PUTIN!

Bei der diesjährigen Sitzung des Waldai-Klubs, die, wie alles Wichtige seit den Olympischen Winterspielen, in Sotschi stattzufinden hatte, gab es zwei (wenn auch aus unterschiedlichen Gründen) bemerkenswerte Auftritte russischer Spitzenpolitiker: den von Wladimir Putin und den vom ersten stellvertretenden Chef seiner Präsidentenadministration Wjatscheslaw Wolodin. Putins Auftritt wurde sofort mit seiner Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz im 2007 verglichen (hier einige Links zu deutschsprachigen Artikeln auf Wikipedia). Doch davon später. Zunächst zu Wolodins Auftritt. Er wird wohl nur einer einzigen Aussage wegen im Gedächtnis bleiben, deren Lakonie und Prägnanz im Deutschen widerzugeben mir leider nur unzureichend gelingt: „Solange es Putin gibt, gibt es Russland. Ohne Putin gibt es kein Russland“.

Wolodin ist im Kreml für Innenpolitik zuständig, und das heißt: für die Kontrolle alles Politischen im Land. Seine Worte dürften ihm also nicht einfach so rausgerutscht, sondern wohl abgewogen sein. Wahrscheinlich deshalb erinnerte sich nicht nur Georgij Mirskij, ein altgedienter und bekannter Historiker, an andere, an totalitäre Zeiten. Mirskij zitierte, ohne ein Wort über Wolodin oder Putin zu verlieren, in seinem Blog auf der Website des Radiosenders „Echo Moskwy“ („Echo Moskaus“) Hitlers Stellvertreter Rudolf Hess. Der schrie vor ziemlich genau 80 Jahren auf einem NSDAP-Reichsparteitag: „Hitler ist die Partei. Deutschland ist Hitler. Hitler ist Deutschland.“ Nun geht es hier natürlich nicht um platte und also immer falsche historische Parallelen. Putin ist nicht Hitler und Russland hat nichts mit dem nationalsozialistischen Deutschland zu tun. Eher schon erinnert das Land (und erinnert es sich) immer mehr an die Breschnjewsche Sowjetunion. Die war international großmächtig, im Inneren aber, zumal verglichen mit den tiefen Schrecken der damals noch sehr nahen Stalinzeit, fast schon gemütlich. Auch deswegen ist der stärker und stärker werdende Führerkult im heutigen Russland so befremdlich.

Wichtig ist aber noch etwas anderes. Die Wolodinsche Gleichung offenbart zugleich Hybris und Schwäche des Putinschen Regimes. Damit ist deutet sie auch auf eine große Gefahr. Wer ein ganzes Land (und sich) so an einen einzigen Menschen bindet, muss entweder sehr überzeugt sein oder sehr viel Angst haben. Die öffentliche (und systematisch öffentlich geschürte) Hysterie der „wiedergewonnenen“ angeblichen Größe in Russland hat Elemente von beidem. So wird sie zunehmend zu einem Tanz auf dem Vulkan. Die Erfahrung zeigt zudem, dass eine derartige Symbiose zwischen Land und Führer, selten länger gut geht als der Führer kräftig ist und am Leben.

Man könnte die Gleichsetzung Russland–Putin aber auch noch anders lesen. Putins Popularität ist die entscheidende Ressource, die das gegenwärtige politische Establishment an der Macht hält. Der im Sommer gestorbene russische Soziologe Boris Dubin hat diesen Mechanismus in seinem im Juliheft der Zeitschrift Osteuropa erschienenen Aufsatz „Macht, Masse Manipulation“ eindrucksvoll beschrieben. Darin verweist er auch auf den engen „Zusammenhang von fehlender politischer Konkurrenz und benötigten hohen Zustimmungsraten“. So gesehen könnte die Wolodinsche Sentenz auch eine präventive Reaktion auf demnächst wieder fallenden Zustimmungsraten in Meinungsumfragen sein. Tatsächlich haben sie im Herbst nach dem Krim-Allzeit-Hoch im Frühjahr und Sommer schon wieder leicht nachzugeben begonnen, und die Perspektiven sind eher düster. In der Ostukraine geht es hurrapatriotisch nicht so recht voran, der Rubel befindet sich gegenüber Dollar und Euro im freien Fall, überall werden, vorgeblich im Zuge einer „Optimierung“ tatsächlich aber, weil das Geld nicht mehr reicht, Kliniken und Schulen zusammengelegt oder geschlossen.

