Von der Scham über die Rechtlosigkeit in Putins Russland

Direkt nach der erniedigenden Selbstentmannung Dmitrij Medwedjews, als er Wladimir Putin als neu-alten Präsidenten vorschlug, habe ich in diesem Blog über Gefühle geschrieben, über das flaue Gefühl im Magen, das mich nach dieser Inszenierung beschlich. Eine der häufigsten Reaktionen darauf war die Verwunderung, warum mich das so mitnähme. Es sei doch schon seit langem klar gewesen, dass es so und Putin wieder komme. Das mag stimmen, wenn auch nicht ganz. Und trotzdem ist es immer wieder etwas anderes, zu wissen oder zumindest zu ahnen, dass etwas Schlechtes eintreten wird, und es dann tatsächlich zu erleben. Das über mich. Nun zu Russland.

Seit zwei-drei Jahren schon wächst die Empfindung (vielleicht mehr als das Wissen), dass es „so nicht mehr weiter gehen kann“. Gleichzeitig weiß aber niemand das oder die Subjekte zu benennen, die die notwendigen Änderungen vorantreiben könnten (außer leider in vielen Katastrophenszenarien mit noch mehr Gewalt und noch weniger Freiheit). Daher die Hoffnung auf Medwedjew, oft eben wider besseres Wissen. Und daher auch der nach dem Schock nun einsetzende Schmerz. Dieser Schmerz wird langsam öffentlich. Als erstes natürlich im Internet. 

Eines der ersten Beispiele dieser veröffentlichen Innerlichkeit habe ich übersetzt und dokumentiere es hier. Ich bin nicht mit allem einverstanden, was der Autor schreibt, und manche seiner Vergleiche scheinen mir schief oder gar problematisch. Doch darum geht es nicht. Der Text gibt sehr genau eine weit verbreitete Stimmung wieder. Eine Stimmung, wohlgemerkt, nicht mehr nur unter den üblicherweise verdächtigten Demokraten, Liberalen, Westler und welche Labels es sonst snoch so gibt für all diejenigen, die einfach anständig leben wollen.  

Veröffentlicht wurd der Text am 27. September 2011 in der Internetzeitung Snob.Ru:

 

„Was hat mir Putin Schlechtes getan? Warum die Schande der russischen Machthaber mich persönlich
betrifft“  
 

Von Nikolaj Klimenjuk  

Alle haben in den vergangenen Tagen über Putin geredet. Eine
meiner Freundinnen sagte: „Warum nehmen sich alle das so zu Herzen? Nun, Putin,
unangenehm, ja. Aber mir persönlich hat er nichts Schlechtes getan, und Dir
auch nicht. Und vor dieser ganzen Widerlichkeit habe ich mich schon lange in die
innere Emigration zurück gezogen.“
 

Ich habe, wie alle anderen auch, diese Gespräche satt und
deshalb nichts erwidert. Obwohl ich mit meiner Freundin überhaupt nicht
einverstanden bin. Putin hat mir persönlich viel Schlechtes getan. Ich werde
mich bemühen, alles aufzuzählen.
Wie es scheint, hat sich die Zahl der Armen im Lande
halbiert. Das Durchschnittseinkommen ist um das Sechsfache gestiegen. Auch bei
mir. Und was haben wir davon?
 

