Die Dumawahlen nahen, die Umfragezahlen
für Einiges Russland sind finster und die Nervosität im kollektiven
«Kreml» scheint zu steigen. Jedenfalls legen das die völlig
unangemessenen Ausfälle der vergangenen Tage bis in höchste
Macht-Ränge gegenüber den unabhängigen WahlbeobachterInnen von
GOLOS nahe, mit denen auch die Heinrich Böll Stiftung zusammen
arbeitet. Den Anfang machte am vergangenen Samstag die von der
Regierung herausgegebene Tageszeitung Rossijskaja Gaseta. Unter der
Überschrift «Die Stimme des Geldes» verunglimpfte sie GOLOS, mittels
ausländischer Finanzierung böswillig die kommenden Wahlen
verfälschen zu wollen.
Dass dieser Artikel nicht die
Initiative der Zeitungsredaktion war, zeigte sich schon einen Tag
später, als Wladimir Putin vor 11.000 Delegierten der Kremlpartei
Einiges Russland in seiner Nominierungsrede als
Präsidentschaftskandidat in übler Manier ausfällig wurde. «Ich
weiß», sagte Putin, «dass im Vorfled der Wahlen zur Staatsduma und
zum Präsidenten einige ausländische Staaten jene versammeln, denen
sie Geld geben, den sogenannten 'Empfängern von Zuwendungen', sie
instruieren, sie auf die entsprechende 'Arbeit' einzustellen, um
damit auf den Gang der Wahlen in unserem Land selbst Einfluss zu
nehmen.» Das sei «nutzlose Arbeit», fuhr Putin fort, «wie man in
unserem Volk sagt, aus dem Fenster geschmissenes Geld. Denn ersten
ist Judas in unserem Volk nicht die angesehendste Person aus der
Bibel. Und zweitens sollte sie dieses Geld besser zur Rückzahlung
ihrer Staatsschulden nutzen, als damit ineffektive und kostspielige
Außenpolitik zu betreiben.» Mit letzterem waren offensichtlich vor
allem die USA gemeint.
Anfang der Woche dann wandten sich
Abgeordnete der Dumaparteien Einiges Russland, LDPR (Schirinowskij)
und Gerechtes Russland an Generalstaatsanwalt Jurij Tschajka. Er
solle Einschreiten, weil GOLOS angeblich die russische
Wahlgesetzgebung verletzte und das Wahlergebnis verfälschen wolle.
Das ist natürlich alles Unsinn. GOLOS
macht nicht mehr und nicht weniger als die Wahlen zu beobachten und
über mögliche Verletzungen der Wahlprozedur zu berichten. Das kann
dann geglaubt oder nachgeprüft werden und möglicherweise auch als
nicht stichhaltig verworfen. Dadurch können aber selbst bei größter
Phantasie keine Wahlen verfälscht werden.
Der Hintergrund dieser Anschuldigungen
dürfte, wie auch Memorial in einer Erklärung zur Unterstützung von
GOLOS (dokumentiert unten) vermutet, umgekehrt vielmehr sein, möglichst viele wachsame
Augen auszuschalten, denn auch die neuesten Umfragen deuten weiter
auf nichts Gutes für Putins Partei Einiges Russland (mit
Spitzenkandidat Dmitrij Medwedjew). Danach ist selbst die absolute
Mehrheit für die «Partei der Gauner und Diebe» (dieses Label
klebt wie Sekundenkleber an den Kremlknechten) gefährdet. Einige
Umfragen sehen sehen sogar weniger als 40 Prozent für Einiges
Russland.
Daran hat im Übrigen auch der extra
deshalb für den Sonntag vor der Wahl angesetzte
Nominierungsparteietag von Einiges Ruslsand für Putin nichts
geändert. Es könnte also durchaus sein, dass nicht die
Umfragelokomotive Putin (immer noch zwischen 60 und 65 Prozent
Zustimmung) Einiges Russland mit nach oben zieht, sondern das
Bleigewicht Einiges Russland die Zugkraft der Lokomotive Putin
beeinträchtigt.
