Wichtigstes Unterscheidungsmerkmal zwischen der Sowjetunion und dem Putinschen Russland war bis vor Kurzem die weitgehende Freiheit der Menschen, sich ihr Leben einzurichten, wie sie wollen. Diese Freiheit, die Freiheit zu denken, was man will, und zu sagen, was man denkt, zu reisen wohin man will, zurückzukehren wann man will, zu leben, mit wem man will, zu lieben, wen man will, zu arbeiten wo man will (alles im Rahmen der gegebenen sozialen und ökonomischen Möglichkeiten selbstverständlich), war zudem Teil des oft beschriebenen (wenn auch ungeschriebenen) „Gesellschaftsvertrags“ der 2000er Jahre. Ihm zufolge bestimmt Putin die Politik und kontrolliert die wichtigsten wirtschaftlichen Ressourcen. Dafür sorgt er aber für wachsenden Wohlstand für möglichst viele, mischt sich nicht in das Privatleben der Menschen ein und kümmert sich nicht darum, was sie meinen und glauben.
Den letzten Teil dieses „Gesellschaftsvertrags“ hat Putin einst sogar öffentlich benannt. In seiner ersten Rede zur „Lage der Nation“ vor beiden Parlamentskammern im Juli 2000 erklärte er, er sei „gegen die Wiedereinführung einer offiziellen Ideologie in Russland in welcher Form auch immer.“ Es gab zwar seither immer mal wieder Momente der Versuchung, vor allem wenn es um Fragen der jüngeren Geschichte ging, irgendetwas vorzuschreiben oder zu verbieten. Aber im Großen und Ganzen hat sich Putin an dieses Versprechen gehalten.
Wahrscheinlich hat er tatsächlich geglaubt, dass es (auch oder vor allem für ihn) besser so ist. Denn nur in dieser Kombination ließen sich die beiden wesentlichen Teile seiner Machtbasis zusammen halten: Auf der einen Seite die sogenannten „Gosudarstwenniki“ (von Gosudarstwo – Staat), also diejenigen, für die die Interessen des Staates immer zuerst kommen und sich die Individuen zu fügen haben (und denen Putin selbst weltanschaulich und biographisch ganz offensichtlich zuneigt). Sie stehen für das „Auferstehen des russischen States von den Knien“, für eine selbstbewusstere Politik dem Westen gegenüber, für das kompromisslose Vorgehen im zweiten Tschetschenienkrieg und auch für die schrittweise immer stärkere Einschränkung (staats-)bürgerlicher Beteiligungsrechte.
Auf der anderen Seite stützt sich Putin auf eine marktliberale Elite, reich und einflussreich geworden oft schon in den 1990er Jahren. Ihre (in der Tendenz) marktliberale Wirtschaftspolitik sollte Russlands Wohlstand mehren, es wieder groß machen und, nicht ganz unwichtig, über die wirtschaftlichen Erfolge Putin Legitimation für seine Herrschaft und damit seine Macht sichern. Außerdem diente sie immer wieder als Gegengewicht zu den „Gosudarstwenniki“. Das hat, bis etwa zum Ende des Jahrzehnts, auch ganz gut geklappt. Eine Mehrheit der Menschen in Russland war mit dem Ergebnis jedenfalls insgesamt zufrieden.
Dann kam die Wirtschaftskrise. Die Zuversicht in eine rosige Zukunft im Land ließ kräftig nach. Der Modernisierungsdiskurs unter Interimspräsident Medwedjew brachte noch einmal ein wenig Hoffnung und Luft. Doch als Medwedjew im September 2011 verkündete, Putin käme wieder, war diese Luft schnell raus. Es folgte ein zu diesem Zeitpunkt von niemandem für möglich gehaltener Protestwinter und in den Kreml zog wohl wirklich die Angst ein, es könne bald vorbei sein mit dem Herrschen.
Der Wechsel vom ideologisch neutralen oder besser, nur ausgewählt und instrumentell ideologischen Staat zu einem, der ideologische Gefolgschaft, zumindest aber Zurückhaltung bei Dissens fordert, zeigte sich anfangs in einem Begriffswechsel. Statt Präsident eines ganzen, eines „einigen“ Russlands beanspruchte Putin ab Frühjahr 2012 (also ab dem Höhepunkt der Proteste) nur noch die Politik einer „überwältigenden Mehrheit“ zu vertreten.
Die Umrisse dieser Politik zeichneten sich auch schnell ab. Man kann sie, ganz praktisch, an den repressiven Maßnahmen gegen die aufbegehrende Opposition ablesen. Die politische Klasse führt sich, übertragen auf westliche Gesellschaften, seither auf wie rechtskonservative, religiöse Eiferer, nahe an der oder schon über die Grenze zum Obskurantismus. Hervorstechendste Beispiele sind die Anti-Homosexuellengesetze, das sogenannte Dima-Jakowlew-Gesetz zum Verbot der Adoption russischer Kinder durch US-Bürger, das Gesetz zum „Schutz religiöser Gefühle“ oder die immer hysterischer werdende öffentliche Diskussion um angebliche Fälschungen der Geschichte, insbesondere der des Zweiten Weltkriegs (eine vollständige Liste wäre inzwischen sehr lang). Zusammen genommen kommt eine Art Antithese der als „westlich“ geschmähten (demokratischen) Moderne zusammen.
