Unter den politischen Neuigkeiten aus Russland der vorigen Woche ist eine, vor allem im Ausland, weniger beachtet worden als es ihr zu käme. Sie wurde ein wenig von den Nachrichten über Präsident Putins Scheidung, die russischen Raketenlieferungen an Syrien und die anhaltende Verfolgung russischer NGOs verdeckt. Den Spin-Doktoren des Kreml dürfte das gefallen haben. Ich meine den „Rücktritt“ des Moskauer Bürgermeisters Sergej Sobjanin und die Ansetzung von direkten Bürgermeisterneuwahlen für den 8. September. Denn dieser „Rücktritt“ ist Teil von Putins Strategie, die im Vorjahr gerettete und wider gefestigte Macht auch weiter zu sichern.
Zuallererst und vordergründig geht es darum, Sobjanin, ein eher grauer, wenn auch effektiver Apparatschik, als Bürgermeister der russischen Metropole zusätzliche Legitimität zu verschaffen. Manche würden wohl sagen, überhaupt erst Legitimität, was aber bei inzwischen, nach knapp drei Jahren im Amt in Umfragen auf über 50 Prozent gestiegenen Zustimmungsraten doch ein bisschen zu böse ist. Sobjanin hängt aber immer noch seine De-Facto-Ernennung nach (vorgeschlagen durch den damaligen Präsidenten Medwedjew und „gewählt“ durch ein skandalös gefälscht gewähltes und deshalb zu 90 Prozent von der Kremlpartei Einiges Russland beherrschtes Moskauer Stadtparlament, die Stadtduma).
Und: Moskau ist mit rund 15 Prozent aller russischen Einwohner, 25 Prozent des Bruttoinlandsprodukts und der Regierung wichtiger für Russland als Nordrhein-Westfalen für Deutschland. Und mit, zum Beispiel Berlin, ist der Mindestens-15-Millionen-Moloch schon gar nicht vergleichbar.
Das Legitimitätsdefizit Sobjanins liegt auch an den Ergebnissen von Parlaments- und Präsidentenwahl in Moskau im Dezember 2011 und März 2012. Selbst mittels massiver Fälschungen hat Einiges Russland in Moskau keine Mehrheit bekommen, war wohl nicht einmal stärkste Partei. Bei den Präsidentenwahlen bekam Putin in Moskau als einziger russischer Region weniger als 50 Prozent der Stimmen (knapp 47 Prozent) und der liberale Milliardär Michail Prochorow landete mit über 20 Prozent noch vor dem Kommunisten Gennadij Sjuganow auf Platz zwei.
Ein populistische Regierung wie die russische, die sich kaum auf Institutionen und nur wenig auf geteilte politische Inhalte, sondern fast ausschließlich auf die Popularität eines Mannes, des einen Mannes stützt, kann kaum eine Rebellion im Zentrum dulden – so klein und, auf den ersten Blick zumindest, ungefährlich sie sein mag. Vor allem, wenn es ein so dominierendes Zentrum ist wie Moskau heute in Russland. Die Erinnerung an den vorvorigen Winter, als ihnen die Angst ziemlich in die Knochen gefahren war, ist bei vielen Kremlbewohnern noch sehr frisch. Das soll sich nicht wiederholen. Zudem neigen populistische und autoritäre Herrscher ohnehin zu doppelter und dreifacher Absicherung.
Diesen Makel also, in der Hauptstadt, zu Hause sozusagen, nicht allzu wohl gelitten zu sein, wollen Putin und die Seinen nur allzugern und möglichst schnell loswerden. Die damit verbundene Legitimitätslücke schmerzt, vor allem aber gibt sie der im sonstigen Land meist chancenlosen Opposition zumindest ein wenig Hoffnung und damit Auftrieb.
Auch deshalb wird nun wieder getrickst. Ein russischer Beobachter verglich die Ausgangspositionen zur Bürgermeisterwahl am 8. September mit einem Sprint, bei dem nur ein Läufer, nämlich Sobjanin, schon lange vorher weiß wann der Start ist. Deshalb sitzt er nun wohltrainiert, umgekleidet, aufgewärmt und mit Spikes versehen im Startblock, währen die anderen Sprinter sich erst noch überlegen müssen, ob sie überhaupt antreten wollen, wo sie Sportkleidung herbekommen und was wie sie den Trainingsrückstand wieder aufholen. Zudem weiß Sobjanin die Kampfrichter auf seiner Seite. Nur wie das Publikum sich verhalten wird, ist noch unklar.
Gleichzeitig, auch das muss gesagt werden, macht es die Opposition dem Kreml aber auch einfach. Die einen (Kommunisten, Schirinowskij) machen ohnehin seit Jahren nichts anderes als gute Miene zum bösen Spiel. Dafür dürrfen sie weiter mitspielen. Die anderen, die sogenannte liberale Opposition, wird sich wohl wieder einmal nicht auf eine(n) gemeinsame(n) KandidatIn einigen können (wobei es, wenn sie es denn könnten, nicht sicher wäre, ob diese(r) dann auch zu den Wahlen zugelassen werden würde). Wie immer hat der Kreml im Hintergrund natürlich auch hier sein Finger im Spiel. Dass der Trick funktioniert und Moskau ab September wieder einen gewählten (wenn auch nicht unter wirklich fairen Bedingungen) Bürgermeister bekommt, ist also wahrscheinlich.
Doch bei den Bürgermeisterwahlen wird es wohl nicht bleiben. Sie dürften gewissermaßen nur der Auftakt sein. Denn wichtiger noch sind die Wahlen zur Moskauer Stadtduma. Hier, wo der Gewinner nicht alles bekommt, hat die liberale Opposition wirkliche Chancen, in einer auch im Landesmaßstab herausragenden politischen Institution künftig eine wichtige Rolle zu spielen. Mit einem Wahlgewinner Sobjanin als Zugpferd hätte der Kreml weit bessere Chancen, die Opposition in Schach zu halten als mit einem ernannten Bürgermeister, der sich nie den WählerInnen gestellt hat – egal, ob er nun weiter auf das immer unbeliebtere Einige Russland setzt oder ob die schon vor zwei Jahren als eine Art Ersatz gegründete „Volksfront“ eine stärkere Rolle spielt.
Manche russische KommentatorInnen gehen sogar noch weiter und sehen in den Moskauer Bürgermeisterwahlen und der möglicherweise folgenden Wahl zur Stadtduma nur Vorboten möglicher vorzeitiger Dumawahlen. Denn auch die Legitimität der Duma ist ja nach den gefälschten Wahlen vom Dezember 2011 nicht die beste. Wie dem auch sei, deutet der „Rücktritt“ von Sobjanin darauf hin, dass im Kreml wieder auf Vorwärtsverteidigung (im modernen Fußball „Pressing“ genannt“) gesetzt wird, anstatt weit hinten auszuputzen. Um beim Fußball zu bleiben: Dort dominieren gegenwärtig die Mannschaften, die das Pressing am besten beherrschen. Dazu muss aber die ganzen Mannschaft über die gesamte Spielzeit koordiniert und geschlossen nach vorne arbeiten. Mal schauen, wie das in Russland klappt.