Regelmäßige Leserinnen und Leser dieses Blogs werden unschwer gemerkt haben, dass ich der These, Putin und Medwedjew könnten in wachsender politischer Konkurrenz zu einander stehen, skeptisch gegenüber stehe. Außer Worten spricht bisher nichts dafür. Allerdings haben wir wiederum auch kaum mehr als Worte, um uns eine Reim auf die Vorgänge innerhalb der russischen Machtelite zu machen. Dabei gibt es prinzipiell zwei Möglichkeiten: Wir könnten einerseits die handelnden Personen beim Wort nehmen. Das tun, meiner Erfahrung nach, wenn auch natürlich in diesen kritischen Zeiten nie in reiner Form, eher Menschen die nicht in Rusland leben. Andererseits sind Worte eben „nichts als Worte“. Und wenn ihnen keine Handlungen folgen, dann waren sie vielleicht leer, nie so gemeint. Oder gar dazu da, etwas zu verschleiern. Zu dieser Interpretationsweise neigen, erneut spreche ich aus Erfahrung, eher Menschen, die in Russland leben.
Dass ich mich eher der letzteren Gruppe zugehörig fühle, könnte also schlicht daran liegen, dass ich schon zu lange in diesem Land lebe und mit seiner Politik beschäftige. Das wäre dann eine Art Berufsblindheit. Doch ich hoffe zumindest, dass die Sache nicht so einfach ist. Zurück zu den Worten.
In seinem Videoblog gebrauchte Medwedjew jüngst, am 23. November, erneut scharfe und durchaus klare Worte, die gegenwärtige politische Situation in Russland zu kritisieren:
„Es ist kein Geheimnis, dass in unserem politischen Leben von einer bestimmten Periode an Symptome von Stillstand erschienen sind, die Gefahr entstanden ist, dass Stabilität sich in Stagnation verwandelt. Und solch ein Stillstand ist genauso tödlich für die herrschende Partei wie für oppositionelle Kräfte. Wenn die Opposition nicht die kleinste Chance hat, in ehrlichem Kampf zu siegen, dann degradiert sie und wird marginal.“
Das wirkt wie ein Deja vue. Ähnlich scharf hatte Medwedjew die politische Situation bereits im vorigen Herbst angegriffen, vor allem in seinem Artikel „Vorwärts Russland“ in der Internetzeitung Gazeta.ru. Anschließend wurde groß die Modernisierung des Landes ausgerufen. Im Frühjahr legte das Institut für Moderne Entwicklung, dessen Kuratorium Medwedjew vorsitzt, einen detaillierten Modernisierungsplan vor, der in erster Linie eine Öffnung des politischen Feldes mit wirklicher politischer Konkurrenz forderte. Geschehen ist nichts. Eher umgekehrt. Die Schrauben der gelenkten Demokratie sind noch weiter angezogen worden, inzwischen werden auch, weil in einigen Städten nicht die „Richtigen“ (aus Kremlsicht) gewählt wurden, auch viele Bürgermeister von oben ernannt. Und die neuste Initiative des Kremls sieht vor, künftig auch auf Kommunalebene nur Parteilisten zu Wahlen zuzulassen, was nach einhelliger Beobachtermeinung die Stellung der Kremlpartei „Einiges Russland“ weiter stärken würde.
Wenn nach Konkurrenz zwischen Medwedjew und Putin geschaut wird, muss man sich eben nicht nur die Worte, sondern vor allem die Taten anschauen. Und hier gibt es keine Unterschiede. Allerdings ist auch nicht mehr alles so wie es noch vor einem Jahr war. Die Suche nach einem Modernisierungsweg für das Land ist zwar vergeblich gewesen, aber, siehe Medwedjews Zitat, weiter aktuell. Anstatt politische Konkurrenz im öffentlichen Rau zuzulassen, beschränkt sich die herrschende politische Gruppe bisher aber darauf, Konkurrenz innerhalb der Herrschaftselite öffentlich zu machen.
So erzählt zum Beispiel der Arkadij Dworkowitsch, Wirtschaftsberater Medwedjews im Kreml, jung, smart (wer Russisch versteht, kann ihm auf Twitter folgen), teilweise in den USA ausgebildet, seit einigen Wochen ganz offen, es gebe in der russischen Führung zwei Gruppen. Die eine und größere sehe Modernisierung nur dann möglich, wenn der Staat als Avantgarde (und mit viel Geld) vorangehe und Volk und Land mit sich aus dem Sumpf zöge (der „Gelenkte-Demokratie“-Erfinder und stellvertretende Vorsitzende der Präsidentenadministration Wladislaw Surkow wird oft als Vormann dieser Gruppe genannt). Die zweite, bei weitem kleinere Gruppe, der auch er angehöre, so Dworkowitsch, sei überzeugt, dass eine durchgreifende Modernisierung nur mitttel gesellschaftlicher und politischer Öffnung möglich sei. Dworkowitsch geht sogar so weit zu sagen, dass seiner Meinung nach Medwedjew der zweiten Gruppe angehöre.
Doch allein, dass ein Kreml-Mitarbeiter so offen darüber spricht – und nichts passiert, kein Aufschrei, keine Entlassung, keine Gegenerklärungen – ist ein Beleg dafür, dass es sich um eine neuerdings offenbar „zulässige“ Form innerer Konkurrenz handelt. Dazu passen auch zahlreiche Äußerungen von Surkow in letzter Zeit. In ihnen zeichnet Surkow folgende Vorstellung von Modernisierung: Der Staat geht voran, öffnet sich aber für die Anliegen eine modernen, innovativen Teils der Bevölkerung, die politisch eher liberalen Ideen zuneigen. Die Kontrolle aber bleibt beim Staat.
Die Kunst besteht natürlich auch hier darin, weit genug zu gehen, um den russischen Öltanker vom Fleck zu bewegen, ohne eben die Kontrolle zu verlieren. Abgesehen von meiner Überzeugung, dass das nicht gehen wird, besteht natürlich auch so immer die Gefahr eines Kontrollverlustes. Innere, inszenierte Konkurrenz kann in echte Konkurrenz umschlagen und nach außen durchbrechen. Doch danach sieht es, bisher zumindest noch nicht aus. Insbesondere die Einschätzung von Dworkowitsch über die Kräfteverhältnisse innerhalb des Machtzirkels deuten darauf, dass im Fall des Falles konservative, also autoritäre Tendenzen die Überhand gewinnen. Dafür spricht auch die allgemein geteilte Meinung, Putin sei immer noch die alles überragende – und letztendscheidende – Person.