Zweimal bereits in den vergangenen drei Monaten habe ich mich in diesen Notizen mit der Wirtschaftskrise in Russland beschäftigt (hier und hier). Dabei habe ich, gestützt auf zahlreiche Wirtschaftsexperten, argumentiert, dass es schlecht bis schlimm um Russlands Wirtschaft bestellt ist, dass eine Wende unter der gegenwärtigen politischen Führung unwahrscheinlich ist, dass die russische Wirtschaft aber trotzdem, vor allem dank der in besseren Jahren angesparten Reserven, der propagandistisch angefeuerten Mobilisierung und auch der traditionellen Duldsamkeit der russischen Bevölkerung noch ein wenig durchhalten dürfte. Einen Fast-Zusammenbruch des Landes wie 1998, als es nach dem Fall des Bruttoinlandsprodukts um mehr als 50 Prozent gegenüber 1991 zum faktischen Staatsbankrott kam, habe ich als (zumindest vorerst) nicht zu erwarten eingeschätzt. Ebenso schien mir, als ob Putin trotz der Krise kaum so bald erhebliches innenpolitisches Ungemach drohe.
Doch nun, kurz nach dem Jahreswechsel, sieht alles anders aus. Erst warnte Finanzminister Anton Siluanow direkt nach Ende der Neujahrsferien auf dem Gajdar-Wirtschaftsforum in Moskau, wenn sich nicht ganz schnell und ganz bald etwas ändern werde, bestehe sehr wohl die Gefahr einer Wiederholung von 1998. Tags darauf malte Präsident Putin, eigentlich auf die Rolle des geborenen Siegers festgelegt, die nahe Zukunft in den düstersten Farben. Noch sei es zwar nicht so weit, noch gebe es zwar Hoffnung, so Putin auf einer Regierungssitzung, aber jedermann müsse sich auf alle denkbaren Entwicklungsszenarien einrichten (wobei alle verstanden, dass mit „alle denkbaren“ die „denkbar schlechtesten“ gemeint waren).
Unterdessen fällt der Ölpreis nahezu jeden Tag ein bisschen weiter und der Rubelkurs fällt mit ihm. Während noch vor einem halben Jahr die meisten Wirtschaftsanalysen davon ausgingen, dass das Geld wohl, wenn es denn nur ein wenig rationiert werde (im russischen Regierungssprech heißt das dann „Optimieren des Haushalts“), bis über die nächsten Wahlen zur Staatsduma (September 2016) und die Präsidentschaftswahlen (Frühjahr 2018) hinaus reichen würde, tauchen nun erste Warnungen auf, die schon für das laufende Jahr akute staatliche Geldknappheit voraussagen.
Dazu passt auch die Ankündigung von Ministerpräsident Dmitrij Medwedew, überall müsse nun gespart werden, ausgenommen seien nur das Militär, die Renten und die Gehälter der Staatsangestellten. Finanzminister Siluanow verfügte daraufhin Mitte Januar (der Ölpreis war mittlerweile auf unter 30 US-Dollar für die Marke „Brent“ gesunken) eine zehnprozentige Haushaltskürzung quer durch alle Ressorts. Kommentatoren überboten sich sogleich mit der Vorhersage, dass das wohl nicht reichen werde. Alles riecht nach Panik.
Am radikalsten äußerte sich German Gref, ehemaliger Wirtschaftsminister und heute Chef der staatlichen „Sberbank“ (der bei weitem größten Bank Russlands), auf dem schon erwähnten Gajdar-Wirtschaftsforum: Russland habe den Anschluss verpasst. Das Land sei ein (Gref gebrauchte das englische Lehnwort) „Downshifter“ geworden, es habe den internationalen Wettbewerb verloren. Und ohne schnellstmögliche Änderungen des „Lenkungssystems“ sehe er keine Möglichkeit zur Besserung. Der zehnminütige Videomitschnitt von Grefs Philippika ist ein Internethit.
