Veränderungsluft. Warum (fast) alle meinen es müsse (werde) sich etwas ändern, trotzdem aber (fast) alles so weiter geht wie bisher

Es gibt viel an
der Politik der russischen Führung unter Putin/Medwedjew zu kritisieren und es
gibt viele KritikerInnen ihrer Politik: die Ent-Demokratisierung, die Knebelung
der Presse, ein völlig kontrolliertes Parlament, keine unabhängige
Gerichtsbarkeit, die wachsende Fremdenfeindlichkeit im Land, die Gewalt im
Nordkaukasus (mit ihren blutigen Tentakeln ins russische Kernland), die
Rückständigkeit der russischen Industrie (und der Rückgang der
Industrieproduktion), die De-Ökologisierung von Politik und Gesetzgebung in den
vergangenen Jahren. Diese Liste ließe sich noch sehr lange fortführen.

 

Lange Zeit hat
diese Kritik nicht nur den Kreml sondern auch eine sehr große Mehrheit der
Menschen im Land kalt gelassen. Genauer gesagt: Sie hat die politische Elite
und die größten Profiteure ihrer Politik kalt gelassen. Die große Masse der
Menschen hingegen hat sie hingenommen. Dafür gab es vor allem zwei Gründe: Zum
einen ging es auch den meisten von ihnen zumindest bis 2008 wirtschaftlich immer
besser. Und zum anderen galt (und gilt noch) Stabilität nach der Unsicherheit
der 1990er Jahre als wichtiger denn das Risiko möglicher Veränderungen.

 

Diese
Grundhaltung scheint sich langsam zu ändern. Schuld ist die Wirtschaftskrise.
Im vergangenen Jahrzehnt (eben bis 2008) konnte die politische Führung die
meisten Verteilungsauseinadersetzungen (sowohl innerhalb der Elite als auch
zwischen der Elite und der Bevölkerung) dadurch beruhigen, dass alle etwas mehr
bekamen, wenn auch die einen mehr Mehr und die anderen weniger Mehr. Das ist
nun vorbei.

 

Wie der Publizist
Kirill Rogow in einem „Demokratie 2010: Vergangenheit und Zukunft des
Pluralismus in Russland
“ (erschienen in der vom Carnegie Moscow Center auf
Russisch herausgegebenen Vierteljahreszeitschrift „Pro et Contra“) schreibt,
ist die Annahme irrig, dass wieder steigende Ölpreise Russland auf den
bisherigen Wirtschaftspfad zurück führen würden. Schon in der zweiten Hälfte
des vergangenen Jahrzehnts waren nicht die Ölpreise die treibende Kraft hinter
dem hohen russischen Wirtschaftswachstum, sondern interne Faktoren, vor allem
ein enormer Ausbau des Dienstleistungssektors. Das wird so nicht wieder kommen.
Die Wirtschaftskrise hat zu großer Nervosität im Land geführt.

 

Eines der Ergebnisse dieser Nervosität ist die
Medwedjewsche „liberale“ Rhetorik. In einer ganzen Reihe von Reden und
Artikeln hat Medwedjew seit dem vergangenen Sommer immer wieder die
„Modernisierung“ des Landes eingefordert und eine ganze Reihe von Initiativen
auf den Weg gebracht: gegen Korruption, für eine Reform der Polizei, Reform des
Gesundheitswesen, des Bildungswesens usw. Doch bisher ist (erneut: fast) nichts
passiert. Die Worte blieben Worte und wurden keine Politik. Immerhin ist der
„Raum des Erlaubten“ (Masha Lipman) größer geworden. Es darf auch im
kremlkontrollierten Diskurs (vulgo: im Fernsehen) über mehr und kritischer
berichtet und diskutiert werden als zuvor. Doch erneut: Politik ist daraus noch
nicht geworden. Alles was von oben kommt und sei es vom angenommen „liberaleren“
Oben fordert nicht den autoritären (oder: nicht demokratischen) Charakter des
politischen Systems an.

 

Es bleibt vorerst
dabei: Selbst Änderungen zum Guten aus einem demokratischen Blickwinkel dürfen
nur unter strenger Kontrolle statt finden. Das ist schließlich der Sinn einer „gelenkten
Demokratie“. Und das meint Wladislaw Surkow, stellvertretender Chef der
Präsidentenadministration, wenn er erklärt, Russland werde den „ukrainischen
Fehler“ nicht machen.

 

Zwar gab es in
den vergangenen Monaten einige Proteste, wie zum Beispiel eine All-Oppositionsparteien-Koalition
in Kaliningrad mit mehr als 10.000 gegen den Kreml protestierenden Menschen in
den Straßen. Doch inzwischen ist wieder (fast) alles ruhig. Von politischem
Protest keine Spur und von politischer Opposition (natürlich auch und vor allem
die Frucht jahrelanger Unterdrückung) auch nicht.

 

Die Macht des Kremls,
des Tandems Putin/Medwedjew sehen also ungefährdet aus. Und trotzdem herrscht Unsicherheit. Warum?
Es ist etwas in der Luft, Veränderung. Allerdings auf seltsame Weise. Es herrscht sehr große, Lager übergreifende
Einigkeit, dass sich gerade etwas ändert (ändern muss). Die Opposition hofft
darauf, die Regierung versucht die unabänderlichen Veränderungen zu
kontrollieren und zu kanalisieren.

 

Die Unsicherheit
hat aber auch (vielleicht sogar vor allem) damit zu tun, dass niemand so recht
weiß, wohin die Reise geht. Noch beunruhigender scheint zu sein, dass niemand
die sozialen und politischen Subjekte nennen kann, die als notwendig erkannten
Veränderungen voranzutreiben. Es sei denn, die Kremlführung selbst. Denn das
Putin-Regime hat alle politische Konkurrenz und damit auch alle von ihm unabhängigen
politischen Subjekte ausgeschaltet. Je größer aber der unbewältigte Problemberg
wird, umso größer wird auch die Erkenntnis im Land werden, dass die jetzige
Führung es nicht schafft. Ersatz steht aber nicht bereit.

 

Es ist in Mode,
diese Situation mit den letzten Jahren der Sowjetunion zu vergleichen, in der
es außer der Partei(spitze) auch keine politischen Subjekte gab. Doch der
Vergleich hinkt. Zum einen ist es wirtschaftliche gesehen lange nicht so
schlimm wie damals (allerdings waren seinerzeit die Ansprüche auch kleiner). Zum
anderen gab es in der Bevölkerung zwei weitgehend unbefleckte Hoffnungsträger: den
Westen und eine Reihe sowjetischer Intellektueller, aus der Intelligenzija, die
in Russland und später der Sowjetunion eine große moralische Autorität besaß. Beide
stehen nicht mehr zur Verfügung, weil beide im (vom Kreml fortwährend
geschürten) Massenbewusstsein mit den unsicheren und armen, den im
Kremlsprachgebrauch „chaotischen“ 1990er Jahren verbunden sind.

 

Die gegenwärtige Krise ist also eine Krise, in der die Hoffnungsträger
abhanden gekommen sind. Das Putin-Regime hat sich alternativlos gemacht. Nun
fehlt ihm die Alternative. So ist es dazu gekommen, dass (fast) alle meinen es müsse (werde) sich etwas ändern, trotzdem aber (fast) alles so weiter geht wie bisher.


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