Russland nach der Dumawahl – ein anderes Land?

Wäre ich noch vor zwei Wochen gefragt worden, ob die Dumawahlen etwas ändern würden, so hätte ich sehr vorsichtig geantwortet, etwa in der Art, dass eher nicht, auch wenn das Ergebnis von Einiges Russland (Zwei-Drittel-Mehrheit oder «nur» absolute Mehrheit) sicher Einfluss auf das weitere Vorgehen von Putin haben könnte. Irgendwelche weitere politische Verschiebungen hätte ich als sehr unwahrscheinlich ins Reich der wohl leider vergeblichen Hoffnungen verwiesen.
Mit dieser Antwort wäre ich nicht allein gewesen. Wohl niemand (ich habe jedenfalls niemanden gelesen oder gehört) hat das voraus gesehen, was gerade in Russland passiert. Wie soll man das also erklären? Ich wage einen ersten Annäherungsversuch.


Wieder Wahlen
Russland hat sich seit
den Wahlen vor vier Jahren mehr verändert als auf der Oberfläche sichtbar
geworden ist. Das hat äußere, aber auch innere Gründe. Zu den äußeren zählt
ohne Frage die seit 2008 anhaltende Finanz- und Wirtschaftskrise. Langsam erst,
zuletzt aber immer deutlicher setzt sich, von den wirtschaftlichen und
politischen Eliten bis in weite Bevölkerungskreise, die Erkenntnis durch, dass
das Wachstumsmodell der 2000er Jahre, das leichte Geld von außen, vor allem
über hohe Öl- und Gaspreise, nicht wieder kommen wird. Das erkennt ja selbst
der Modernisierungsdiskurs der Macht Habenden an.
Die Dauer dieses
Diskurses (spätestens seit Herbst 2009 ein Allgemeinplatz) und seine
offensichtliche Folgenlosigkeit (der jüngste Anlauf, die «Strategie 2020»,
wurde von Putin im Sommer offenbar den immer schlechter werdenden
Umfrageergebnissen für die Duma- und vieilleicht auch die Präsidentenwahlen
geopfert) für das politische System (aber auch die wirtschaftlichen
Grundparameter) haben dazu geführt, dass kaum noch jemand glaubt, so gehe es
weiter. Dieser (Un-)Glaube weitet sich gerade aus. Vom «so geht es nicht mehr
weiter» wird er langsam zum «mit diesen Leuten geht es nicht mehr weiter».
Solche Entwicklungen
können für die Machthabenden folgenlos lange folgenlos bleiben und springen
dann manchmal um, ohne dass man selbst im Nachhinein sagen könnte, warum das
nun gerade in diesem Moment oder nach diesem Ereignis geschehen ist, und nicht
vorher schon in ähnlichen Situationen oder erst später. Da lässt sich meist
kaum mehr zu sagen, als dass die Zeit wohl noch nicht reif war. Der Umschwung
kommt dann meist plötzlich, für den Großteil der Akteure unerwartet. Bei
hybriden Regimen, also autoritären Staaten mit die jeweiligen Machthaber
legitimierenden demokratischen Elementen, sind es oft Wahlen, die zu
Katalysatoren werden (aber eben zu Katalysatoren, nicht zum Grund). So war es
bei vielen großen Umbrüchen der vergangenen zehn bis fünfzehn Jahren: in
Serbien, in der Ukraine, in Georgien, in Tunesien, in Ägypten.
24. September
Angekündigt hat sich
dieser Bruch in Russland aber schon früher, am 24. September, als Medwedjew
sich öffentlich durch die Ankündigung des geplanten Ämtertausches mit Putin
unter dessen Regie selbst entmannen musste (ich bin in diesem Blog darauf
eingegangen
). An diesem 24. September machte es «Klick», es gab einen Ruck in
der russischen Gesellschaft. Putin, bis dahin der ungefährdete Alleinbestimmer,
verlor seinen Nimbus als ewiger Sieger. Die Stimmung schlug um von «Putin ist
Klasse» zu «es gibt keine Alternative zu Putin». Viele Menschen, die bis dahin
jede Selbstherrlichkeit der Machthabenden achelzuckend, resignierend, zynisch
hingenommen hatten, hatten das Gefühl, dass das nun zuviel gewesen sei. Es ging
nicht darum dass ihnen irgend etwas Neues zugemutet worden war. Es ging darum,
dass es die eine Zumutung zu viel war, die das sprichwörtliche Fass zum
Überlaufen brachte.
Danach geschah erst
einmal nichts. Das übliche Szenarium vor den Wahlen nahm seinen Lauf:
Registrierung nur der genehmen und registrierten Parteien; ungleiche Propaganda
auf allen Kanälen, in allen Zeitungen und in den Straßen des Landes; wenig
Interesse daran in der Bevölkerung.
Wahlbeobachtung
Das änderte sich erst im
November, etwa drei bis vier Wochen vor der Wahl (einen genauen Zeitpunkt kann
ich nicht nennen). Plötzlich wuchs das Interesse an den Wahlen, vor allem an
ihrer unabhängigen Kontrolle. Und zwar nicht nur bei den üblichen Verdächtigen,
den alten Dissidenten, den marginalisierten Demokraten, den nicht-offiziellen
Linken, sondern auch in zwei weiteren Gruppen, die vor vier Jahren in dieser
Hinsicht indifferent geblieben waren: bei der sogenannten «systemischen
Opposition», also den zugelassenen Parteien außer Einiges Russland, und bei
meist jungen Leuten, für die Politik bisher eine fremde Sphäre war, eine
schmutzige, nicht attraktive, etwas, von dem man sich fern hält, weil es
unappetitlich ist und hoffnunglos, zu dem man also eine eher ästhetische
Distanz hat.
Für diese zweite Gruppe
mag stellvertretend eine Moskauer Initiative stehen, die sich «Bürger
Beobachter» (russisch: «Grazhdanin Nabludatel») nennt. Die InitiatorInnen
dieser Gruppe waren vorher als politische Akteure weitgehend unbekannt. Sie
wandten sich an Memorial mit der Bitte für die Schulung von WahlbeobachterInnen
die neuen Räume nutzen zu dürfen. Dort wurden in den zwei Wochen direkt vor dem
Wahltag über 600 meist junge Menschen, die sich binnen weniger Tage über
soziale Netzwerke freiwillig gemeldet hatten, darin unterwiesen, welche Rechte
sie als WahlbeobachterInnen haben, worauf man achten muss, welches die
wahrscheinlichen und häufigsten Fälschungsmethoden sind und so weiter.
Da nur akkreditierte
WahlbeobachterInnen Zugang zu den Wahllokalen haben (und damit auch das
Wichtigste tun können, die Stimmauszählung zu kontrollieren – schon Stalin hat
mit dem ihm eigene Zynismus darauf hingewiesen, dass es nicht darauf ankomme,
wie abgestimmt werde, sondern wer auszähle), erklärten sich einige
Zeitungsredaktionen, vor allem die Nowaja Gaseta, und die zu den Wahlen zugelassene
Jabloko-Partei bereit, die Freiwilligen als ihre WahlbeobachterInnen
auszuweisen.
Putins Fehler

