Um es gleich vorweg zu sagen: Mischa Gabowitsch Buch „Putin kaputt!?“ ist sehr gut. Es ist, trotz des irreführenden Titels (ich weiß: der Verlag!), eines der besten Bücher über die russische Gesellschaft, die ich in den vergangenen Jahren gelesen habe. Seine Stärke liegt dabei weniger in neuen, bahnbrechenden Erkenntnissen, als in einer gerafften, zeitnahen und atmosphärisch sehr dichten Schilderung und Analyse der Ereignisse der vergangenen 18 Monate.
Es ist ein Glück, dass der Autor auf langjährige eigene Forschungen und Erfahrungen zurückgreifen kann. In einer Mischung aus reportageartigen, journalistischen Elementen und wissenschaftlicher Analyse webt er ein dichtes, anschauliches, dabei aber analytische Tiefe nicht missendes Panorama des für alle unerwarteten kurzzeitigen Aufbrechens der politischen Szene in Russland seit dem Herbst 2011. Sowohl Leser mit vertieften Russlandkenntnissen als auch solche, deren Russlandwissen nicht über die alltägliche Zeitungslektüre hinausgeht, gewinnen so einen außergewöhnlich tiefen Eindruck von den Motivationen, Erfolgen aber auch Beschränkungen des Protests. Dabei stützt sich Mischa Gabowitsch auf eine breite Basis empirischen Materials, das er einerseits selbst zusammen getragen, andererseits aber, durchaus mit der notwendigen kritischen Distanz, aus der großen Fülle von Umfragen, Forschungen und Publikationen über Russland ausgewählt hat.
Zu den unbestreitbaren Stärken des Buchs gehört es auch, den oft auf Moskau zentrierten Blick weiter im großen Land umher schweifen zu lassen und die beeindruckende Vielfalt der russischen Wirklichkeit zumindest in Ansätzen einzufangen (Gabowitsch bekennt selbst, dass in einem einzigen Buch auch kaum mehr zu leisten wäre). Dabei beginnt er beim Allgemeinen („Das System Putin“), geht dann zum Speziellen über (zum Protest als „Aufstand der Beobachter“, seiner Struktur und dem wichtigen Einzel-„Fall Pussy Riot“), um die Beobachtungen wieder im Allgemeinen, in überzeugenden Überlegungen zur Frage von „Gewaltfreiheit und Gewaltphantasien“ in der russischen Gesellschaft und einer Analyse des „staatlichen Gewaltapparats“ aufgehen zu lassen. Etwas unverbunden bleibt am Schluss ein Kapitel über „die transnationale Dimension“, die den Protest in Russland mit exil-russischer Solidarität in aller Welt zu verbinden sucht.
Es kann natürlich sein, dass das nun meine professionelle Deformierung als vorwiegend mit politischen Prozessen Beschäftigter ist, aber mir scheint sehr sichtbar, dass der Autor Soziologe ist. Mikrobeobachtungen gelingen ihm gut bis ausgezeichnet. Makroentwicklungen bleiben größtenteils außerhalb des Blickfelds. Das fängt mit der Beschreibung des „Systems Putin“ und des im Winter 2011 plötzlich einsetzenden Protests an. Das ist alles richtig beschrieben und die einzelnen Fäden werden für die Leserin und den Leser so dicht zum Nachfühlen zu einem Bild verwoben, wie kaum an anderer Stelle. Auch merkt Gabowitsch richtig an, dass der Anlass des Protests, gefälschte Wahlen, so überraschend nicht ist. Hatten doch Wahlen zuvor, z.B. in Georgien, der Ukraine oder in Ägypten, sogar noch größere Sprengkraft. Allerdings lässt er unerklärt, warum der Protest in Russland ausgerechnet im Dezember 2011 so heftig aufflammte, nachdem vier Jahre zuvor, Ende 2007, in ganz ähnlicher Weise und in vergleichbarem Umfang gefälschte Parlamentswahlen kaum mehr als die üblichen Erklärungen von Menschenrechtsorganisationen und versprengter Opposition hervorgerufen hatten.