Bei den Wahlen 2007 Hatte Einiges
Russland noch gut 64 Prozent bekommen (zugegeben, es wurde auch da
ein wenig nachgeholfen) und damit wegen wegfallender Stimmen von
Parteien, die die 7-Prozent-Hürde gerissen hatten, eine
Zweidrittelmehrheit, die auch zu Verfassungsänderungen genutzt wurde
(unter anderem beim Wahlrecht).
Nun sind Umfragen auch in Russland
Umfragen und das Wahlergebnis wird schon wegen der zu erwartenden
Fälschungen höher ausfallen. Aber je geringer die wirkliche
Stimmenzahl von Einiges Russland ausfallen wird, um so mehr und
gröber muss gefälscht werden. Mehr und gröbere Wahlfälschungen
erhöhen aber die Wahrscheinlichkeit von Protest und ähnlichen
Unannehmlichkeiten. Daher die Nervosität.
Es gibt aber auch Stimmen, die sagen,
Putin wäre ein schlechtes Ergebnis für Einiges Russland gar nicht
so unrecht. Das hätte für ihn demnach gleich mehrere Vorteile. Zum
einen würde es Medwejew als Spitzenkandidat einen weiteren schweren
Dämpfer geben. Putin könnte dann, so die Argumentation, sogar
erwägen, die Abmachung seinen Kompagnon zum Premierminister zu
machen nicht einhalten oder ihn nach kurzer Zeit wieder abzusetzen.
Außerdem würde ein schlechtes Ergebnis erneut zeigen, dass es nur
einen gibt, Putin, der das Land zu beherrschen versteht. In Zeiten
wachsender Kritik an ihm wäre all seinen Gefolgsleuten deutlich
gemacht worden, dass sie ohne ihn nicht an der Macht bleiben. Mag
sein, dass das ein riskantes Spiel ist. Aber die Zeiten sind rauer
geworden.
—————–
Zur Unterstützung
der Assoziation GOLOS
Erklärung der
Internationalen Gesellschaft Memorial
30. November 2011
Je
näher die Dumawahlen kommen, umso größer wird die Nervosität der
russischen Machthaber.
In
den vergangenen Tagen wurde die Assoziation GOLOS, die seit 2000
Wahlen beobachtet und Verletzungen fixiert, beispiellos angegriffen
Die Zeitung
«Rossijskaja Gaseta» hat über diese angesehene Organisation einen
Artikel veröffentlicht, der sich in keiner Weise von denen
unterscheidet, die zu Sowjetzeiten über Andrej Sacharow oder
Alexander Soschenizyn geschrieben wurden.
Abgeordnete der
Parteien Einiges Russland, LDPR und Gerechtes Russland haben dem
Generalstaatsanwalt Tschajka eine kollektive Anfrage zugeleitet, in
der sie ihn bitten auf die Tätigkeit der Assoziation GOLOS zu
reagieren und darauf hinweisen, dass GOLOs angeblich in grober Weise
die russische Wahlgesetzgebung verletzt.
Der Hauptvorwurf ist
in KGB-Tradition einfach: Die Organisation bekommt Geld von
ausländischen Organisationen und das bedeutet für die Klage
Führenden, dass ihre Arbeit den russischen Staat untergräbt. Genau
diese Anschuldigung war auch in äußerst grober Form aus dem Mund
von Putin auf dem Parteitag von Einiges Russland zu vernehmen.
Wir sehen keinen Sinn
darin von der Staatsmacht zu fordern, die verleumderische Kampagne
gegen die unabhängigen Beobachter einzustellen und sich bei GOLOS zu
entschuldigen. Solcher Art Hysterie hört nicht wegen irgend jemandes
Forderungen auf.
Wir wollen lediglich
die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit darauf lenken, dass die
gegenwärtigen Machthaber sich keinesfalls um eine mögliche
Verfälschung des Wählerwillens im Laufe der Abstimmung und bei der
Stimmenauszählung sorgen, sondern um Aktivität derjenigen, die
diese Verfälschungen bemerken und aufdecken könnten. Die Gründe
für solch einseitige Sorge dürften offensichtlich sein.
Wir drücken unsere
Unterstützung und unsere Hochachtung für die Assoziation GOLOS und
für alle aus, die mit Kräften dazu beitragen, die Zahl der
möglichen Wahlfälschungen zu verringern.