Kleine Irritationen für das Regime oder Erfolge für die Opposition?

Nach den Regionalwahlen am 8. September in Russland feierten oppositionelle KandidatInnen ein paar durchaus bemerkenswerte Erfolge. Alexej Nawalnyj, Blogger und Vielleicht-bald-Häftling, erreichte beachtliche und von niemandem erwartete 27 Prozent bei den Moskauer Bürgermeisterwahlen. Der Anti-Drogen-Kämpfer Jewgenij Rojsman wurde in der Uralmetropole Jekaterinburg gar Bürgermeister, ebenso wie die Psychologin Galina Schirschina in Petrosawodsk. Auf den ersten Blick scheinen diese Erfolge eine angenehme Abwechslung, aber von wenig Bedeutung gegenüber den flächendeckenden Erfolgen der Kremlpartei Einiges Russland bei allen regionalen Parlamentswahlen und den acht Gouverneurswahlen, die gleichzeitig stattfanden. Viel hat sich also wieder nicht verändert. Fast alles bleibt unter des Kremls Kontrolle. Warum also die Aufregung?

Vielleicht stimmt es ja. Vielleicht sind das nur kleine, unwichtige Irritationen. Vielleicht ist das auch alles nur Teil der großen Russland-ist-eine-Demokratie-Scharade. Vielleicht wird das Berufungsgericht in Kirow am 8. Oktober das Fünf-Jahre-Urteil gegen Nawalnyj bestätigen. Vielleicht, sogar wahrscheinlich werden Rojsman und Schirschina in Kürze unter dem zu erwartenden Druck ins Kremllager überlaufen oder wieder aus dem Amt gedrängt oder auch mit fabrizierten Anklagen vor Gericht landen. Gegen Rojsman ermittelt die Staatsanwaltschaft schon lange. Am Tag nach seinem Wahlsieg war er, als Prophylaxe sozusagen, gleich zum Verhör vorgeladen.

Nochmal: Vielleicht, wahrscheinlich kommt das so. Ich kann mich aber trotzdem schon seit einiger Zeit eines hartnäckigen Déjà-vu-Gefühls nicht erwehren. Das hatten wir schon einmal. KPdSU und UdSSR sahen noch lange nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl für die allermeisten BeobachterInnen unzerstörbar aus, ewig. Zu groß, unvergleichlich groß schien das Gefälle zwischen der riesigen sowjetischen Machtmaschine und den paar vereinzelten, oft ungeschickten und unbedarften, oft rührend naiven Menschen, die außerhalb der dafür vorgesehenen Institutionen, also außerhalb der kommunistischen Partei, Veränderungen forderten.

Trotzdem hinkte der große, mächtige Sowjetapparat bis zum (für ihn) bitteren Ende immer mindestens einen Schritt hinter der gesellschaftlichen Entwicklung hinterher. Und ich schreibe hier bewusst „gesellschaftlich“ und nicht „politisch“. Die sowjetische Führung unter Michail Gorbatschow unterschätzte die gesellschaftliche Dynamik sträflich, wie wir heute wissen.

Höhepunkt (und in gewisser Hinsicht Endpunkt) dieses Hinterherhinkens war wohl die Wahl von Michail Gorbatschow zum 1. Präsidenten der Sowjetunion am 14. März 1990 auf einem Sonderkongress der Volksdeputierten. Dieser Kongress war gegenüber früheren sowjetischen Parlamenten bereits ein Ausbund an Pluralität. Gorbatschow bekam knapp 60 Prozent der Stimmen. „Nur“ 60 Prozent der Stimmen. Er war aber schon längst der falsche Ort, sich ausreichend Legitimität in den Augen ausreichend vieler Sowjetbürger zu verschaffen. Gorbatschow hätte sich dem Volk insgesamt stellen müssen. Eine Volksabstimmung wurde damals im Kreml durchaus erwogen, aber als zu riskant verworfen. Schon ein Jahr später wurde Boris Jelzin in direkter Wahl russischer Präsident und ein weiteres halbes Jahr später waren die Sowjetunion und ihr erster Präsident Geschichte.