Was Putin und den Kreml
dazu bewogen haben mag, kurz vor der Wahl einen Generalangriff auf unabhängige
WahlbeobachterInnen zu starten, darüber kann nur spekuliert werden. Die sich im
Laufe des Herbstes und der massiven Wahlkampagne nicht nur nicht bessernden
sondern noch verschlechternden Umfragergebnisse dürften aber eine wichtige
Rolle gespielt haben. Wie dem auch sei: Der gewiefte Taktiker Putin (er wird
oft als «taktisches Genie», wenn auch als eher mittelmäßiger Stratege
beschrieben) machte eine vielleicht entscheidenden taktischen Fehler.
Das alles ist in diesem
Blog beschrieben. Es  begann mit dem
Hetzartikel gegen GOLOS, die bekannteste und älteste
WahlbneobachterInnenorganisation Russlands am 26. November in der
Regierungszeitung «Rossijskaja Gaseta». Dann folgten am Tag darauf Putins
Ausfälle auf dem Einiges-Russland-Parteitag zu seiner Nominierung für die
Präsidentenwahlen gegen die EmpfängerInnen ausländischer Finanzierung  als «Judasse»
, die Überprüfung von GOLOS
durch die Staatsanwaltschaft auf Antrag von drei Dumaabgeordneten
, die
Bestrafung von GOLOS für die angebliche Veröffentlichung von Umfragedaten
innerhalb der letzten fünf Tage vor den Wahlen
(was verboten ist).
Wahltag

