Konzilianz und Härte – vom Verlust der Putinschen Stabilität

Mitte April stellte sich Wladimir Putin wie jedes Jahr im Fernsehen fast vier Stunden lang wohl ausgewählten Fragen des Volkes. Putin wirkte in der „Direkter Draht“ genannten Sendung viel verbindlicher als im Jahr zuvor. Er bemühte sich auf die Nöte der Fragenden einzugehen und wusste auf (fast) jede Frage eine (meist beruhigende) Antwort. Das war ein deutlicher Unterschied zum „Direkten Draht“ von vor einem Jahr. Seinerzeit hatte sich der russische Präsident weit ungeduldiger gezeigt und war konkreten Antworten zu innenpolitischen Fragen immer wieder ausgewichen. Zur Außen- und Weltpolitik hatte er dagegen ausführlich und meist scharf raisonniert. Trotz (oder vielleicht wegen) eines konzentrierteren Putins wollte aber dieses Jahr echter Drive nicht so recht aufkommen. Vermutlich hängt das auch mit seiner vor dem Hintergrund der turbulenten Vorjahre ein wenig langweilig wirkenden Hauptbotschaft zusammen: Stabilität und Vertrauen in die eigene Kraft. Vor allem an Ersterem zweifeln mittlerweile immer mehr Menschen in Russland.

Dabei sind beide, Stabilität und die Kraft des russischen Staates, nichts Neues für Putin. Im Grunde kann man sie als Motto seiner gesamten Präsidentschaft sehen. 2000, gerade an die Macht gekommen, versprach der junge, gesunde, energische, ja im Zweiten Tschetschenienkrieg gar brutale, neue Präsident fast schon körperlich ja genau das: Den Staat zu stärken und die im historischen Vergleich unsicheren Lebensumstände der 1990er Jahre zu stabilisieren. Die Sowjetunion mag langweilig gewesen sein und in ihren letzten beiden Jahrzehnten stagniert haben, aber das Leben war äußerst stabil. Besonders daran erinnerten sich die Menschen nach zehn Jahren ständiger Veränderungen und einem beispiellosen Niedergang der Wirtschaft unter Jelzin.

Putin gelang es, so sahen es die allermeisten Menschen in Russland (und auch viele außerhalb des Landes), schnell und sehr gut, eine Wende herbei zu führen. Seine Umfragewerte schossen schon in den ersten Monaten in bis dahin für russische Präsidenten ungeahnte Höhen. Mit der Wirtschaft ging es rasant aufwärts. Den meisten ging es jedes Jahr wirtschaftlich zumindest ein wenig besser, vielen sogar viel besser. Kaum jemand stellte seinerzeit die Frage, ob dieser Erfolg mehr Putins Können oder vor allem dem Glück der schon Ende der 1990er Jahre einsetzenden Ölhausse zu verdanken war. Seinen Staat präsentierte der neue Präsident (vor allem in Tschetschenien) als entschieden und mit neuer Entschlossenheit.

Für seine zweite Amtszeit von 2004 bis 2008 versprach Putin, Stabilität und Kraft des Landes auszubauen. Weiterhin halfen vor allem die sprudelnden Öl- und Gaseinnahmen, dieses Versprechen zu erfüllen. Der russische Staat hatte so viele Einnahmen, dass trotz der Bereicherung Weniger auch für die Vielen ausreichend übrig blieb. Aus heutiger Sicht waren das die goldenen Jahre in Putins Präsidentschaft. Die Einkommen der Menschen stiegen und auch international zählte das Wirtschaftswunderland Russland plötzlich zu den Aufsteigern. Folgerichtig stand das Versprechen am Übergang zu Interimspräsident Medwedjew ebenfalls unter dem Motto Stabilität und Kontinuität. Medwedjew sollte fortsetzen, was Putin begonnen hatte. Und damit das auch gelang (und alle daran glaubten), blieb Putin, wenn auch als formal Zweiter, als Ministerpräsident, der eigentliche Herrscher im Lande.

