Unabhängigen russischen Medien geht es schlecht. Und die Lage wird immer schwieriger. Einige Beobachter (und einige Medienleute in Russland) sprechen schon davon, dass es bald wieder sei wie in der Sowjetunion. Doch das täuscht. Auch wenn es sich bei der Beherrschung der Öffentlichkeit in beiden Fällen, in der Sowjetunion ebenso wie im heutigen Russland, um eine Mischung aus staatlichem Zwang und staatlicher Propaganda handelt, gibt es doch erhebliche Unterschiede. Sie zu erkennen ist wichtig für eine vernünftige Analyse, aber auch für eine Debatte darüber, was man dem entgegen setzen kann. Darum soll es in diesen Notizen gehen.
Ein erster wichtiger Unterschied zwischen der Propagandaarbeit in der späten Sowjetunion und im heutigen Russland ist die Haltung der politischen Führungsschicht – die in der Sowjetunion weitgehend rational agierte. Auch wenn die Lage damals intransparent und der Westen in vielem auf kremlastrologische Spekulationen angewiesen war, so konnte man doch von der (wie wir heute wissen, weitgehend richtigen) Annahme ausgehen, dass das Innere der Blackbox Kreml im Wesentlichen so funktioniert, wie in anderen Weltgegenden auch.
Rational blieben die Sowjetführer paradoxer Weise auch, weil sie über ein vollständiges Medienmonopol verfügten, das nur von außen in Frage gestellt wurde (wenn wir einmal von der kleinen Dissidentenschar absehen) – durch die russischsprachigen Auslandssender, vor allem Radio Swoboda, Voice of America, BBC World Service und auch die Deutsche Welle. Diese ins Land dringende Außensicht zwang die sowjetischen Monopolmedien zu mehr Rationalität. „Der Westen“ besaß (als Konzept, ja in gewisser Weise als positive Utopie) in der späteren Sowjetunion eine große Glaubwürdigkeit. Da viele Sowjetbürger westlichen Medien mehr glaubten als den eigenen, mussten diese sich immer wieder an den Informationen und auch an den Informationsstandards von außerhalb messen.
Heute hat sich die Situation umgekehrt. Zum einen ist der Westen, der bis weit in die 1990er Jahre hinein der russische Sehnsuchtsort war, inzwischen zur Projektionsfläche (fast) aller Enttäuschungen geworden. An dieser Entwicklung hat die Putinsche Propaganda selbstverständlich seit vielen Jahren systematisch gedreht. Als positives Korrektiv von außen fällt so nicht nur der Westen aus, sondern auch von dort kommende Informationen (egal ob nun, wie früher, über die genannten Radiosender, oder, wie heute, vorwiegend über das Internet). Angesteckt werden aber auch viele inländische Medienakteure, die von der staatlichen Propaganda geschickt mit diesem nun ver- und missachteten Westen in Verbindung gebracht werden. Zum anderen kann man in Russland bei vielen politischen Protagonisten bis in die allererste Reihe immer öfter an dem zweifeln, was man landläufig den „gesunden Menschenverstand“ nennt. Nicht, weil sie eine grundsätzliche Konfrontation mit dem Westen und die Abkehr von dem eben noch lauthals gepriesenen demokratischen Entwicklungsweg propagieren. Das mag politisches Kalkül oder Überzeugung sein. Problematisch ist der grassierende Obskurantismus, dem seit einiger Zeit, wie es scheint, fast alle Tore offen stehen. Wie dem auch sei, verfängt die Strategie, alles, was nicht vom russischen Staat kommt, durch das Label „Westen“ gleichsam zu kontaminieren, sehr gut und kompensiert durchaus, dass der heutige russische Staat kein Medien- und Informationsmonopol mehr hat.