Gref steht stellvertretend für die liberalen Technokraten in der Staatsführung. Sie haben gemeinsam mit Präsident Putin das politökonomische Modell des heutigen russischen Staates geschaffen. Und sie sind bis heute für seine makroökonomische Stabilität zuständig. Sie kontrollieren auch immer noch einen erheblichen Teil der russischen Wirtschaft. Allerdings tun sie das von Putins Gnaden.
Das Neuartige an Grefs Äußerungen ist nicht die öffentliche Kritik auch aus dem Umkreis des Kremls oder gar direkt aus der Regierung. Die gibt es schon, seit es mit der russischen Wirtschaft nicht mehr aufwärts geht, also spätestens seit 2009. Das Neue ist die Radikalität und – damit einhergehend – eine politische Dimension. Wenn er nämlich technokratisch von „Lenkungssystem“ spricht, kann damit nur das politische System gemeint sein. Das darf er aber gar nicht meinen, denn das System ist sakrosankt und die Kremlliberalen sind keine Politiker, sondern eben Bürokraten.
Gref agiert also hilflos und subversiv zugleich. Hilflos, weil er nicht mehr tun kann, als Putin seine Pläne in der Hoffnung auf Einsicht und Änderung der Politik anzubieten. Es ist allein Putins Entscheidung, wie es weiter geht. Die Hoffnung aber, Putin könne den gegenwärtigen Kurs ernsthaft ändern, ist gering. Zu sehr hängt die Legitimität seiner Herrschaft von der propagandistisch erzeugten Unterstützung durch das Volk ab. Zu viele seiner Mitstreiter (aus den Sicherheitsapparaten ebenso wie aus der Wirtschaft) haben sehr viel zu verlieren. Und deshalb ist Gref auch subversiv. Denn er fordert eigentlich – ob er das nun weiß (und dann auch will) oder nicht – –die Ablösung des politischen Regimes und damit den Sturz Putins. Man kann Grefs Äußerungen freilich auch als Versuch interpretieren, sich vor dem großen Crash vom Regime zu distanzieren und seine Hände in Unschuld zu waschen. (wobei unter Crash sowohl der wirtschaftliche Zusammenbruch als auch eine national-totalitäre Wendung des Putinregimes verstanden werden kann).
Womit ich – wie in der Überschrift angekündigt – zum ehemaligen Finanzminister Alexej Kudrin komme. Auch Kudrin war in der Selbstzuschreibung kein Politiker, sondern Beamter und Experte. Ein bis heute hier wie dort hochangesehener, wohlbemerkt. Dank seiner Expertise, aber auch einer gewissen Standhaftigkeit wurde in den fetten 2000er Jahren mit dem staatlichen Stabilitäts- und dem Wohlstandsfond das Sicherheitspolster angelegt, von dem Land und Regime seit nun schon mehr als fünf Jahren Krise zehren. Dieses Ansehen und die trotz Rausschmiss andauernde „Freundschaft“ mit Putin (von diesem wiederholt öffentlich bekräftigt) haben dazu geführt, dass sich in kritischen Momenten immer wieder (zuletzt direkt vor dem Jahreswechsel) Gerüchte „verdichten“, Kudrin werde in Kürze von Putin zu irgendetwas Wichtigem ernannt (vielleicht gar zum Ministerpräsidenten, mindestens aber zu dessen erstem Stellvertreter mit Sondervollmachten oder gleich zum Sonderbeauftragter des Präsidenten für Wirtschaft, also zu so eine Art Notstandskommissar), um den auf einen Eisberg zulaufenden Tanker Russland in letzter Minute umzulenken. Passiert ist das nie.
Niemand kann sagen, ob das nicht passiert ist, weil Kudrin die angebotenen Bedingungen nicht zugesagt haben oder weil Putin kein entsprechendes (entsprechend gutes) Angebot gemacht hat. Wahrscheinlich, wie so oft bei komplizierten politischen Aushandlungen, von beidem etwas. Vorausgesetzt aber, Putin hätte Kudrin eine Rückkehr angeboten, könnte dessen Zurückhaltung auch daran liegen, dass er sich seiner Rolle als vom Präsidenten abhängiger Technokrat durchaus bewusst ist und weiß (oder zumindest vermutet), dass dessen politische Prioritäten anders liegen, als es Kudrins Meinung nach notwendig wäre, um die russische Wirtschaft wieder auf Kurs zu bringen. Diese Erkenntnis mag, neben kolportierten Karriereambitionen und Differenzen über die weitere Wirtschaftspolitik (vor deren Weg in die Mobilisierungsfalle Kudrin schon früh gewarnt hat, als er noch Finanzminister war), bei seinem Abgang aus der Regierung im Jahre 2011 eine Rolle gespielt haben.
