Was war das nun? Ein weiterer Schritt Richtung Polizeistaat? Ein typischer Putin-Sowohl-Als-Auch? Ein erneutes Zeichen der Agonie des Systems? Oder vielleicht von allem etwas?
- Erst die Verhaftungen von inzwischen wohl schon 18 jungen Menschen wegen angeblicher Beteiligung an den gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Polizei und einigen DemonstrantInnen bei der Großdemonstration am 6. Mai vor der Amtseinführung von Putin.
- Dann die Verschärfung des Demonstrationsrechts in solch schwindelerregender Hast, unter unter solch offensichtlicher Missachtung vieler Rechtsnormen, wie sie selbst unter Putin noch nicht gesehen wurde.
- Ein paar Tage darauf, am 11. Juni, die Hausdurchsuchungen bei prominenten OppositionsführerInnen, offiziell auch im Zusammenhang mit der Gewalt am 6. Mai und deren Vorladung zum Verhör genau für den Zeitpunkt der nächsten Großdemonstration gegen Putin am 12. Juni, dem offiziellen „Tag Russlands“.
Für die meisten BeobachterInnen (und Beteiligten) ließ das nur einen Schluss zu: Putin macht, ob nun aus Stärke oder Schwäche, ernst. Die neu erstarkte Opposition soll kriminalisiert werden und möglichst viele Menschen abgeschreckt, an den Protesten teilzunehmen. Es kam anders. Zwar verstopften in der Moskauer Innenstadt, wie so oft in den vergangenen Monaten, Polizei und Sondereinsatztruppen die kleinen Straßen und Gassen. Aber die Zahl der DemonstrantInnen ließ sich durchaus mit denen der großen Kundgebungen des Winters vergleichen. Vor allem aber blieb es von beiden Seiten aus friedlich.
Die Demonstration ist ohne Frage ein Erfolg der Opposition (wobei ich mich erneut dafür entschuldige immer von „der Opposition“ zu sprechen, die es, wenn überhaupt, als gemeinsam handelndes Subjekt nur in ganz rudimentären Ansätzen gibt, aber das wird Thema eines späteren Blogeintrags werden). Es ist ein notwendiger Erfolg, wenn auch ein kleiner. Notwendig war er, um zu zeigen, dass die Einschüchterungsstrategie (falls es sie gibt) nicht funktioniert und dass die gesellschaftlichen Verschiebungen zuungunsten des Putin-Regimes keine Einwinterfliege gewesen sind. Aber es ist auch nicht mehr. Es besteht, anders als das viele im Winter glaubten, aktuell keine Gefahr für Putin die Macht zu verlieren. Es gibt gegenwärtig tatsächlich „keine Alternative“ zu Putin, wenn man die Frage ausschließlich unter einem Machtgesichtspunkt betrachtet. Das heißt aber wiederum nicht, das Putin stabil im Sattel säße. Der Winter hat gezeigt, dass sehr schnell sehr viel in Bewegung kommen kann. Sehr viel schneller als das in der betoniert erscheinenden russischen politischen Landschaft von den meisten (mich eingeschlossen) für möglich gehalten wurde (ich spreche hier von seriösen politischen Analysen und nicht von politischen Hoffnungen). Und dass es dazu nicht einmal einer größeren Katastrophe bedarf.
Kleiner Einschub. Wie wackelig die Situation im Winter offenbar war, zeigt auch das Erstaunen (oder Erschrecken) eines der Beteiligten an der Organisation der Proteste und an den Verhandlungen mit staatlichen Stellen, die er heute im persönlichen Gespräch äußert: Damals hätten sowohl im Kreml als auch viele der Oppositionellen ernsthaft geglaubt, ein Machtwechsel sei, wenn er nicht schon unmittelbar bevor stände, nur noch eine Frage der Zeit. Panik auf der einen, Euphorie auf der anderen Seite. So war es natürlich nicht und so ist es auch nicht gekommen.
