Am 11. Dezember, nun schon vor mehr als einer Woche, passierte, was passieren musste: Eine aufgebrachte große Menge junger Männer, von denen sich die meisten als „Russen“ im ethnischen Sinn betrachten, forderte an der Kremlmauer „Russland den Russen“ und „Moskau den Moskauern“. Einige schritten auch gleich zur Tat. Dabei schlugen sie nicht, wie in einem russischen Blog geschrieben wurde, „aufgrund des Passes“, sondern „aufgrund der Schnauze“ (auf russisch lakonischer: „ne po pasportu, a po mordu“). Wer also „nicht russisch“ (in der Praxis bedeutet das: „nicht europäisch“) aussah, war in höchster Gefahr. Die russische Miliz tat, was sie kann. Sie schlug mit zu und vergrößerste Chaos und die Anzahl der blutigen Gesichter eher noch.
Ähnliches wiederholte sich in den kommenden Tagen in vielen anderen russischen Städten, auch in Moskau. Im Internet brodelt seither die Gerüchteküche. Aufrufe russischer Nationalisten sich da und dort zu versammeln, werden mit Aufrufen „kaukasische Bruderschaften“ beantwortet, sich zahlreich zur Selbstverteidigung zu versammeln. Die Polizei, nun vorbereitet änderte Ihre Taktik, zeigte massive Präsenz und verhaftete mehr oder weniger wahllos alle jungen Männer, die irgendwie verdächtig scheinen. Mal von 1.000, mal von 2.000 Verhaftungen wird berichtet. Zahlen, die schwer nachzuprüfen sind. Die große Schlacht, die sehr schnell ein großes Schlachten werden könnte, ist zum Glück bisher ausgeblieben, auch wenn natürlich die brutalen Schlägereien, am liebsten zehn gegen eins, vom vorvorigen Samstag auf dem Manegenplatz in Moskau schon schrecklich genug waren.
Die Reaktionen der Staats- und Stadtführung auf diesen nicht wirklich unerwarteten Gewaltausbruch blieben bisher seltsam unbeteiligt, um nicht zu sagen unbeholfen. Präsident Medwedjew verurteilte in drei Twitter-Meldungen die Gewalt. Später sprach er richtige, aber emotionslose Worte von „religiösem, rassischem Hass“ dem mit allen Mitteln und hart begegnen werde. Premierminister Putin schwieg überhaupt, bis er am vergangenen Donnerstag in einer viereinhalbstündigen Frage- und Antwortrunde im Fernsehen so ziemlich das Gleiche sagte wie Mewedjew. Eine knappe Woche brauchte auch der neue Moskauer Bürgermeister Sergej Sobjanin zu einer halbwegs klaren Reaktion. Er ist immerhin für Recht, Ordnung und Sicherheit in Moskau verantwortlich.
Ganz geschwiegen hat die graue Eminenz der gelenkten Demokratie, der stellvertretende Vorsitzende der Präsidentenadministration Wladislaw Surkow. Das könnte einen guten Grund gehabt haben. Zwei Tage vor dem 11. Dezember hatte Surkow führende VertreterInnen kremlnaher Jugendorganisationen (Naschi, Molodaja Gwardija, Mestnyje, Stal, Rossija Molodaja) versammelt, um sie auf die bevorstehenden Wahlkämpfe einzustimmen: „Bereitet Euch auf die Wahlen vor. Trainiert Eure Hirne und Muskeln. Ihr könnt immer auf unsere Untertsützung rechnen“, spornte Surkow die jungen kämpferInnen an. Und weiter: „Unsere Gegner aber (all diejenigen, die vin ausländischen Zentren finanziert werden und danach streben, unsere demokratischen Institute zu zerstören), wissen, dass sie nicht durchkommen werden, solnage es Euch gibt“.
Soweit so normal (jedenfalls für Surkow). Zumindest ein Geschmäckle bekamen diese Worte aber im Zusammenhäng mit den nationalistischen Straßenschlachten, deren Auslöser der Tod eines (ethnisch) russischen Fußballfans war, der von aus dem Kaukasus stammenden jungen Männern erschossen wurde. Die Kauksier und insbesondere der Schütze geben an, in Notwehr gehandelt zu haben. Sie sind in Haft und die polizeiliche Untersuchung ist noch im Gange. An den darauf ausgebrochenen Unruhen haben sich ganz unterschiedliche Gruppen beteiligt. Da waren „normale“ Fußballfangruppen. Sehr schnell sind nationalistische bis neonazistische Organisationen auf den Zug aufgesprungen und haben durchaus erfolgreich versucht, die Sache auf einen ethnischen Konflikt zuzuspitzen.
