Seit genau einem Jahr versuchen Oppositionelle in Moskau und anderen russischen Städten vergeblich ihr Recht auf Demonstrationsfreiheit durchzusetzen. Auch am gestriegen 31. Juli gelang es erneut nicht zu demonstrieren. Die Moskauer Stadtverwaltung hatte es, wie an jedem 31. eines Monats zuvor, abgelehnt, den von den Anmeldern gewünschten Demonstartionort, den Triumphplatz im Moskauer Zentrum, „abzustimmen“. Das kommt einem Verbot gleich, weil die Polizei ohne „Abstimmung“ mit den Behörden keine Demonstration zulässt, und das, obwohl das Gesetz keine Erlaubnis vorsieht.
So absurd sieht es mit dem von Präsident Medwedjew immer wieder beschworenen Rechtsstaat aus: Es ist verboten, was nicht verboten ist. Medwedjew hat auch kürzlich ein neues Geheimdienstgesetz unterzeichnet, das es dem Inlandsgeheimdiesnt FSB erlaubt, sogenannte „Verwarnungen“ Menschen gegenüber auszusprechen, die noch nicht Strafbares getan haben, das aber, nach Meinung des FSB, tun könnten. Dieses Gesetz und die Handhabung des Demonstrationsrechts durch Behörden, Polizei und Gerichte zeigen noch einmal deutlich, wo in Russland die Macht sitzt: in der Exekutive und nirgends sonst. Und die Exekutive handelt weitgehend nach eigenem Gutdünken, so der Volkszorn nicht allzu groß wird. Das wird er meistens nicht.
Auch gestern hielt sich die Zahl der DemonstratInnen wieder in Grenzen. Rund 200 Menschen kamen auf den Moskauer Triumphplatz, etwa 100 versammelten sich in St. Petersburg. Ihr Schicksal war gleich. Erst forderte die Miliz sie auf, den Platz zu verlassen (der in Moskau von einer speziell dafür veranstalteten Autoshow belegt war, was als Vorwand für die Nicht-„Abstimmung“ des Demonstrationsortes herhielt, beim vorigen Mal, am 31. Mai, hatte die Stadt eine Blutspendeaktion organisiert), dann schritt sie zu Festnahmen. Immerhin gab es hier einen kleinen Fortschritt gegenüber Mai. Zwar wurden rund 70 DemonstratInnen festgenommen, auf die Milizstation gebracht und müssen nun wahrscheinlich Geldstrafen zahlen, weil sie den Anordnungen der Milizionäre nicht Folge geleistet haben, aber niemand wurde verletzt, es gab keine Gewalt von Seiten der Staatsdiener.
Das mag auch an einer weiteren Disptroporzionalität gelegen haben. Im Gegensatz zu großen Sportereignissen, bei denen die Zahl der Pressevertreter regelmäßig die Zahl der Akteure übertrifft, ist das bei Demonstrationen vor allem in Russland meist nicht so. Doch gestern standen den 200 DemonstratInnen rund 300 JournalistInnen gegenüber.
Zudem hatten sich, nach der Gewalt im Mai, noch Beobachter der „Union der Automobilisten Russlands“ angemeldet. Drei von ihnen wurden gleich mit vehaftet. Die Automobilistenunion kämpft, im Gegensatz zu den DemonstrationsfreiheitsdemonstratInnen, für äußerst populäre Forderungen. Ihr Protest richtet sich gegen die Privilegien und rücksichtslose Fahrweise einer Heerschar von hohen Beamten und sonstigen einflussreichen Leuten, die sich mittels Blaulicht und Martinshorn auf ihren meist dunkelfarbenen und großen Limousinen robust den Weg durch den alltäglichen Moskauer Staudschungel bahnen. Dabei kommen auch schon mal andere Verkehrteilnehmer zu Schaden, wie im Frühjahr zwei Gynäkologinnen, die in ihrem kleinen Citroen frontal mit einem auf die Gegenfahrbahn ausgescherten gepanzerten Mercedes zusammen stießen und starben.
Dieser Unfall und die danach versuchte Vertuschung durch die Verkehrspolizei (der Mercedes gehörte dem Vizechef eines der größten russischen Ölkonzerne) führte zu einem Aufstand im Internet, der selbst Präsident Medwedjew mit der öffentlichen Anordnung, den Unfall „ordentlich“ zuz untersuchen, auf den Plan rief. Die Atomobilunionisten gelten seither als kleine Volkshelden. Ob sie ihren Glanz aber auf die Verteidiger von Artikel 31 der russischen Verfassung (Demonstrationsfreiheit) übertragen können, scheint doch sehr fraglich. Denn die Leute gehen, wenn überhaupt, nur auf die Straße, wo sie ihre Privatsphäre verteidigen. Oder wie es die Verlegerin Irina Prochorowa kürzlich in einem Interview mit der FAZ ausgedrückt hat: „Für die freie Presse werden sie nicht auf die Barrikaden gehen, wohl aber für ihren Wohnraum“.
Ob der Wald von Chimki eher der öffentlichen oder eher der privaten Sphäre zugerechnet werden muss, ist noch nicht ausgemacht. Dort tobt seit drei Jahren ein Kampf gegen den Bau einer Autobahn durch ein Naherholungsgebiet. Chimki ist zwar verwaltungstechnisch nicht mehr Moskau, grenzt aber direkt an die russischen Hauptstadt und die Bebauung geht direkt ineinander über. In den vergangene zwei Wochen kam es dort zur Eskalation. Die Holzfäller rückten an, Baumaschinen gingen in Flammen auf (wobei nicht klar ist, wer sie angezündet hat), die Miliz musste mehrfach anrücken, um Bauarbeiter und Demonstranten auseinader zu halten (wobei nicht klar ist, auf welcher Seite die Miliz steht; klar ist für alle Konfliktbeteiligten nur: nicht auf der Seite des Rechts). Vorige Woche dann griffen Vermummte die Stadtverwaltung von Chimki mit Rauchbomben, Eisenstangen und Molotow-Cocktails an. Angeblich waren das militante linke Gruppen. Die dementieren, einige ihrer Aktivisten wurden aber trotzdem festgenommen.
Premierminister Putin ließ seinen Sprecher kühl mitteilen, alle Genehmigungen seien rechtmäßig erteilt und die Autobahn werde gebaut. Das stimmt. Der Wald ist abgeholzt. Es geht um viel Geld. Denn das Land am Moskauer Stadrand war als Erholungsgebiet wirtschaftlich wenig wert. Als Land entlang einer Autobahn gelten je 800 Meter als bevorzugte Wirtschaftszone. Angesichts der Moskauer Grundstücks- und Immobilienpreise dürften damit viele, viele Millionen Dollar verdienen sein. Die Rechnung der Beteiligten Politiker ist einfach: Der Protest wird bald vorbei sein. Wer immer noch weiter macht, wird als „Extremist“ oder „Hooligan“ verunglimpft und nötigenfalls gerichtlich verfolgt. Das könnte aufgehen. Wenn die Menschen den Wald eben doch eher der öffentlichen als der privaten Sphäre zugerechnen.