Doch zurück zu den Eingangsfragen. Warum also erst die repressive Eile, das Angst machen und dann die friedliche Demonstration, die sich die Opposition als Erfolg zu Gute halten kann? Mir scheint es dafür drei Erklärungen zu geben:
- Es passt ausgezeichnet zu Putins üblicher Strategie von Zuckerbrot und Peitsche, von hartem Vorpreschen und leichtem Zurückweichen. So ist es oft passiert, z.B. bei der europaweit diskutierten und kritisierten Neufassung des NGO-Gesetzes zum Jahreswechsel 2005/2006. Erst werden die Schrauben hart angezogen oder die Folterwerkzeuge vorgezeigt. Aufregung und Protest waren groß. Es gab Verhandlungen zwischen NGOs und Kreml. Der Europarat und die OSZE schalteten sich ein. Im Ergebnis kam ein Gesetz heraus, das zwar nicht mehr katastrophal, aber immer noch sehr schlecht für die Unabhängigkeit russischer NGOs war. Putin hatte sein Ziel größtenteils erreicht und sah international sogar noch kompromissbereit aus. Das neue Demonstrationsgesetz ist in Kraft und wurde zwar nicht in Moskau, wohl aber in St. Petersburg, in Nowosibirsk und Kemerowo schon angewendet. Auch nach Moskau wird es kommen. Das ist gewiss.
- Putin und der Kreml fühlen sich bei weitem nicht so stark wie sie uns alle glauben machen. Immer noch findet man dort keine Antwort auf die sich widersprechenden Erfordernisse. Die Wirtschaft braucht, so Putin selbst, „Stabilität und keine Erschütterungen“. Selbstverständlich wird die Opposition beschuldigt, für die Erschütterungen verantwortlich zu sein. Wenn sie nur Ruhe gäbe, könnte die Regierung unter Putin das Land in eine goldene Zukunft führen. Das Problem ist, dass das selbst viele im Kreml kaum noch glauben, vor allem die sogenannten „Liberalen“ nicht mehr, die größtenteils für die Wirtschaftspolitik verantwortlich zeichnen.
- Das leitet über zum dritten Punkt: Viele KommentatorInnen schreiben über einen harten Machtkampf innerhalb des Kremls. Gemeinhin werden zwei große Interessengruppen dort unterschieden. Die schon erwähnten „Liberalen“ und die als „Silowiki“ bezeichneten eher machtkonservativen Hardliner. Allerdings dürften die „Liberalen“ für einen ernsthaften Fight viel zu schwach sein. Sie haben ja gerade erst die vier Jahre unter Medwedjew nicht zum Ausbau ihrer Position nutzen können. Wenn es diesen Machtkampf tatsächlich geben sollte, dann dürfte er zwischen zwei „Silowiki“-Fraktionen toben. Ich will jetzt hier nicht spekulieren, wer mit wem gegen wen und um welche Filetstücke der russischen Rohstoffwirtschaft es dabei geht. Aber noch einmal: Wenn es diesen Machtkampf wirklich geben sollte, dann wäre er auch Folge und Teil der langsamen Selbstauflösung der Putinschen Regimes.
Keine dieser Erklärungen gibt eine vollständige Antwort, teilweise widersprechen sie sich auch oder schließen sich sogar gegenseitig aus. Aber zusammen geben sie hoffentlich eine (Teil-)Vorstellung der Situation. Ein weiteres Ereignis dieser Woche deutet allerdings darauf hin, dass der letzte der drei Punkte der gegenwärtig herausragende ist. Es geht um die Affäre des Chefs des Staatsanwaltschaftlichen Ermittlungskomitees Alexander Bastrykin.