Es spricht also vieles dafür, dass wohl auch Putins Russland,  nicht zuletzt wegen dieser immer weiter gesteigerten Fixierung auf ihn als Heilsbringer, mit Putin untergehen wird. Das wird wahrscheinlich nicht schön für Russland und viele seiner Menschen. Aber diesen Untergang abzuwenden oder abzuschwächen vermögen eben nur diese Menschen selbst (auch wenn sie es bisher in ihrer großen Mehrheit nicht zu wollen scheinen).

Anders sieht es mit den Ländern und Menschen um Russland herum, ja ganz Europa, aus. Je mehr sich die innere Aggressivität des Regimes nach außen richtet, desto größer ist die Gefahr, auch mit unter die Räder zu kommen. Und hier ist die Verbindung zu Putins Rede in Sotschi. Das möchte ich in drei Schritten erläutern: einem kurzen Vergleich mit der Münchner Rede von 2007, und je einem Kommentar von Lilia Schewzowa und Gleb Morjew zur Waldajrede.

Putins Münchner Rede hat seinerzeit die öffentliche Wahrnehmung von Putin und Putins Russland im Westen grundlegend verändert. Vorher galt Russland eher als potentieller Verbündeter oder, anders ausgedrückt, möglicher Verbündeter bei der Lösung vieler internationaler Probleme. Seither überwiegt zunehmend die Wahrnehmung von Russland als potentieller Gegner oder als eines der zu lösenden Probleme.

Schaut man sich beide Reden an, fallen vor allem zwei Unterschiede ins Auge, die diesen Perspektivwechsel bestätigen:

  1. Der Sinn des scharfen Tons der Münchner Rede lag aus Putins Sicht wohl vor allem darin, aufzurütteln, sozusagen erhört zu werden. Seit seinem Amtsantritt hatte sich Putin darum bemüht, „auf gleicher Augenhöhe“ in den Kreis der Welten-/Staatslenker aufgenommen zu werden. Putin provozierte also bewusst und in der Hoffnung, dass sich dadurch etwas ändern könne. Die vom Kreml behaupteten und von einem Großteil der Menschen in Russland geglaubten grundsätzlichen Bruchlinien mit dem Westen waren zwar schon zu sehen, aber das große Erdbeben, das die tektonischen Platten in Bewegung gebracht hätte, war, auch aus Putins Sicht, noch nicht geschehen. In Sotschi konstatierte Putin dagegen den Bruch.
  2. In München wandte sich Putin gegen eine unilaterale (oder wie er sich ausdrückte „unipolare“) Weltordnung mit den USA als unangefochtener (und deshalb nicht wirklich an Regeln gebundener) Führungsmacht und forderte dagegen den Aufbau einer multilateralen Ordnung mit klaren Regeln. In Sotschi warf Putin den USA vor, grundsätzlich unilateral zu handeln und sich prinzipiell nicht an internationale Regeln zu halten. Die Welt rutsche so ins Chaos ab. Deshalb gälten diese Regeln aber auch für andere, also auch für Russland, nicht mehr. Sie sind in ihrem Handeln also frei.

Was das bedeutet, sehen wir in der Ukraine. Sowohl die Annexion der Krim als auch der unerklärte Krieg in der Ostukraine werden vom Kreml immer wieder auch damit gerechtfertigt, dass Russland dort nichts anderes mache als die USA/der Westen im Kosovo/im Irak/in Syrien.