Nun wiederholt sich Geschichte bekanntlich nicht. Politische Fehler werden aber immer wieder gemacht. Die sowjetische Führung verließ sich seinerzeit auf Techniken, die dem System viele Jahrzehnte das politische Überleben garantiert hatten. Aber die Bedingungen hatten sich geändert (auch die sozio-ökonomischen). Das Putin-Regime hat daraus durchaus gelernt. Es ist weitaus flexibler, unvergleichlich weniger direkt repressiv, eher auf Inklusion denn auf Ausschluss orientiert. Von Anfang an war die Kooptation eines möglichst großen Teils von politischen GegnerInnen ein wichtiges Element der Machtausübung und Machtsicherung (hinzu kommt, die notwendige und ergänzende Kehrseite dieser Macht-Methode, die Marginalisierung und, wenn auch weniger, Kriminalisierung eines anderen, kleineren Teils). Im Gegensatz zu seinem akribisch gepflegten Macho-Image ist Putin ein sehr vorsichtiger Politiker. Übervorsichtig, könnte man sogar sagen. Es soll möglichst wenig dem Zufall überlassen bleiben.

Doch nicht immer lassen sich als richtig erkannte Strategien durchhalten. Die Proteste 2011/2012 führten bereits zu einer auf den ersten Blick graduellen Umorientierung, die aber, wie sich immer mehr zeigt, weitreichende Folgen hat (vielleicht weiter reichende als vom Kreml gedacht). Putin, bis dahin immer als Präsident des ganzen Landes, eines „einheitlichen“, eines „einigen“, konsolidierten Landes aufgetreten (weshalb die Kremlpartei auch „Einiges Russland“ heißt), spricht seit seiner Wiederwahl im März 2012 immer wieder davon, seine Politik sei die einer „überwältigenden Mehrheit“. Neben einer Mehrheit muss es aber auch eine Minderheit geben. Die Grenze wird vor allem soziokulturell gezogen, zwischen denjenigen, die „traditionelle“ (sprich: „russische“) Werte vertreten und den anderen (die damit, meist unausgesprochen, beschuldigt werden „nicht russischen“, also fremden, sprich: „westlichen“ Lebensentwürfen anzuhängen).

Gleichzeitig wird die Doppelstrategie von Kooptation und Spaltung der Oppositionfortzusetzen versucht. In der Woche nach den Regionalwahlen und den Erfolgen von Alexej Nawalnyj und Jewgenij Rojsman fand das 10. Waldai-Forum statt. Dort treffen sich auf Einladung des Kreml alljährlich Russland-ExpertInnen aus aller Welt mit russischen ExpertInnen und PolitikerInnen. Ein Treffen mit Putin gehört unbedingt dazu. Dieses Jahr waren eine ganze Reihe Oppositioneller dabei, die bis vor kurzem noch als (im russisch-offiziellen Sprachgebrauch) „unversöhnlich“ galten (und zu den Führungsleuten der Protestierenden gehört haben), darunter Wladimir Ryschkow, Boris Nemzow, Gennadij Gudkow, Ksenija Sobtschak und der neue Jekaterinburger Bürgermeister Jewgenij Rojsman, dessen „Versöhnung“ per Handschlag mit dem ihn bis auf Messer bekämpfenden Gouverneur des Gebiets Swerdlowsk (dessen Hauptstadt Jekaterinburg ist), selbstverständlich ein Kreml-Mann, auf dem Forum inszeniert wurde. Alexej Nawalnyj war nicht eingeladen. Er wartet auf die Berufungsverhandlung gegen seinen 5-Jahre-Schuldspruch, die nun auf den 8. Oktober angesetzt ist.

Diesen politischen Manövern liegt, wie mir scheint, ein Irrtum zugrunde, dem schon die Sowjetführung unter Gorbatschow erlag. Die von Putin beschworene „überwältigende Mehrheit“ ist erstens viel kleiner als diese grandiose Rhetorik glauben machen will. Sie besteht zudem zweitens zu großen Teilen aus Menschen, die das gegenwärtige politische System unterstützen, weil sie vom Staat abhängen. Das aber ist eine passive, keine aktive Unterstützung. Die meisten werden für Putin nicht auf die Barrikaden gehen.