Am vergangenen Mittwoch hatte sich Dmitrij Muratow, Chefredakteur der Nowaja Gaseta, in einem offenen Brief an Bastrykin gewandt. Bastrykin, neben dem Generalsstaatsanwalt der höchste Strafverfolgungsbeasmte in Russland, vielleicht auch vor ihm der höchste) soll Sergej Sokolow, einem Stellvertreter von Muratow, gedroht haben, ihn umzubringen. Sokolow hatte zuvor einen harten, Bastrykin persönlich angreifenden Kommentar über das, vorsichtig ausgedrückt, sehr milde Urteil gegen einen Mann geschrieben (Bewährung und Geldstrafe), der einen zwölffachen Mord an einer ganzen Familie in Südrussland gedeckt hatte. Vor der Morddrohung schon hatte Bastrykin Sokolow öffentlich heruntergemacht und aus einer Versammlung geworfen, in die er ihn selbst eingeladen hatte. Sokolow verließ daraufhin, um sein Leben fürchtend, das Land.
Sofort spekulierten alle in Russland darüber, ob es die Morddrohung eines der höchsten Strafverfolger tatsächlich gegeben habe oder nicht. Schnell teilten sich die Meinungen in „selbstverständlich“ und „so dumm kann man doch gar nicht sein, also unglaubwürdig“. Verständlich, dass Oppositionelle eher der ersten, Putin-Anhänger aber eher der zweiten Version zuneigten. Laut war das Schweigen jeglicher offizieller Stellen am Donnerstag. Dabei war allen klar, dass es dabei nicht bleiben konnte. Denn erstens kann ein solcher (eigentlich) ungeheuerlicher Vorwurf nicht einfach so stehen gelassen werden. Entweder stimmt er. Dann muss Bastrykin nicht nur gehen, sondern vor Gericht gestellt werden. Oder es stimmt nicht. Dann hat Muratow einen hohen Beamten verleumdet. Zum zweiten würde ein Schweigen im Kreml im ganzen Land und vor allem bei allen Strafverfolgern egal welcher Provenienz als Carte Blanche zur Verfolgung von JournalistInnen und (anderen) Oppositionellen aufgefasst werden. Vielleicht so gar im Sinn der behaupteten Bastrykinschen Drohung.
Am Freitag dann geschah in jeder Hinsicht Erstaunliches. In einigen kremlnahen Massenmedien wurde der Fall aus für Bastrykin schlechtem Winkel dargestellt. Und Alexander Chinschtejn, einer der Kremkettenhunde, die die Nase immer im Wind haben, kritisierte ihn gar öffentlich und forderte eine Untersuchung. Nachdem Bastrykin noch in einem Interview in der Iswestija empört den Morddrohungsversuch zurück gewiesen hatte, entschuldigte er sich später bei einem Treffen mit ChefredakteurInnen öffentlich bei Muratow und Sokolow für den Wutausbruch bei der Versammlung. Ihm seien die Nerven durchgegangen, sagte er bei einem Treffen mit Chefredakteuren in Moskau. Muratow und Sokolow nahmen die Entschuldigung an. „Unserem Kollegen droht nichts mehr“, sagte Muratow. Damit könne man zur Tagesordnung zurückkehren.
Nun ist Muratow ein sehr gerader, aber auch praktischer Mensch (auch wenn es Kritik an der Annahme der Entschuldigung von Bastrykin in der Opposition gab, die ihn nicht ausreichender Prinzipienfestigkeit zieh; doch Muratow hat in den vergangenen Jahren schon Fünf KollegInnen durch Morde verloren und damit ein wohl noch höhere Verantwortung für seine Redaktion als ohnehin als Chefredakteur). Selbstverständlich dürfte er bemerkt haben, dass nun alle so tun als habe es die Morddrohung nicht gegeben – und natürlich auch nicht die Behauptung, es habe sie gegeben. Das ist ein sehr seltsames Patt zwischen der offensten oppositionellen Zeitung Russlands und einer viele politische Verfahren anstrengenden Strafverfolgungsbehörde. Juristisch kann man dieses Patt sicher nicht vertreten. Politisch gesehen sagt es viel über die Situation im Land aus. Und die ist im Fluss.