Wohl auch deshalb hat Kudrin versucht, sich in der Zwischenzeit mit dem „Komitee für Bürgerinitiativen“ („Komitet Graschdanskich Inizijatiw“) und dem „Allrussischen Zivilgesellschaftsforum“ eine soziale (ich wage hier nicht das Wort „politische“) Basis aufzubauen. Sie soll zumindest eine Andeutung von Unabhängigkeit ermöglichen. Damit hat er sich, immer sehr vorsichtig und akkurat, politisch in Position gebracht. Allerdings hat er es nie gewagt, offen politisch zu werden (also auch nur andeutungsweise die Machtfrage zu stellen). Weder durch die Gründung oder Unterstützung einer politischen Partei oder, wie es in Russland oft bewusst ungenau-verschleiernd heißt, „politischen Bewegung“, noch durch irgendwelche öffentlichen politischen Forderungen, die nicht sein „Fachgebiet“, also die Wirtschaft betreffen.
Somit bleibt auch er, was die sogenannten Kremlliberalen insgesamt sind, ein Anhängsel des Patriarchen, sei der nun gut oder schlecht. Kudrins äußerst vorsichtigen Versuche, sein Image als kompetenter, aber eben auch aufrechter Fachmann in politisches Kapital umzuwandeln, stoßen hier an eine unsichtbare Grenze, eine Grenze, die Putin mit der autoritären Evolution seiner politischen Herrschaft bewusst gezogen hat und eifersüchtig kontrolliert.
Solange für Putin wirtschaftliche Vernunft und Machterhalt verbindbar schienen, hatte diese hier an Kudrin beschriebene Haltung, typisch für die allermeisten Fachleute in Regierung und Administration, sogar eine gewisse ethische (nicht zu sprechen von politischer) Berechtigung. Für Putin ist diese Verbindung dagegen wohl immer nur ein zeitweiser Kompromiss auf Zeit gewesen, den er spätestens 2012 aufgekündigt hat. Auch jedes Mal zuvor, wenn er zwischen wirtschaftlicher Vernunft und Machterhalt wählen musste, hat sich Putin für den Machterhalt entschieden.
Doch einmal angenommen, ich (und mit mir viele andere) hätte Unrecht, Putin würde uns erneut überraschen, Kudrin einen verantwortlichen und einflussreichen Posten und viel Handlungsfreiheit geben. Was wäre dann möglich?
Ein Beispiel. Kudrin hat in den vergangenen Jahren sehr detaillierte Reformpläne zu fast allem ausarbeiten lassen, das mit Wirtschaft zu tun hat, auch eine Reform des Innenministeriums. Wirtschaftsverbrechen gehören zu den häufigsten Ermittlungsverfahren bei Polizei und Staatsanwaltschaft. Ebenso häufig werden sie eingestellt, bevor es zu einem Gerichtsverfahren kommt, da die Verfahren in den meisten Fällen keine echten Verbrechen untersuchen, sondern lediglich der Erpressung von Unternehmern und Unternehmen durch kriminelle Gruppen innerhalb der Sicherheitsapparate dienen. All diese Missstände sind bekannt und von Putin öffentlich verurteilt worden, zuletzt bei seiner Rede zur Lage der Nation im vergangenen Dezember. Geändert hat sich nichts.