Lilia Schewzowa schreibt dazu, scharfzüngig zugespitzt wie immer, auf ihrer Facebookseite: „Der Kreml hat sich ein neues Spielzeug ausgedacht: ‚Änderung der Weltordnung‘, ‚wachsende Zonen des Chaos‘, ‚weltweite Anarchie‘. Das soll noch besser funktionieren als das Mantra über die Machenschaften Washingtons. Weltweites Chaos heißt, dass es keinerlei Regeln mehr gibt. Alles ist erlaubt, sowohl nach innen als auch nach außen. Das ist die Ankündigung, eine eigene Weltordnung zu etablieren. Und wir wissen schon, wie die aussehen wird. Das Argument liegt auf dem Tisch. Russland ist eine Atomsupermacht! Welcome in der neuen Welt…“ Schewzowa wertet diese Wendung übrigens auch nicht als Stärke, nicht einmal mehr als Schwäche, sondern schlicht als „Verzweiflung“.

Es dürfte kein Zufall sein, sondern eine bewusste Illustration von Putins Worten, dass just in diesen Wochen fast täglich irgendwo über der Ostsee, der Nordsee oder dem Atlantik russische Kampfflugzeuge und (Atom-)Bomber sich dem Luftraum von NATO-Staaten nähern und damit auf NATO-Seite Alarm auslösen, und dass atomar bestückbare Interkontinentalraketen getestet werden. Auch die von der Kreml-Partei Einiges Russland am 4. November, dem offiziellen Feier-„Tag der Einigkeit des Volkes“, unter Beteiligung aller Dumaparteien organisierte Demonstration unter dem Motto „Wir sind einig“ bestätigen Schewzowa. Über Lautsprecher wurde entlang der Demonstrationsroute kundgetan, worauf „wir stolz sind“. Einen der ersten Plätze nahm „das größte Atomwaffenarsenal der Welt“ ein.

Der Journalist Gleb Morjew, Redakteur der Internetzeitschrift Colta.ru, kommentierte Putins Waldaj-Auftritt auf Facebook ziemlich unverblümt so: „Ehrlich gesagt, verwundert diese Welle an ‚politologischen‘ Kommentaren zur Putinrede. Da wird etwas Einfaches unnötig kompliziert gemacht. […] Die Grundlage der Situation ist, dass die Jungs im Jahr 2000 ans große Geld gekommen sind und ihr Appetit seither wächst und wächst. Teilen wollen sie aber mit niemandem. In den wohlverdienten Ruhestand können sie auch nicht gehen, denn sie haben zu vielen übel mitgespielt. Also soll, so meinen jedenfalls die Jungs, nun die ganze Welt anerkennen, dass die Kohle ihnen gehört. Dass sie jedes – souveräne – Recht haben, bis zum Ende aller Zeiten auf ihr zu sitzen. Und ja, richtig, in gewissem Sinne sollen alle anerkennen, dass sie und Russland eins sind. Und dass das Interesse Russlands darin liegt, dass sie ewig auf der Kohle sitzen. Und wer damit nicht einverstanden ist, ist ein Vaterlandsverräter. Das ist die ganze Politologie.“

Aber das darf man in einer politischen Analyse natürlich so nicht schreiben. Weil es unterkomplex wäre. Weil Staaten, auch der russische, im 21. Jahrhundert so vulgär nicht funktionieren, weil internationale Politik und eventuell Krieg viel zu ernst sind, um auf so einen einfachen Nenner gebracht zu werden. Weil es, letztendlich, auch in Russland einen Staat gibt, also etwas Seriöses, Gesetztes, kodifizierten Regeln Folgendes. Was wäre aber, wenn es, zumindest zu einem großen Teil, so wäre? Wenn dieser Staat längst privatisiert wäre? Vieles spricht dafür.