konsolidierte Position zu den wichtigsten politischen und rechtlichen Fragen. Und bisher gelingt das, trotz der zunehmend gefährlichen Zeiten, ziemlich gut.
5. Da die meisten Organisationen der Memorial-Familie nun einmal größtenteils rechtlich unabhängige, wenn auch ideelich und politisch verbundene NGOs sind, werden sie von den russischen Behörden auch so behandelt. Ich will versuchen, das am Beispiel Moskau zu erklären. In Moskau gibt es fünf Memorial-Organisationen, die jeweils eigenständige juristische Personen sind. Neben Memorial International und Memorial Russland sind das noch das Menschenrechtszentrum, das Wissenschaftlich-Historische Forschungs- und Aufklärungszentrum Memorial (NIPC) und Memorial Moskau. Sie alle wurden und werden von den unterschiedlichsten Behörden (Finanzamt, Justizministerium, Staatsanwaltschaft, Feuerwehr, Gesundheitsbehörde, Arbeitsschutz u.a.) geprüft. Alle wurden auch bei der großen Prüfungswelle durch die Staatsanwaltschaft im Zusammenhang mit dem sog. „Agentengesetz“ im Frühjahr 2013 „besucht“. Nur die Ergebnisse waren unterschiedliche. Zum „Agenten“ wurde nur das Menschenrechtszentrum erklärt. Die anderen wurden in Bezug auf das Agentengesetz (bisher) in Ruhe gelassen, obwohl auch das NIPC und Memorial International Geld für ihre Arbeit aus dem Ausland bekommen. Die Heinrich Böll Stiftung unterstützt z.B. finanziell die historische Arbeit des NIPC, arbeitet aber politisch auch mit anderen Memorial-Mitgliedorganisationen zusammen (und zwar nicht nur Moskauern).
6. In dem Schließungsantrag, den das Justizministerium jetzt beim Obersten Gericht eingereicht hat, geht es nur um „Memorial Russland“. Das ist eine Auseinandersetzung, die sich schon seit etwa zwei Jahren hinzieht. Dabei geht es um die innere, konföderative Organisationsstruktur, die dem Justizministerium nicht gefällt, die Memorial aber für konstitutiv und rechtlich einwandfrei hält (Genaueres hier in einer Erklärung von Memorial). Nun wird das Oberste Gericht darüber entscheiden. Memorial hofft auf einen Sieg, ist aber bereit, weiter zum Verfassungsgericht und dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und Straßburg zu gehen.
7. Sollte nun das Oberste Gericht dem Schließungsantrag des Justizministeriums stattgeben und Memorial Russland schließen, wäre das natürlich ein schwerer Schlag für Memorial insgesamt und ein Zeichen für den wachsenden staatlichen Druck. Denn Auseinandersetzungen gibt es auf vielen Ebenen. Aber es wäre nicht lebensgefährlich.