Allerdings machte die 2008/2009 einsetzende Wirtschaftskrise einen erst dünnen und dann immer dickeren Strich durch diese Stabilitätsverlängerungsrechnung. Medwedjew versuchte mit einem Modernisierungsdiskurs gegenzusteuern. Damit rief er zwar einerseits beim großstädtischeren, gebildeteren und mobileren Teil der Bevölkerung Hoffnung auf (Ver-)Änderung (in ihren Augen: auf Besserung) hervor. Auf der anderen Seite löste die Aussicht auf Veränderung bei einer Mehrheit aber (wenn auch vorerst leise) Zweifel am Stabilitätsversprechen aus. Aus Medwedjews „Modernisierung“ wurde nichts. Nach vier Jahren kehrte Putin zurück. Die enttäuschte Hoffnung im liberalen Teil der Bevölkerung schlug in die Winterproteste 2011/2012 gegen Wahlfälschung und Putins Rückkehr um. Der antwortete mit einer präventiven nationalkonservativen Konterrevolution und einer nationalistischen Mobilisierung der Bevölkerung – mit der Krimannexion, dem (militärischen) Angriff auf die Ukraine und der geopolitischer Konfrontation mit dem Westen als deren Grundelemente. Beides trieb seine zuvor ein wenig schwächelnden Umfragewerte in noch höhere Höhen, war also, aus Sicht der Herrschaftssicherung, sehr erfolgreich.

Die Mobilisierung von Gesellschaften ist aber immer ein Spiel mit dem Feuer oder, um ein anderes Bild zu nehmen, sie ist wie Poker: Man muss, egal wie die Karten sind, den Einsatz immer weiter erhöhen, um im Spiel zu bleiben. Wenn man nicht mehr mitgeht oder nicht mehr mitgehen kann, ist das Spiel schnell vorbei. Es gibt nur die Stabilität des rollenden Rades. Zwar hat die Mobilisierung den wirtschaftlichen Aufschwung (vorerst) als Stabilitätsanker ersetzt. Nachhaltig ist die sie begleitende Erzählung von der Besonderheit, der Größe und der Gefährdung des Landes aber kaum. So steht Putin inzwischen vor der Wahl zwischen zwei Formen von Instabilität, während er gleichzeitig dem Volk Stabilität verspricht und die meisten Menschen in Russland nichts mehr ersehnen als eben diese Stabilität.

Was diese Wahl heißt, lässt sich an zwei politischen Ereignissen in Russland Mitte April recht gut illustrieren. In ein und derselben Woche folgte einerseits der für eine moderat liberale Politik und wirtschaftliche Reformen stehende ehemalige Finanzminister Alexej Kudrin dem schon längeren Werben Putins und kehrte de facto in den Staatsdienst zurück, indem er Direktor des von der Regierung finanzierten „Instituts für Strategische Studien“ wurde. Auf der anderen Seite veröffentlichte der sehr mächtige Leiter des sehr mächtigen Staatlichen Strafermittlungskomitees Alexander Bastrykin einen langen Artikel in der Wochenzeitschrift „Kommersant-Wlast“, der einen detaillierten Maßnahmenkatalog zur endgültigen Umwandlung Russlands in eine Diktatur ohne Wenn und Aber enthielt (ich habe darüber hier bereits kurz  geschrieben).

Auch international gibt es gemischte Signale. Auf der einen Seite legen sich die russische Luftwaffe in Syrien und die russische Diplomatie an allen Fronten ins Zeug, um das Verhältnis zur NATO (und damit zum sanktionierenden Westen) zu verbessern. Sie tun das durchaus mit gewissem Erfolg. Ende April tagte erstmals seit der Annexion der Krim der NATO-Russlandrat. Zwar blieben die Positionen unvereinbar, aber immerhin saß man wieder ganz offiziell zusammen. Das wurde in Russland, trotz der weiterbestehender Sanktionen, als ein erster institutioneller Schritt aufeinander zu interpretiert. Gleichzeitig aber gab es eine ganze Serie von aggressiven Vorbeiflügen russischer Kampfflugzeuge an NATO-Schiffen wie der „USS Donald Cook“ in der Ostsee oder gefährliche Annäherungen an Kampfflugzeuge von NATO-Ländern. Der Effekt der politischen Annäherung, wenn es ihn denn gegeben hat, verflog im Nu.

