Die Reaktionen
des „anderen“ Russland, der Oppositionellen, der NGO-AktivistInnen, der
MenschenrechtlerInnen, vieler Schriftsteller und KünstlerInnen auf das
gnadenlose Urteil gegen Michail Chodorkowskij und Platon Lebedew reichten von
Entsetzen über Enttäuschung bis zu offenem Zynismus.
Die „Novaya
Gazeta„, immer mehr zum Sprachrohr des guten Russlands werdend, titelte: „Das
Chamowniki Lynch-Gericht“. Wladimir Milow, einer der Co- Vositzenden der erst
vor zwei Wochen gegründeten neuen Oppositionspartei „Partei der Freiheit des
Volkes“ (Partija Narodnoj Swobody) sagte: „In einem zivilisierten Land kann man
wegen so etwas niemandem 14 Jahre geben. Das ist ein mittelaterliches Urteil“.
Arsenij
Roginskij, Vorstandsvorsitzender von Memorial und selbst vor 30 Jahren, noch zu
Sowjetzeiten („selbstverständlich“ ist man geneigt hinzuzufügen, aber so
„selbstverständlich“ ist das offenbar nicht)
als Dissident durch einen fabrizierten Prozess für vier harte Jahre ins
Straflager geschickt, ist erschüttert über die „allerhöchste
Grausamkeitsstufe“. Das sei ein Urteil ganz im Geiste des Sowjetsystems. Da
habe jemand zeigen müssen, „wer Herr im Hause ist“. Dann rutscht ihm noch das
Wort „ekelerregend“ heraus.
Hart mit dem
Urteil ins Gericht geht auch Jewgenij Jasin, wissenschaftlicher Leiter der
Moskauer Staatlichen Hochschule für Wirtschaft und Wirtschaftsminister von 1994
bis 1996: „Das Urteil gegen Chodorkowskij ist ein Urteil gegen Russland selbst.
Wir verschwinden als zivilisiertes land von der Weltkarte, weil es ein
zivilisiertes Land ohne eine gerechte Gerichtsbarkeit nicht gibt. Und wir haben
noch nicht einmal einen Schatten davon. Stattdessen haben wir Wladimir
Wladimirowitsch Putin. Der Fall Chodorkowskij, das ist der Fall Putin.“
In vielen Blogs
wird das Urteil ebenfalls hart kritisiert. Hier nur ein klein Auswahl: „Das ist
keine Bestrafung, sondern eine öffentliche Hinrichtung!“ Oder: „Das ist kein Urteil
gegen Chodorkowskij. Das ist ein Urteil gegen das Unternehmertum“. Oder: „Das
ist eine Lehrstunde der Logik im Irrenhaus.“
Doch auch
Menschen auf Staatsposten äußern sich kritisch, wenn (selbstverständlich!) auch
vorsichtig. Michail Fedotow, seit gut zwei Monaten Vorsitzender der präsidialen
Rats für Zivilgesellschaft und Menschenrechte, erklärte, sein Rat werde eine
Arbeitsgruppe einsetzen, um das Urteil genau zu untersuchen. So habe man es
auch im Fall Magnizkij getan, im Fall des Anwalts, der vor einem Jahr im
Untersuchungsgefängnis starb, weil ihm medizinische Behandlung verweigert
wurde.
Auch Ella Pamfilowa,
im Sommer zurückgetretene Vorgängerin von Fedotow zeigte sich empört. „Auf die
Grausamkeit des Urteils hatte gerade Einfluss, dass die Angeklagten nicht
gebrochen werden konnten, sondern zu wichtigen gesellschaftlich-politischen
Figuren im Land wurden. Unser politisches System aber werden starke
Persönlichkeiten gefürchtet. Darum hat man sie nicht rausgelassen.“
Wladimir Lukin,
der von der Duma auf fünf Jahre gewählte und so lange nicht absetzbare
Menschenrechtsbeauftragte, ist amtgemäß zurückhaltender. Doch wer wie gelernte
Sowjetbürger und immer mehr auch heutige RussInnen gut zwischen den Zeilen zu
lesen versteht, sieht seine Kritik deutlich. Es sei natürlich nicht so ganz in
Ordnung, so Lukin, ein Gerichtsurteil zu kommentieren. Aber das Urteil sei doch
fraglos sehr hart. Und außerdem gebe es ja die Möglichkeit, Berufung
einzulegen. Da sollte man doch erstmal abwarten, was da herauskäme.
Soweit der
kleine, innerrussische Aufstand der Anständigen. Aus diesen Reaktionen sprechen
Wut und Verzweiflung und wider allen besseren Wissens enttäuschte Hoffnung
(auch auf Medwedjew). Dabei herrscht schon seit längerem das Gefühl vor, „dass
es so nicht weiter gehen kann“. Und erstmals seit Beginn der Putin-Herrschaft
fühlte man sich nicht mehr ganz so allein. Der Glanz von Putin schien im nun zu
Ende gehenden Jahr immer matter zu werden: Wirtschaftskrise, Waldbrände im
Sommer, Korruption über Korruption, jede Woche, ja fast jeden Tag neue
Meldungen über Verbrechen von Amtsträgern (meist in Uniform – und da meint man
in Russland zwar auch Soldaten, vor allem aber Miliz, Staatsanwälte,
Geheimdienst), zum Schluss der Aufruhr der Unanständigen Mitte Dezember auf dem
Manegenplatz und auf vielen anderen Plätzen im Land. Die angestrebte,
staatsgeleitete Modernisierung kommt nicht vom Fleck. Und nun dieses Urteil.