Äußerlich spricht trotzdem vieles dafür, dass sich Putin auf dem Höhepunkt seiner Macht befindet (und auf dem Waldai-Forum machte er einen so zufriedenen Eindruck, als ob er das auch glaubt). Aus Putins Sicht ist der großstädtische Zwergenaufstand eingedämmt. Und auch international geht es bergauf. Nie seit dem 11. September 2001 brauchten die USA Russland so sehr wie gegenwärtig in Bezug auf Syrien. Und doch wirkt alles fragil.

Warum ich das meine, will ich abschließend mit einem kleinen Beispiel erläutern (bei weitem nicht dem einzigen möglichen). Neben den zahlreichen repressiven Maßnamen des vergangenen Jahres gibt es auch ein paar vorsichtige Kreml-Initiativen zu mehr Bürgerbeteiligung. Neben den wieder eingerichteten Direktwahlen der Gouverneure sticht dabei ein Gesetz zu Online-Petitionen heraus, das Putin schon in seinem Wahlprogramm versprochen hatte. Wer auf einem von der Regierung betriebenen Portal für eine Initiative mehr als 100.000 Unterschriften zusammen bekommt, kann seit dem Frühjahr damit eine Parlamentsdebatte erzwingen. Eine Steilvorlage für den Antikorruptionskämpfer und begabten Populisten Nawalnyj. Flugs waren die notwendigen Unterschriften für die Forderung zusammen, Dienstwagen für Beamte dürften künftig nicht mehr als 1,5 Millionen Rubel (momentan rund 35.000 Euro) kosten.

Es wäre nun wohl ein Leichtes gewesen, darüber in der Staatsduma zu diskutieren, das Für und Wider abzuwägen, die Initiative anzunehmen oder sie parlamentarisch zu zermahlen. Doch was passierte? Die Regierung setze eine Kommission ein, die zu dem Schluss kam, dass nun ausgerechnet diese Frage keine für das Parlament sei. Dass es ausreiche, wenn die Regierung das regelt. Dass 1,5 Millionen Rubel natürlich viel Geld seien für einen Dienstwagen für Beamte niederer Klasse, aber die weiter oben doch besser und vielleicht auch besser geschützt fahren müssten. Dass diese Initiative zu spät käme, weil die Regierung sich der Sache schon längst angenommen habe. Kurz: Alles, nur keine, gesetzlich zugesicherte, Parlamentsdebatte.

Natürlich ist Nawalnyjs Forderung, die Kosten für Dienstwagen von Beamten zu begrenzen populär. Auch deshalb stellt er sie. Um die Regierung und den Kreml in Zugzwang zu bringen. Durchaus erfolgreich. Die Reaktion der Regierung ist aber typisch. Bürgerbeteiligung wird immer nur vorgespielt. Es ist tatsächlich wie ein Spiel. Aus Sicht des korrupten Staates ist Bürgerbeteiligung, so institutionalisiert sie auch sei, nie ernst gemeint. Sie kann nicht ernst gemeint sein, weil sie seine Funktionsmechanismen außer Kraft setzen würde. Und genauso verhält er sich dann.

Im geschilderten Fall nannte die Tageszeitung Vedomosti die Regierung „Putins größten Feind“. Es ist aber Putins Regierung, die so handelt. Und sie handelt nicht zufällig so. Sie verteidigt ihre Pfründe und die Pfründe derer, auf die sie sich stützt. Wenn sie anders handelte, handelte sie gegen ihre eigenen Interessen. Unter diesen Bedingungen sind kluge Initiativen wie diese zum Erfolg verdammt.

Unter diesen Bedingungen ist auch Nawalnyj zum Erfolg verdammt. Wird er am 8. Oktober für wie-lange-auch-immer ins Straflager geschickt, wird er ein Held. Bleibt er in Freiheit, hat er gute Chancen, den Kreml weiter vor sich her zu treiben.