Es fällt sehr schwer, zu glauben, dass es nun, mit Kudrin als „Sonderkommissar“ anders würde. Viel wahrscheinlicher ist, dass passieren würde, was bisher immer passiert ist. Selbst wenn Kudrin das (öffentliche!) O.K. von Putin bekäme, würden auf dem Weg zu echten Reformen so viele Hindernisse und Verwässerungen auftauchen, dass sie wie alle anderen Versuche zuvor scheitern würden. Das hat nichts (zumindest nicht in erster Linie) mit dem Wollen und Können von Kudrin zu tun. Vielleicht nicht einmal mit dem Wollen von Putin, sondern ist dem gegenwärtigen politischen System geschuldet.
Das weiß natürlich auch Kudrin. Deshalb könnte ein weiteres Ziel seiner Rückkehr die Rückkehr selbst sein. Das Putinsche System hat sich seit Kudrins Rausschmiss derart radikalisiert, dass allein seine Rückkehr einen stabilisierenden und damit die endgültige Katastrophe verhindernden Effekt haben könnte. In den 2000er Jahren hat Putin weitgehend die Balance zwischen (ich weiß, ich vereinfache hier) eher konservativen Sicherheitsleuten und eher liberalen Wirtschaftsleuten gehalten. Diese Balance ist seit Kudrins Abgang, spätestens aber seit 2012 zerstört. Sollte es so sein, wäre eine Rückkehr Kudrins, wie der russische Journalist Maxim Trudoljubow auf Facebook schreibt, „ein Akt der Verzweiflung oder einer des staatsbürgerlichen Mutes.“ Kudrin hätte dann etwas von einem Psychologen, der einem Selbstmörder auf das Dach eines Hochhauses folgt, um ihn vom Sprung abzuhalten – auf die Gefahr hin, selbst mit in den Abgrund gezogen zu werden.
Aber eine Rückkehr Kudrins beinhaltete natürlich auch die Chance, die Katastrophe tatsächlich abzuwenden. Allein seine Ernennung (und gegenwärtig in Russland wohl nur seine) könnte vor allem nach außen eine beruhigende Wirkung entfalten. Putin erhielte eine Atempause und die Chance, sich mit dem Westen zu verständigen, ohne zu sehr das Gesicht zu verlieren. Das dürfte eine notwendige, wenn auch nicht hinreichende Bedingung für eine nachhaltige wirtschaftliche Erholung sein. Die Frage ist, ob Putin und seine Umgebung das auch so sehen. Bisher sind sie offenbar davon ausgegangen, dass es sich beim niedrigen Ölpreis um eine vorübergehende Störung handelt, die man, mit ausreichend Reserven ausgestattet, aussitzen kann.
Nach innen bleiben die Risiken einer Rückkehr von Kudrin hoch. Für Putin, weil das nur dann einen positiven Effekt hätte, wenn ein Teil seiner Umgebung dafür (durchaus auch im ursprünglichen Wortsinn) zahlen müsste. Für Kudrin bleiben die Risiken hoch, weil seine soziale (und damit politische) Basis schwach ist. Sie besteht maximal aus jenen 10 bis 15 Prozent der Bevölkerung, die (immer noch und trotz aller Propaganda) eher liberale, demokratische Reformen wollen und eine weniger konfrontative Außenpolitik. Und Kudrin hat sich gescheut, diesen kleinen Teil der russischen Gesellschaft politisch zu organisieren. Vielleicht war das klug. Vielleicht gibt es Kudrin als halb-politische Kraft nur deshalb (noch), weil er es nicht versucht hat. Alle, die es versucht haben, sind jedenfalls außer Landes oder marginalisiert oder tot. Alle, die es versucht haben, waren aber auch nicht Kudrin.
In allen autoritären Systemen, die sich mehr oder weniger friedlich zu demokratischen Systemen transformiert haben, gab es moralische Autoritäten (manchmal waren das einzelne Menschen, manchmal auch Institutionen wie Armee oder Kirche), die eine Radikalisierung oder eine Zuspitzung der Krise des Ancien Régime verhindert und diesen Übergang moderiert und in gewisser Weise erzwungen haben. In Russland heute, gibt es, außer dem Halbpolitiker Kudrin, niemanden und nichts Vergleichbares. Das stimmt nicht zuversichtlich.