Allerdings ist es ein Merkmal von autoritären politischen Systemen, und das um so mehr, wenn es so tiefe Wurzeln im Geheimdienstmilieu hat, wie das gegenwärtige in Russland, dass sie immer mehr Kontrolle wollen. Zwar hat Präsident Putin lange versucht, ein einigermaßen stabiles Gleichgewicht zwischen (machterhaltender) Kontrolle und (kreativen) Freiräumen für einen Teil der großstädtischen funktionalen Eliten (zu denen auch viele Journalisten zählen) zu bewahren. Aber nach dem Protestwinter 2011/2012 und noch stärker nach der Krimannexion senkt sich die Waagschale mit zunehmender Geschwindigkeit in Richtung von immer mehr Kontrolle und Repression.
Daher muss man wohl besser sagen, der russische Staat hat „noch“ kein Medienmonopol, aber er strebt es inzwischen an und es ist nicht mehr weit bis dahin. Im Folgenden möchte ich diese Dynamik beschreiben. Bei dieser Darstellung profitiere ich unter anderem von meiner Teilnahme an einer Ende Juni in Berlin von der Heinrich Böll Stiftung, dem Atlantic Council und dem European Council on Foreign Relations organisierten (nicht öffentlichen) Konferenz.
Die staatliche Kontrolle von (Massen-)Medien ist also unter Präsident Putin von Anfang an immer stärker geworden. Dabei ging es zunächst vor allem um die großen, landesweiten Fernsehkanäle, dann kamen Radios und kleinere, auch regionale Fernsehstationen hinzu, später auch Zeitungen und seit einiger Zeit das Internet. Übrig geblieben sind nur einige wenige, vom Staat unabhängige Medien: einige Zeitungen (viele mit ausländischem Kapitalanteil), kaum mehr Radiostationen (da Echo Moskaus gerade vom Eigentümer Gasprom-Media auf Linie gebracht wird) und vor allem das unübersichtlichere Internet, in dem der Übergang von klassischen Medien (mit staatlicher Lizenz) zu anderen Informationsformaten wie Bloggern, Webportalen, Websites von NGOs oder privater Personen fließend ist. Doch auch hierhin erstreckt sich der staatliche Wille zur Kontrolle. Blogger müssen sich z.B. als „Massenmedien“ (oder russisch „Masseninformationsmittel“, kurz: SMI) registrieren lassen, wenn sie mehr als 3.000 Follower haben.
Zur verstärkten Kontrolle kommt eine Entwicklung, die auf längere Sicht noch weit mehr beunruhigt, und die vom Kreml systematisch vorangetrieben wird. Es geht um eine Veränderung der Auffassung davon, was Presse ausmacht und welche Funktionen sie in einer Gesellschaft hat. Aus der Sowjetunion hat sich all die Jahre die bereits erwähnte Abkürzung „SMI“ als Synonym für „Presse“, „Medien“ oder „Massenmedien“ gehalten (eigentlich ist es sogar umgekehrt: bei „Presse“, „Medien“ usw. denken alle sofort: „SMI“). Nach einem kurzen Intermezzo setzt der Staat nun die darin zum Ausdruck kommende Auffassung exakt wieder durch. Wie bereits zuvor den NGOs (und den in ihnen engagierten Menschen) wird auch Journalisten kein „Eigensinn“ mehr zugestanden. So wie NGOs ausschließlich als Instrumente in einer internationalen, „geopolitischen“ Auseinandersetzung verstanden werden, besonders augenfällig demonstriert durch das sogenannte „NGO-Agentengesetz“, geschieht das auch mit Journalisten und der Presse. Allein die Möglichkeit von abweichenden, auf (Experten-)Wissen und eigenen Schlüssen gründenden Auffassungen wird negiert. Da bedarf es dann logischer Weise keiner pluralen Medien. Mehr noch: Die Veröffentlichung abweichender Meinungen wird zur feindlichen Tat.
Dass „Information“ als solche verschwindet, wird von einer Art „Informationslärm“ begleitet. Dieser „Lärm“ ist der Effekt einer ganzen Armee von (Internet-)Trollen, deren Aufgabe es nicht (mehr) ist, die Sichtweise des Kreml zu vertreten, sondern alle anderen Sichtweisen zu ersticken, indem sie sie in einem Meer mehr oder weniger absurder und obskurer „Informationen“ untergehen lässt. Es geht, das wurde unter anderen von Peter Pomerantsev und Boris Schumatsky sehr gut beschrieben, eben nicht mehr, wie zu Sowjetzeiten, darum, eine andere „Wahrheit“ durchzusetzen, sondern vielmehr darum, die Möglichkeit, es gebe so etwas wie eine „Wahrheit“, so etwas wie Tatsachen, generell zu diskreditieren.