Auch hier zeigt sich das Dilemma der internen Mobilisierung. Annäherung ist langweilig und kommt schnell in den Ruch von Anpassung oder gar Schwäche, wenn nicht gleichzeitig die eigene Stärke, die Möglichkeit eines „wir können auch anders“ immer wieder deutlich gezeigt wird. Die ihrer selbst unsichere Führung kann Nähe nur bei gleichzeitiger Abgrenzung und demonstrativem Zeigen von (tatsächlicher oder angeblicher) Stärke ertragen. Außenpolitik hat zudem in jüngster Zeit Innenpolitik als Legitimationsmittel der politischen Herrschaft fast völlig ersetzt.

Das erklärt auch, warum sich Putin seit 2014 öffentlich weitestgehend aus der Innenpolitik zurückgezogen hatte. Er reagierte (siehe den „Direkten Draht“ vom Vorjahr) oft gereizt, wenn er sich mit ihr befassen musste. Dieses Feld überließ er der Regierung unter Ministerpräsident Dmitrij Medwedjew und kümmerte sich lieber um die große Weltpolitik. In den Augen eines großen Teils der Bevölkerung durchaus mit Erfolg. Zur Wirtschaftsentwicklung fand Putin in dieser Zeit kaum mehr als beruhigende Worte. Ja, das Land sei in der Krise, erklärte er mehrfach, aber das Tal sei durchschritten und baldige Erholung in Sicht. Doch die Erholung lässt auf sich warten. Wahrscheinlich gibt Putin auch deshalb nun wieder, wie beim „Direkten Draht“, verstärkt den Kümmerer.

Doch es ist ein Kümmern, das (zumindest bisher) kaum mehr als Schmerzlinderung und Tröstung bereithält. Alle Versuche, sich mit anderen großen Ölförderländern auf eine Deckelung der Ölproduktion zu verständigen, sind (bisher) gescheitert. Wegen der Aufhebung der Sanktionen gegen den Iran und erheblichen Interessenunterschieden mit Saudi Arabien (nicht nur in Syrien) sieht es auch nicht so aus, als könne sich das in nächster Zeit ändern. Erneut in erheblichem Maße steigende(und damit rettende) Einnahmen aus dem Öl- und Gasexport sind also kaum zu erwarten. Strukturelle Reformen der russischen Wirtschaft bleiben Stückwerk, vor allem, weil sie, hier herrscht große Einigkeit unter Experten, ohne politische Reformen kaum ausreichend vorankommen werden.

Mitte April veröffentlichte die Staatliche Moskauer Hochschule für Wirtschaft (HSE) die Ergebnisse einer Umfrage unter führenden Wirtschaftsexperten. 90 Prozent der Befragten hielten eine Fortsetzung der bisherigen Wirtschaftspolitik für aussichtslos; mehr als die Hälfte sagte für diesen Fall einen weiteren Abschwung voraus; ein weiteres Drittel eine Stagnation. 70 Prozent nannten beschleunigte Reformen als den besten Weg aus dieser Situation, während aber gleichzeitig kaum jemand daran glaubt, dass sie bald kommen werden.

Angesichts dieser Bewertung stellen sich viele Beobachter die Frage, was Alexej Kudrin ausgerechnet jetzt dazu bewogen haben könnte, in Putins Dienst zurück zu kehren. Ende April wurde er zusätzlich zu seinem Institutsdirektorenposten auch zum stellvertretenden Vorsitzenden des präsidialen Wirtschaftsrats ernannt. Dem Rat sitzt Putin selbst vor. Weitere Stellvertreter sind Wirtschaftsminister Ulukajew und Wirtschaftsberater Belousow. Außerdem versammelt der Rat so ziemlich alle, die in Russland wirtschaftspolitischen Rang und Namen haben. Kaum wieder in Amt, klang Kudrin erheblich verbindlicher als zuvor. Es sei alles gar nicht so schlimm und er könne sich Besserung auch ohne Reform vorstellen. Damit steht er aber, siehe die HSE-Umfrage oben, ziemlich allein da.