Putin hat mir die Möglichkeit genommen, ernsthafte
Zukunftspläne zu machen. Wenn alle klar ist, dass die Stagnation vor der Tür
steht oder, schlechter noch, bald alles zusammenbrechen kann, ist es schwer,
sich mit langfristigen Plänen zu beschäftigen. Zum Beispiel Karriere. Warum
sollte ich in Russland Karriere machen wollen und wie könnte die aussehen? Nur,
um gleich eine neue Arbeit zu bekommen, wenn ich die alte verloren habe? Wohin
soll ich mich entwickeln, wenn ich Publizist bin und über gesellschaftliche und
politische Themen schreibe? Ehrlich gesagt ist das nicht der erfolgversprechendste
Beruf im putinschen Russland. Und ich spreche noch gar nicht von der großen
Zahl meiner bekannten, die wenn schon keine Karriere, so doch Pläne im Ausland
machen. In der wirklichen Emigration, nicht der inneren. Es ist schwer in einem
Land zu leben, das die Hoffnung verliert. Besser gesagt, in dem die Hoffnung
auf Veränderungen nur mit einer Wirtschaftskrise verbunden sind. In dem die
einzige handlungsfähige Alternative zur gegenwärtigen Macht Nationalisten sind,
die von eben dieser Macht selbst herangezüchtet wurden.
 

Putin hat mir das letzte Bisschen Gefühl von Sicherheit
genommen. Am Beginn der 2000er Jahre hat die Miliz zum Beispiel noch etwas
gefürchtet. Den Bullen konnte man sagen: „Dazu habt ihr kein Recht“. Und wenn
sie es tatsächlich nicht hatten, haben sie oft aufgehört. Ich bin 41 Jahre alt,
aber ich traue mich ohne meinen Personalausweis nicht aus dem Haus: Ich habe
dunkle Haare und eine verdächtige Schnauze. Die Bullen kontrollieren mich so
oft (der Gerechtigkeit halber muss ich sagen, dass das keine Errungenschaft des
putinschen Russland ist, unter Jelzin war es genau so), dass ich dazu immer
bereit sein muss. Und so wähle ich jedes mal, wenn ich aus dem Haus gehe
zwischen der garantierten kleinen Erniedrigung, wenn ich den Pass einstecke,
oder der möglichen, wenn auch nicht notwendigen großen Erniedrigung, wenn ich
nach meinen Dokumenten gefragt werde und ich sie nicht dabei habe. Und wenn sie
dreimal nicht das Recht dazu haben: Für mich wird es schlecht enden und nicht
für sie. Ich wähle also die kleine Erniedrigung und denke, das ist wie einen
Regenschirm mitnehmen, wenn es draußen bewülkt ist. Das ist sehr ermüdend.
 

Mit allem, was Putin tut, greift er mein Würdegefühl an. Um seine Würde zu schützen muss man sich die ganze Zeit winden,
sich etwas ausdenken, irgendwelche Strategien zu seiner Erhaltung. In
totalitären Regimen ist das allgegenwärtig, in einer ungeheuerlichen,
unausweichlichen Weise. Irgendwo habe ich vor kurzem vom
nationalsozialistischen Gruß gelesen: In Deutschland verdrängte damals „Heil
Hitler“ das „Hallo“ und das Händeschütteln selbst in der Privatsphäre. Sich
normal zu begrüßen wurde zu einem Widerstandsakt, obwohl niemand es direkt
verboten hat. Sich beim Treffendie Hand zu geben, wurde gefährlich. Also gingen
die Leute diesen „kleinen Kompromiss“ mit ihrem Gewissen ein und das hat das
Gewissen zerfressen. Auch bei uns besteht das Leben aus einer Trillion kleiner,
nicht schrecklicher, aber genau so aufgebauter Kompromisse. Angefangen von der
Alltagskorruption, über den ausgeschalteten Fernseher bis zur Unterwerfung
unter sinnlose und erniedrigenden bürokratische Prozeduren. Immer mit dem Pass
in der Tasche.
 