Und dann kam der Wahltag.
Die Ereignisse sind bekannt. WahlbeobachterInnen wurden behindert,
hintergangen, immer wieder mit Polizeihilfe aus den Wahllokalen verbannt.
Oppositionelle Websites wurden den ganzen Tag über durch DDOS-Attacken
blockiert. Trotzdem konnten die vielen Tausend Menschen im Land, die sich für
transparente Wahlen einsetzten nicht neutralisiert werden. Vor allem über die
sozialen Netzwerke wurden die Fälschungen und die Fälschungsversuche öffentlich
gemacht.
Es gibt dort unzählige
Erzählungen von oft jungen Leuten über den Tag. Was sie richtig und was sie
falsch gemacht haben. Worauf sie vorbereitet waren und worauf nicht. Wie große
der moralische und manchmal physischer Druck gegen sie als angebliche Verräter
des Vaterlands war. Wie offen häufig, unverfroren, schamlos und dummdreist die
FälscherInnen vorgingen. Sie fühlten sich ja gestützt, geschützt und
bevollmächtigt vom allmächtigen Staat. Auch hatte dieser Staat, von ganz oben,
gedroht, er werde diejenigen zur Rechenschaft ziehen, die die Zielvorgaben
eines hohen Sieges für Einiges Russland nicht erreichen.
Für viele der meist
jungen WahlbeobachterInnen, die oft erstmal politisch selbst aktiv wuden, kam
der Wahltag einer politischen Initiation gleich, war er ein kleines politisches
Erweckungserlebnis. Bei manchen wurde er gar von einem Erfolgserlebnis gekrönt,
wie bei der jungen Frau, die dem Wahlleiter ihres Wahllokals in einem kleinen
Handgemenge das unterschriebene Auszählungsprotokoll entwand (das ihr zu geben
er gesetzlich verpflichtet ist), es zu Hause einscannte und auf Facebook
veröffentlichte.
All das, auch der durch
das Internet und die sozialen Netzwerke sicher verstärkte Eindruck, nicht
allein zu sein, eine oder einer von vielen zu sein, führte im Laufe des
Wahltags, vor allem aber am Montag danach zum sich rasch verbreitenden
Eindruck, erstmals seit Putins Machtantritt vor nun fast 12 Jahren nicht mehr
nur einen Abwehrkampf zu führen, an dessen Ende trotzdem vieles schlechter ist
als es vorher war, sondern ein Chance zu haben. Eine kleine Chance, aber ein
Chance. Der Wind scheint sich zu drehen und nicht mehr von vorne sondern in den
Rücken zu blasen.
Nach der Wahl

Die Demonstrationen in
Moskau und vielen anderen Städten des Landes am Montag und Dienstag, zu denen
im Landesmaßstab nicht wirklich viele Menschen kamen, aber viel, viel mehr als
sonst zu ähnlichen Anlässen in den vergangenen Jahren, verstärkten diesen
Eindruck. Und wieder erwies sich der Putinsche Staat als nicht auf der Höhe der
Zeit. Während sich über die Verhaftungen von durchaus auch mehreren Hundert
Menschen bei den sogenannten 31er-Demonstrationen für Demonstrationsfreiheit
kaum jemand außerhalb der kleinen Opposition aufregte, reicht die Empörung
diesmal weiter. Während bisher DemonstratInnen vor allem als Störer
wahrgenommen wurden, schlägt ihnen nun viel Sympathie als ungerecht Behandelte
entgegen.
Die WahlbeobachterInnen
werten unterdessen die Ergebnisse ihrer Beobachtungen aus. Die Ergebnisse sind,
wie kaum anders zu erwarten, eindeutig: Es wurde massiv zugunsten von Einiges
Russland gefälscht. Es ist natürlich wichtig, all das genauestens zu
dokumentieren. Das ist wichtig für die Zukunft. Für die kurzfristige politische
Entwicklung spielt es kaum eine Rolle. Knapp 50 Prozent hat Einiges Russland
offiziell bekommen. Aber Volkes Weisheit und Meinung sind längst davon überzeugt,
dass es sicher nicht mehr als 40 waren, vielleicht auch weniger. Diese
Überzeugung zu erschüttern, werden auch Zahlen, von wem auch immer, wie seriös
auch immer, nicht in der Lage sein. Der Kreml hat die Deutungshoheit über den
Wahlausgang verloren.
Zumindest gegenwärtig.

Wie geht es weiter?

Schwer zu sagen. Einerseits unterscheidet sich die Lage von der zum Beispiel in
der Ukraine oder in Georgien grundsätzlich. Dort gab es bereit stehende,
landesweit bekannte Alternativen zur herrschenden politischen Führung.
Russlands politische Landschaft ist ein leeres Feld, ein von Putin systematisch
geleertes Feld. Die sogenannten „systemische Opposition“, also Kommunisten,
Schirinowskij und Gerechtes Russland wagen sich nicht heraus (vielleicht noch
nicht, wer weiß? Immerhin stellt sich Gennadij Gudkow, stellvertretender
Vorsitzender von Gerechtes Russland öffentlich und demonstrativ auf Seiten der
DemonstrantInnen. Aber Parteiführer Sergej Mironow schweigt. Man möchte
offenbar auf zwei Stühlen sitzen).
Allerdings hat die
russische Staatsführung, hat Putin ein Problem: Die nächsten Wahlen, die
Präsidentenwahlen sind in knapp drei Monaten. Die Ratings sind unten, auch
Putin wurde, soweit das jetzt schon zu sehen ist, durch den Niedergang von
Einiges Russland in Mitleidenschaft gezogen. Wie er gleichzeitig seine
Popularität zurück gewinnen will, aber den Forderungen nach Neuwahlen oder
zumindest Revision der Auszählergebnisse nicht nachgeben, wird ein sehr
schwieriger Balanceakt werden. Denn massive Repressionen, die wohl möglich
sind, könnten angesichts des wechselnden Klimas im Gegensatz zu früher zu einer
Solidarisierung mit den Repressierten führen und nicht mehr zum Lob und zur
Anerkennung für den „echten Kerl“ Putin, der es den Oppositionsrabauken
ordentlich gezeigt hat. Jedenfalls solange es gelingt, den Protest so friedlich
zu halten, wie er bisher war.