Auch die Erschütterung, die im September 2011 die Ankündigung von Putins Wiederkehr in den Kreml bei einem nicht unerheblichen Teil der intellektuellen Elite ausgelöst hat, bleibt seltsamerweise unerwähnt. Gabowitsch führt zwar mehrfach an, Putins erneute Präsidentenkandidatur habe eine Diskussion darüber ausgelöst, ob er das legitimerweise überhaupt ein drittes Mal, nach den Amtszeiten von 2000 bis 2004 und von 2004 bis 2008, dürfe. Aber nicht diese Diskussion, so es sie außerhalb des Internets überhaupt gegeben hat (ich habe 2011 im Gegensatz zu 2007 nichts davon bemerkt), machte die Rückkehrankündigung zum wahrscheinlich wichtigsten Anstoß für viele, meist junge, meist bisher der Politik ferne Menschen, sich als Wahlbeobachter zu engagieren. Es war vielmehr die selbstherrliche, ja fast selbstherrscherliche Art, in der das geschah, zusammen mit der Aussicht auf zwei mal sechs Jahre (zwei präsidiale Amtsperioden) wirtschaftlicher, politischer und gesellschaftlicher Stagnation. Unbeachtet bleibt bei Gabowitsch auch die Rolle der seit 2008 herrschenden Wirtschaftskrise. Sie führte zu der von Präsident Medwedjew angestoßenen Debatte über eine notwendige Modernisierung des Landes, die aber folgenlos blieb und so zu einer großen Enttäuschung vieler gut gebildeter, eher liberal eingestellter und westlichen Lebensweisen zugeneigter Stadtbewohner wurde. Gerade diese Menschen wurden im Winter 2011 zu den Hauptträgern der Proteste.
Aus diesem Blickwinkel betrachtet, wirkt „Putin kaputt?!“ ein wenig unhistorisch. Das setzt sich bei der Beschreibung der Rolle von Nichtregierungsorganisationen fort. Sie kommen in der Erzählung von Mischa Gabowitsch als strukturierender Faktor kaum vor. Auf den ersten Blick scheint das auch richtig zu sein. Als Organisationen haben sie bei den Protesten tatsächlich kaum eine Rolle gespielt. In Wirklichkeit aber bildeten sie mit ihrem Wissen, ihrer in langen Jahren gegen und wegen staatlicher Pressionen angeeigneten Organisationskompetenz und, nicht zuletzt, ihrer Infrastruktur eine wichtige Grundlage für den Protest, nicht nur in Moskau und St. Petersburg, sondern auch in vielen anderen russischen Regionen. Zudem haben in erster Linie die NGOs in den vergangenen 20 Jahren vom Staat unabhängiges soziales und politisches Handeln als legitim etabliert.
Wenn Gabowitsch daher behauptet, die NGOs und die von ihnen getragenen sozialen Bewegungen befänden sich „im steten Wandel von Institutionalisierung und Deinstitutionalisierung“, verliert er diese Entwicklung aus dem Blick. Das ist eine angesichts des mitunter fluiden Charakters zivilgesellschaftlicher Organisationsstrukturen in Russland (und nicht nur da) durchaus verbreitete Fehleinschätzung. Sie ignoriert einerseits die oft große personale Kontinuität der NGO-Szene, sowie ihre erstaunliche Fähigkeit zur interpersonalen Weitergabe von Erfahrungen. Andererseits verkennt sie den zwar langsamen, aber stetigen infrastrukturellen Ausbau zivilgesellschaftlicher Zusammenhänge im heutigen Russland.
Nur als ein Beispiel von vielen soll hier Memorial dienen, in dessen Räumen in Moskau vor den Dumawahlen am 4. Dezember 2011 ein erheblicher Teil der späteren Wahlbeobachter in der russischen Hauptstadt aus- und fortgebildet wurde. Nicht zu vergessen ist auch, dass viele NGO-Aktivisten als Einzelpersonen bei den Protesten eine herausragende Rolle spielten (erneut muss der Blick weit über Moskau hinaus gehen). Bei Memorial fanden nach den Wahlen Pressekonferenzen der Wahlbeobachter statt, ebenso Diskussionsveranstaltungen, die die Proteste begleiteten. Nicht umsonst sind die NGOs mit dem sogenannten „NGO-Agentengesetz“ eines der Hauptziele der Putinschen Restauration.
Mit dem kleinen Memorial-Beispiel komme ich zu einem besonders gelungenen Teil des Buchs, aus meiner Sicht dem vielleicht wichtigsten. Es geht dort um den öffentlichen Raum in Russland. Besser gesagt geht es um seine Abwesenheit oder, noch genauer, darum, wie unterentwickelt er ist. „Wem gehört die Stadt?“ fragt eine Zwischenüberschrift. In der Sowjetunion ausschließlich der Staatsmacht, lautet die richtige Antwort. Jeder Protest war daher auch Raum-Aneignung. Der Raum, in erste Linie der städtische, musste durch die Bürger erst öffentlich gemacht werden. Das geschah in der Perestroika. Für wenige Jahre gehörte die Stadt den Menschen. Gabowitsch schildert sehr gut, wie verhältnismäßig wenig die Menschen damit anfangen konnten. Unter Putin schlug die Staatsmacht dann zurück und drängte die Menschen durch eine zunehmend restriktive Versammlungsgesetzgebung, vor allem aber –praxis in ihren privaten Raum zurück.