Die Ausdeutung
hat (selbstverständlich) schon begonnen. Doch wie immer bei der
Black-Box-Kreml, ist fast alles möglich. Es könnte sich um Agonie handeln, das
letzte (oder zumindest vorletzte) Zucken der alternden Hydra. Die Unsicherheit
schien in diesem Jahr schon mehrfach sehr groß. So oft wie noch nie wurde Putin
der Lack abgeschrieben. Er sei nicht mehr überzeugend und er überzeuge nicht
mehr. Immer häufiger lässt er seinen bekannten, herablassenden und ätzenden
Zynismus hervorblitzen. Auf einem Neujahrempfang verabschiedete er die
versammelten Kremljournalisten diese Woche mit einem „Und, passt auf Euch auf!“
Keiner der JournalistInnenmorde der vergangenen Jahre ist aufgeklärt. Der Mann will nicht mehr, der Mann kann nicht mehr, heißt dann oft das Urteil. Oder: Er sei sich seiner selbst zu sicher und verkenne die schwieriger werdende Lage.
Es könnte Putin aber
auch darum gehen, die Zügel wieder an sich zu ziehen, die er Medwedjew einige Jahre zum Halten gegeben hat. Dann ist das Urteil ein Ausblick darauf, was
bevor steht, im nächsten Jahr, dem Wahljahr, und in den darauf folgenden sechs
Jahren der neuen Präsidentenamtszeit. Das wären finstere Aussischten.
Oder Putin
schlägt noch einmal Pfähle ein, weil er doch nicht mehr als Präsident wieder
kommen will, Medwedjew aber für zu schwach zum Kurshalten hält. Auch möglich.
Der größte
Verlierer des Urteils heißt zweifellos Dmitrij Medwedjew. Vor vier Jahren, als sich
Medwedjew und der damalige und heutige Vizepremierminister Sergej Iwanow ein
Schaulaufen um die Putin-Nachfolge lieferten, machte folgender Witz die Runde:
Putin besucht mit den beiden Kandidaten ein Restaurant. Der Kellner fragt, was
er wünsche. „Fleisch“, quetscht Putin durch die Zähne. „Und Gemüse?“ fragt der
Kellner. Darauf Putin: „Das Gemüse will auch Fleisch“. Medwedjew ist nun
endgültig über den Gemüsestatus nicht heraus gekommen.
Mit Medwedjew haben aber auch viele verloren, die auf ihn gesetzt haben. Das gilt für Leute innerhalb des Apparats und selbst des inneren Machtzirkels ebenso wie für solche außerhalb. Wie viele Programme, Strategien, Studien sind geschrieben worden in der Hoffnung, der „liberalere“ Medwedjew werde sie aufnehmen. Schall und Rauch. Und wie auch bisher schon kann niemand sagen, ob er nicht kann, nicht will oder nicht darf. Was bleibt ist das Gefühlt der „Marionette Medwedjew“, nun eine Lame Duck in seinem letzten Präsidentenjahr. Wer möchte nun noch auf eine weitere Amtszeit setzen? Und wenn doch: Was wird das für eine zweite Amtszeit sein?
Die internationale
Empörung über das Urteil ist groß und deutlich, sowohl im deutschen Kanzleramt als auch im
State Department oder der EU-Kommission in Brüssel. Das ist gut – und eben
nicht selbstverständlich. Noch das erste Urteil 2005 wurde weit vorsichtiger
und mit großer Skepsis gegenüber den Angeklagten aufgenommen. Das galt übrigens
auch für die Reaktion in Russland. Die wilde Privatisierung der 1990er galt
allgemein als wenig legitim (und gilt sie heute noch). Diejenigen, die davon
profitiert haben, als Diebe. Denn ehrlich, so die Überzeugung, könne es ja
nicht zugehen, wenn jemand so schnell so reich werde, wie zum Beispiel Michail
Chodorkowskij, der 2003 zu Zeiten seiner Verhaftung von Forbes als reichster
Russe geführt wurde. Da wird also schon etwas dran gewesen sein an den Vorwürfen,
dachten viele, auch im Ausland, auch wenn der Prozess schon damals viele
Merkmale eines rechtsstaatlichen Verfahrens vermissen ließ.
Das ist nun
anders. Chodorkowskij ist zwar immer noch kein Heiliger, aber auf dem besten
Weg zum Märtyrer. Zu absurd war die zweite Anklage, zu offensichtlich die
Missachtung jedweder rechtsstaatlicher Standards im Gerichtsverfahren, zu
anständig die Haltung der Angeklagten. So wuchs auf der einen Seite das
Unbehagen und auf der anderen das Mitleid. Das könnte sich als eine gefährliche
Mischung heraus stellen. Es kann aber auch sein, dass das alles nur der
Phantasie und den Hoffnungen des Autors entspringt.