Noch ein wenig über Geborgenheit. Im Moment werde ich in
Ruhe gelassen. Aber ich weiß, dass, wenn jemand das Haus abreißen lassen
möchte, in dem ich lebe, werde ich keine Möglichkeit haben, mich dagegen zu wehren.
Außer ich würde einen kleinen Krieg anfangen. Wenn ein Bulle oder ein anderer Beamter
mit seinem Wagen in meinen kracht, dann werde ich Schuld sein. Wenn ich irgend jemandem
im Weg stehe, dann können sie mich für eine beliebige zeit einbuchten, mit
einer beliebigen Begründung, wie sie gerade wieder, ohne jede Beweise, einen
Mann für 13 Jahre hinter Gitter geschickt haben, weil er angeblich seine eigene
Tochter vergewaltigt haben soll, was er nicht hat. Stehe irgend jemanden dort
an der Macht im Weg und ganz schnell werden „trockene Samenzellen im Urin“ oder
„Beleidigung von Ehre und Würde“. Irgend etwas werden sie unbedingt finden. Und
nichts wird helfen: nicht die völlige Unschuld, kein Lärm in der Presse, kein
hoher sozialer Status. Sie haben mit dem Fall JuKOS angefangen und mit 13 Jahren
für einen zufälligen Menschen aufgehört, der niemanden gestört hat und von dem
sie nichts gewollt haben. In diesem Land gibt es keine Spielregeln mehr. Was
sollen da die „Märsche der Nicht-Einverstandenen“? Heute ist überhaupt nicht
klar, was man darf und was man nicht darf, damit mit einem nichts passiert. Das
kann man, wenn überhaupt, nur vergessen, um nicht verrückt zu werden. Und das
ist das direkte Verdienst von Putin.
 

Viele von uns haben ihren Fernseher weggeworfen, weil man
sonst, wenn man ihn zufällig einschaltet, im Strom der Scheiße, der Lüge und
der Propaganda untergehen kann. Das Fernsehen ist vergiftet und deshalb
verzichten wir darauf. Nicht weil wir prinzipiell gegen Fernsehen sind, sondern
weil es so einfacher ist. Man kann auch ohne Fernsehen leben. Und genau so
schalten wir uns immer mehr vom Land ab. Die öffentliche Erniedrigung
Medwedjews auf dem Partietag von Einiges Russland war eine Erniedrigung aller
Bürger. Vier Jahre lang haben sie versucht, das ganze Land davon zu überzeugen,
dass man diesen Menschen achten muss. Man schämt sich, internationale Presse zu
lesen: Da schreiben sie von Putinlandia und über das ehemals stolze Land, das sich
wie ein Zwergherzogtum aufführt. Das ist die Schande, die Putin über Russland
bringt – und das ist auch meine Schande. Und wenn man aus einem Selbsterhaltungsinstinkt
heraus das nicht bemerken will, dann ist das genau die innere Emigration. Und
dann ist Russland mit Putin für Dich wie Venezuela mit Chavez oder Iran mit
Ahmadinedschad – alles dasselbe. Als Blair sich am Krieg im Irak beteiligt hat
sind die Briten zu Hundertausenden mit Plakaten „Not in My Name“ auf die Straße
gegangen, damit sie sich nicht so für ihr Land schämen müssen. Und dann haben
sie Labour nicht wieder gewählt, obwohl die Neuen auch nicht besser sind. Aber
bei uns? Entweder muss man mit der ständigen Scham für sein Land leben oder sich
innerlich von ihm abwenden.
 

Mir scheint, dass ist schon genug, um Putin für meinen
persönlichen Feind zu halten.
 

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Und so charakterisiert sich der Autor selbst:
 

Nikolaj Klimenjuk hat sich in der Morgenröte seines
bewussten Lebensalters mit Literaturtheorie beschäftigt. Dann wurde er, rein
zufällig, Journalist: Die Liebe zur deutschen Oper hat ihn reingelegt. Er
schrieb Rezensionen, moderierte ein scharlatanisches Programm im Radio über
klassische Musik und arbeitete als Redakteur für unterschiedliche Publikationen
über Stile und Lebensstile. Mit den Jahre wurde er ernsthafter. Er ist Choleriker und Misanthrop. Im Freundeskreis gilt das aus irgendwelchen Gründen als Vorzug. 


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