Wenn es aber keine Tatsachen mehr gibt, sondern (das ist, ich verweise auf die oben erwähnte Negierung von autonomen politischen Subjekten, eine besondere Ironie) alles relativ und lediglich von Interessen anhängig ist, dann gelten auch für Journalisten andere ethische und professionelle Maßstäbe als die, von denen die Annahme einer freien oder unabhängigen Presse ausgeht. Dann geht es eben nicht mehr darum, sorgfältig zu recherchieren und zu veröffentlichen, was man herausgefunden hat. Es geht dann nicht mehr um die Darstellung unterschiedlicher Meinungen, Sichtweisen und Standpunkte, sondern dann sind Journalisten Kombattanten des, wie es mittlerweile in Russland wieder oft (aber leider auch immer öfter im Westen) heißt, „Informationskrieges“.
In Russland führt das Durchsetzen dieser Auffassung von Journalismus zu dreierlei. Erstens zu einem neuen „ethischen“ Kodex für „Journalisten“ (alles ist erlaubt, Hauptsache es dient dem Ziel im „Kampf“), zweitens dazu, dass immer mehr gute und anständige Journalisten das Land oder die Profession verlassen, und (damit eng zusammen hängend) drittens zum Verschwinden ganzer journalistischer Genres wie der Reportage oder der investigativen Recherche (deren Parodien dagegen fröhliche Urstände feiern).
Bemerkenswert ist, dass der Kreml bei der Zerstörung der letzten Reste einer unabhängigen Presse nicht direkt auf Verbote, Druck oder direkte Repression setzen muss (obwohl es das alles selbstverständlich auch gibt). Vielmehr zielt seine Strategie darauf, sämtliche Finanzierungsquellen entweder zu kontrollieren oder zu verschließen. Schon im September 2014 wurde ein Gesetz verabschiedet, dass den ausländischen Anteilsbesitz an russischen Massenmedien auf 20 Prozent beschränkt. Damit scheiden ausländische Investitionen als Finanzierungsquelle für unabhängige Medien künftig weitgehend aus. Inländische Investoren werden vom Staat kontrolliert. Zudem ist das Investment wenig lukrativ. Mit Informationsmedien lässt sich wenig verdienen, der Werbemarkt ist beschränkt, dafür aber das (politische) Risiko hoch. Für einige widerständige unabhängige Medien wie die Nowaja Gaseta gilt zudem ein ungeschriebenes Werbeverbot, wie auch deutsche, in Russland operierende Konzerne schon bemerken mussten. Das jüngst in Kraft getretene „Unerwünschte-Organisationen-Gesetz“ wird wohl auch einige Internetzeitungen treffen, die sich bislang noch mit einer Mischung aus Crowdfunding und geförderten Projekten über Wasser halten.
Wer überleben will, muss sich entweder anpassen oder, wie die ehemalige Lenta-ru-Redaktion, die nun aus der lettischen Hauptstadt Riga das Internet-Journal „Medusa“ betreibt, sich der russischen Jurisdiktion entziehen. Damit nähert sich das Land zwar auch hier wieder der Sowjetunion an, ist aber, wenn man so will, weitaus flexibler in der Praxis der Machtausübung. Der wichtigste Unterschied bleibt, dass Informationen „aus dem Westen“ in Russland heute weit schlechter beleumundet sind, als sie es zur Zeit der Sowjetunion waren, und dass es im Land immer noch Nischen gibt, auch wenn sie kleiner, enger und weniger werden. Das lässt sich dann auf zweierlei Weise interpretieren: Als Argument für den Kreml, der weiter darauf verweisen kann, keiner Diktatur vorzustehen, da doch im Land weiter alles gesagt und geschrieben werden könne. Oder als kleiner Hoffnungsschimmer, dass noch nicht alles verloren ist.