Zu Anfang sah diese Entwicklung wie ein neuerlicher, eher taktischer Schwenk aus, gedacht vor allem zur Herrschaftssicherung. Kaum jemand glaubte, das alles könne wirklich ernst gemeint sein. Ist doch der gesamte Lebensstil der, ich fürchte diese Wortwahl nicht, herrschenden politischen Klasse in Russland (und umso mehr der wirtschaftlichen Eliten) vollständig verwestlicht, inklusive Familie und Vermögen im Westen.
Doch mit der Zeit verdichtete sich dieses krude Gemisch aus Bedrohungsgefühl, Ressentiments gegen Fremdes und Menschliches, neureligiösem Eifer und geopolitischer Weltsicht zu einer Art Ideologie, noch keiner sehr konsistenten, aber durchaus brauchbaren. Es lässt es sich im Inneren famos gegen die Opposition und im Äußeren gegen den Westen einsetzen.
Ausformuliert hat Wladimir Putin dieses Ideologiesubstrat erstmals im September vorigen Jahres bei einer halbstündigen Rede vor dem sogenannten Waldaj-Club (die in Teilen ausgerechnet auf der dubiosen Katholiken-Website „Kreuz.net“ begeistert auf Deutsch wieder gegeben wurde). Kurz zusammen gefasst kommt Folgendes dabei heraus: Der Westen (besonders „Europa“, womit immer die EU gemeint ist) ist von seinem christlich-abendländischen Weg abgekommen und zu einem Hort des Niedergangs, der Sünde und, aus Putins Sicht wahrscheinlich am Schlimmsten, der Schwäche verkommen (es grüßt aus dem Grab der in Russland sehr populäre Oswald Spengler). Paradebeispiel dafür ist für Putins der angebliche Aufstieg von Schwulen allüberall, der geradezu zu einer Diskriminierung von Anhängern traditioneller Sexualformen geführt habe.
Daraus ergibt sich für Russland eine neue (im Grunde aber alte) Mission: Die Rettung des (christlichen) Abendlandes (auch wenn es das nicht verdient). Diese Mission führt dann zu interessanten neuen Verbündeten im Westen. Unlängst wurde die Front-Nationale-Chefin Marine le Pen in Moskau wie eine Regierungschefin im Wartestand empfangen. Es gab Treffen mit Vizepremierminister Dmitrij Rogosin und dem Dumavorsitzenden Sergej Naryschkin. Man fand viele inhaltliche Gemeinsamkeiten. Jelena Misulina, Dumaabgeordnete und Hauptagitator für die Antihomosexuellengesetze, war Ende November vorigen Jahres in Leipzig begeistert aufgenommene Gastrednerin auf einer u.a. von Thilo Sarrazin organisierten Konferenz der deutschen Polit-Obskurantenszene. Und auch mit religiösen Fundamentalisten aus den USA vom Schlag des mitunter „paläo-konservativ“ genannten Pat Buchanan gibt es regen und freundlichen Kontakt.
Im Grunde passiert damit nicht viel Neues. Es war Hauptbeschäftigung der Sowjetunion, nicht der Westen, der Anti-Westen oder der bessere Westen zu sein. Genauer scheint mir aber ein Vergleich mit dem späten Zarenreich zu passen. Dort haben liberale Männer, wie seit etwa 1890 Finanzminister Sergej Witte, und sehr konservative Männer, wie im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts Ministerpräsident Pjotr Stolypin (auf den sich Putin immer wieder mit deutlicher Verehrung bezieht), versucht, das Land mittels der Macht der zaristischen Autokratie in eine Art Modernisierungsdiktatur umzuwandeln. Dieses Vorgehen war eine Reaktion auf die sozialen und politischen Verwerfungen, denen Russland (wie vor ihm die USA und die west- und mitteleuropäischen Ländern auch) beim Übergang zu einem Agrar- zu einem Industrieland ausgesetzt war.
Die autokratisch gesteuerte und kontrollierte Modernisierung war seinerzeit auch durchaus erfolgreich. Aber die Basis des Regimes blieb eine vormoderne agrarische Elite mit einem damals anderorts schon sehr aus der Mode gekommenen Weltbild (um es vorsichtig auszudrücken). Dieser Elite war zwar am Machterhalt des Zaren gelegen, aber die wirtschaftliche Zeit ging über sie hinweg und damit auch über ihren Herrscher. Etwas Ähnliches droht nun Putin. Der neoideologische Kurs ebenso wie der Inhalt der Ideologie schrecken genau diejenigen Menschen ab, die jungen, die (gut aus-)gebildeten, die mobilen, die unternehmenden, die eine Modernisierung Russlands heute tragen könnten. Das ist also ein Kurs, der Putin vielleicht ein paar zusätzliche Jahre die Macht sichert (vielleicht aber auch nicht). Das Land insgesamt könnte dabei aber erneut unter die Räder kommen. Vor hundert Jahren ging es nach Witte und Stolypin jedenfalls für lange Zeit nicht gut aus.