Aber auch hier führte die Entwicklung, obwohl, wie Gabowitsch in einem eigenen Kapitel zutreffend beschreibt, die (orthodoxe) Kirche ganz anders als in anderen ehemals sozialistischen Ländern wie Polen oder der DDR keine Hilfe war, ähnlich wie bei den NGOs, nicht ganz zurück bis in die Sowjetunion. Gabowitsch beschreibt die erneute Beschränkung und Einschränkung des öffentlichen Raums unter Putin sehr anschaulich. Allerdings gerät ihm auch hier die Gegenbewegung aus dem Blick: Nicht nur, aber doch wohl auch, weil Plätze und Straßen als politischer Raum seit 2000 vom Staat wieder monopolisiert wurden, entwickelten sich seither überall öffentliche, wie man auf Russisch sagt, „ploschtschadki“ oder „Plattformen“ in Cafes, Clubs, manchmal akademischen Einrichtungen oder eben den (eigenen oder gemieteten) Räumen von NGOs. Auch darauf konnten die Proteste zurück- und darüber hinausgreifen.
Im Zusammenhang mit der Entwicklung zivilgesellschaftlicher Strukturen hätte auch die von Gabowitsch gestellte Frage besser diskutiert (und vielleicht sogar beantwortet) werden können, ob es denn eine Perspektive gebe, in der die „Erweiterung von Protesten zur Einforderung von Rechten“ führe. Denn es sind gerade die NGOs, die das seit vielen Jahren, meist ohne große gesellschaftliche Unterstützung, tun. Man könnte die Frage deshalb auch umgekehrt stellen: War nicht die stetige Einforderung von Rechten durch NGOs und andere die Grundlage für einen Protest, der sich an der unverschämten und öffentlichen Missachtung eines der vornehmsten dieser Rechte, des Wahlrechts, entzündet hat? Fragte man so, wäre jene Versuchung auch nicht so groß, der vor Gabowitsch schon viele andere erlegen sind, nämlich die Proteste des vergangenen Jahres als „Bewegung“ zu interpretieren (ohne deren sozialökonomische Grundlagen näher zu benennen) und sie, so schnell und unerwartet wie sie aufgetaucht war, auch schon wieder als „gescheitert“ zu erklären. Wäre ich Marxist oder auch nur Hegelianer, würde ich sagen, ein wenig mehr Dialektik hätte nicht geschadet.
Ein wichtiger Aspekt soll noch kurz erwähnt werden. Die jüngsten Proteste sind ganz überwiegend gewaltlos erfolgt. Oft wurde der friedliche Charakter von den Protestierenden besonders hervorgehoben. Gewalt ging, wenn überhaupt, dann vom Staat aus. Die Gewaltlosigkeit kontrastiert ganz offensichtlich mit dem großen offenen und latenten Gewaltpotential in der russischen Gesellschaft. Mischa Gabowitsch beschreibt dieses Spannungsfeld überzeugend und zeigt, warum trotzdem in Russland auch künftig kaum mit Aufständen a la Syrien zu rechnen ist.
Und auf eine wichtige Leerstelle muss ich noch hinweisen. Der rechte, nationalistische Teil der Opposition bleibt fast völlig ausgeblendet. Es ist zwar richtig, dass er zahlenmäßig beim vorjährigen Protest keine größere Rolle spielte. Aber Umfragen zeigen, dass mit einer entsprechenden Führungsfigur und dem „richtigen“ Anlass hier durchaus Grund zur Sorge besteht.
In seiner abschließenden „Zwischenbilanz“ stellt Gabowitsch dann noch einmal die Frage, ob „die Protestbewegung langfristig zum Entstehen einer Sphäre beitragen [wird], in der persönliche Verbindungen weniger zählen als allgemeingültige Rechtsnormen?“ Und er antwortet: „In einem solchen Wandel liegt das große Versprechen von Russlands neuer Protestkultur. Den Erfolg der Bewegung hingegen danach zu beurteilen, ob es ihr gelingt, Putin zu stürzen, wäre kurzsichtig.“ Da hat er (die „Bewegung“ verzeihen wir ihm hier) Recht!
Mischa Gabowitsch: Putin kaputt!?. Russlands neue Protestkultur. edition suhrkamp, 438 S.