Diese Verwirrung zerstört langsam die Illusion von Stabilität auch in der Bevölkerung. Nach einer aktuellen Umfrage des Lewada-Zentrums sehen nur noch 2 Prozent der Befragten die Lage im Land als „stabil“ an; 41 Prozent sagen, es gebe „zeitweise Schwierigkeiten“; 14 Prozent glauben; Russland befinde sich in einer „Phase der Stagnation“; 17 Prozent fürchten eine „kommende Krise“, während 16 Prozent ein sich „vertiefendes Chaos“ ausmachen.

Zwar bleiben Putins Umfragewerte hoch, aber das Vertrauen in ihn ist, auch im Zusammenhang mit der Veröffentlichung der sogenannten Panama-Dokumente, wieder auf Vor-Krim-Niveau gesunken. Mehr als die Hälfte der Befragten glauben, dass Putin „seine Macht missbraucht“. Gar knapp 60 Prozent halten ihn für die Korruption in der Staatsführung für verantwortlich.

Diese (wenn auch erst beginnende und vielleicht noch aufzuhaltende) Erosion von Putins Popularität führt auch zu Nervosität in der zweiten Kremlreihe. Nicht die liberale Opposition wird dort gefürchtet, sondern möglicherweise weiter steigender Volksunwille. Die im oben bereits erwähnten Zeitschriftenartikel des Chefs des  Strafermittlungskomitees Bastrykin geforderten verschärften Kontroll- und Repressionsmaßnahmen des Staates dürften mindestens ebenso, wenn nicht gar in erster Linie in diese Richtung gehen. Auch die Bildung einer Putin direkt unterstellten Nationalgarde aus mehreren Hunderttausend meist wohltrainierter Spezialeinheiten sind vor allem als Präventivmaßnahmen gegen aufkommenden Volksunwillen zu verstehen.

Andererseits lässt sich Bastrykins öffentliche Demarche auch anders interpretieren. Schon Balsac, so die Politologin Jekaterina Schulman, habe geschrieben, „glückliche Frauen“ führten kein öffentliches Leben. Ähnliches gelte in Russland für erfolgreiche Leute aus dem Sicherheitsapparat. Bastrykins Aufruf, die Schrauben anzuziehen, könne daher auch als Aufschrei von jemandem interpretiert werden, der Macht und Einfluss zu verlieren drohe.

Wie dem auch sei, scheint es so, als könne (oder wolle) sich Putin erneut nicht zwischen den beiden Polen seiner Präsidentschaft entscheiden. Erneut versucht er Druck auf die (ohnehin uneinige) Opposition mit Großzügigkeiten aus dem (allerdings schwindenden) staatlichen Füllhorn zu verbinden. Die schon gewohnte Begleitmusik bildet heftige (meist antiwestliche) Propaganda. Putin zeigt, wie gewohnt, abwechselnd Konzilianz und Härte. Man kann es aber auch, wie der in Oslo lebende und aus Russland stammende Politologe Pawel Bajew, härter formulieren: „Putin can neither reinvent this corrupt rent-seeking regime as a police state, nor as a developmental semi-democracy.“

Vor allem international wird die Überraschung über seinen nächsten unerwarteten Schritt (inzwischen so etwas wie sein Markenzeichen) oft als (zumindest) taktischer Erfolg wahrgenommen. Tatsächlich aber erfordert jeder aggressive Schritt nach außen mehr Repressionen nach innen und umgekehrt. Während Putins Politik bisher in vielem den geometrischen Linien und Formen eines Kandinsky-Bildes glich, so nähert sie sich zunehmend den verwirrenden Verschlingungen der späten Werke des Amerikaners Jackson Pollack an. Solange es trotzdem wirtschaftlich voran ging, war das kein Problem. Doch jetzt geht es mit dem Land nach unten.