Eine besonders wichtige Rolle spielen aber wohl, soweit man das schon sagen kann, die im russischen Slang sogenannten „Firmen“. das sind Hooligan-Gruppen, die den Fußball vor allem als Vorwand für Straßenschlachten nutzen. Oft sind die Schlägereien untereinander vorher verabredet. Das ist keine besondere russische Sache, solche Gruppen gibt es in fast allen europäischen Ländern und sie bilden meist den Kern gewaltbereiter Fangruppen. In den russischen Firmen gibt es viele Nationalisten und Neonazis, die Übergänge zu deren politischen Organisationen sind fließend (wie, am anderen Ende, auch zu den „normalen“ Fanclubs).
Warum das hier so ausführlich? Genau diese „Firmen“ haben einigen der Kreml-Jugendorganisationen, vor allem den „Naschi“ in der Vergangenenheit immer mal wieder als Sturmabteilungen gedient. Die Verbindungen sind eng, wie weit auch personelle Verflechtungen gehen, bleibt weitgehend im Dunkeln.
Der Kreml (und auch seine Zöglinge) weisen natürlich auch nur zufällige Ähnlichkeiten ihrer Ideologie eines „starken Russland“ mit nationalistischen oder gar neonazistischen Ideen strikt zurück. Doch wie so oft sind es die unerwünschten Nebeneffekte, die zu schaffen machen. Wer den Sieg über das nationalsozialistische Deutschland im Zweiten Weltkrieg zum Grundstein einer gesellschaftlichen Konsolidierung macht, aber des Oberbefehlshaber Stalins Verbrechen beredt beschweigt, macht Stalin und den Stalinismus populärer. Wessen Ideologie Russland zu einer belagerten, von Feinden umgebenen Festung stilisiert, bekommt wachsende Fremdenfeindlichkeit im Inneren.
Das spezielle russische Problem dabei ist, dass sich „Innen“ und „Außen“ noch stärker und noch intimer vermischen als das in einer immer globalisierter werdenden Welt ohnehin schon der Fall ist. Das war schon bei den Ausschreitungen gegen Georgier vor vier Jahren so, von denen die meisten russische Staatsbürger sind. Immerhin gibt es einen souveränen Staat Georgien außerhalb Russlands.
Aber wenn es heute gegen „die Kaukasier“ geht, dann sind Georgier eher weniger gemeint. Auch Aserbeidschaner und Armenier geraten den russischen Nationalisten eher ihres Äußerens wegen unter sie Fäuste. Ziel der Gewälttätigkeiten sind vor allem „unsere“ Kaukasier, also Tschetschenen, Dagestaner, Inguschen, Tscherkessen oder Karbadiner, alles ethnische Gruppen, die keinen eigenen Staat irgendwo anders haben. Deren Heimat, der Nordkaukasus, wird von russischen Nationalisten als „rechtmäßige russische Erde“ betrachtet, die man aber am liebsten ohne ihre Bewohner hätte. Oder zumindest sollten jene nicht aufmucken.
Außerdem gibt es in den russischen „Kernlanden“ viele „MigrantInnen“, die sich aber gar nicht als „MigrantInnen“ wahrnehmen (und bis vor kurzem auch von den dort angeblich „Einheimischen“, den ethnischen Russen nicht als „MigrantInnen“ wahrgenommen wurden. Wenn auf dem Manegenplatz gerufen wird „Moskau den Moskauern“, dann können viele der Menschen, deren Vorfahren einst aus dem Süden hierher kamen, sich mit gutem Recht nicht angesprochen fühlen. Sie sind Moskauer, hier geboren, oft schon in der vierten oder fünften Generation. Umgekehrt ist die immer größer werdende Metropole Moskau ein typischer „Einwandererplatz“. Mehr als die Hälfte der heute in Moskau lebenden Menschen ist hier nicht geboren.
Die Auseinandersetzungen auf russischen Straßen haben zudem einen sozialen Hintergrund. Viele der nationalistischen Demonstraten und Schläger gehören zu den Modernisierungsverlierern, zu den wenig mobilen und schlecht gebildeten Teilen der russischen Gesellschaft. Genau sie sind es aber, auf die sich das Putin-Regime (neben den Rentnern) vor allem stützt. Ihnen wurde immer wieder gesagt, wie gut, wie überlegen, wieviel besser Russland und die Russen sind als die anderen. Und sie haben es geglaubt (oder zumindest glauben wollen). Aber angekommen ist vom neuen Reichtum des Landes bei ihnen wenig. Und gebraucht werden sie auch nicht. Umfragen zufolge wenden sie sich von Putin ab, der zunehmend als ein Vertreter der Oligarchen wahrgenommen wird (mit dem Intellektuellensöhnchen Medwedejew können diese Leute ohnehin nichts anfangen).
Der Unterschied zwischen den jüngsten Ereignissen und zum Beispiel dem antigeorgischen Aufruhr vor vier Jahren ist, dass dieser einer politischen Kampagne von oben folgte. Heute ist er Teil eines Unwillens mit dem Staat und seiner Führung.