Surkov nimmt erneut Berlin

Es bewegt sich was in Russland. Die Krise sschüttelt vieles durcheinander. Nur wohin es geht, vor zurück oder gar im Kreis, ist unklar. Am Jahrestag der Wahl von Dmitrij Medwedjew zum Präsidenten diskutierten kremlnahe Experten auf einem Forum unter dem Titel „Strategie 2020“, darüber, wie es weiter gehen soll. Zwar ging es auch diesmal, wie bei Valerij Fadejew, Chefredakteur des Wirtschaftsjournals „Expert“, nicht ohne liebdienerische Referenzen nach ganz oben. Er nannte Medewedjew einen Mann, der „sich als harter Politiker bewährt“ und als „fähig zum feinziselierten diplomtischen Spiel“ gzeigt habe. Aber andere geprüfte Fahrensmänner der gelenkten Demokratie zeigen plötzlich Zweifel am eingeschlagenen Weg und beklagten die Bedeutungslosigkeit des Parlaments und die Schwäche des politischen Systems angesichts der Krise.

Dieser Defätismus ließ Wladislaw Surkow, den allseits als Konstrukteur der gelenkten Institutionen gehandelten stellvertretenden Leiter der Präsidentenadminstration (unter Ptuin und unte Medwejew), nicht schweigen. Und er griff zum ganz großen Hammer. Er geiselte die „in politologischen Kreisen modische Überlegung“ es habe in den vergangenen acht Jahren eine Art Vertrag zwischen „Macht“ und „Volk“ gegeben nach dem Motto: „Die Macht verteilt Öldollar und füttert alle durch und die Gesellschaft verzichtet im Gegenzug auf Rechte und Freiheiten“. Das sei, so Surkow, verführerisch einfach. „Diejenigen, die so etwas behaupten, mächte ich daran erinnern: Das Taktgefühl sollte sie auch in Krisenzeiten nicht verlassen. Alle kennen einen Fall, in dem jemand gegen materielle Vergünstigungen auf seine Rechte verzichtet hat. Das war der Fall mit Esau, der auf sein Erstgeborenenrecht (…) für ein Linsengericht vezichtete. Wenn unser Volk, unsere hervorragende Nation mit einer der zweifelhaftesten Personen der Bibel auf eine Stufe gestellt wird, dann muss man mit solchen mutigen Erklärungen vorsichtiger sein.“ Nachdem er diese Philippika noch eine Weile fortgeführt hatte, endete Surkow fast schon mit Exkommunikation drohend: „Ich bin nicht einverstanden, dass jegliche Veränderung der [politischen, JS] Landschaft mit einer Änderung der Strategie verbunden sein muss. Als unsere Truppen von Moskau Richtung Berlin marschierten, kamen sie durch viele unterschiedliche Landschaften, aber die Strategie blieb die gleiche: Berlin nehmen!“

Nun hat der Sieg im „Großen Vaterländischen Krieg“ (und nicht anderes bedeutet die Einnahme von Berlin) in Russland heute etwa den gleichen unantastbaren Status wie der Holocaust in Deutschland. Ihn zu leugnen ist eine Blasphemie. Erst hat unlängst forderten kremlnahe Politiker seine Leugnung, analog der Leugnung des Holocaust in Deutschland unter Strafe zu stellen. Surkow die größte aller denkbaren Keulen geschwungen. Warum nur? Um seine Leute wachzurütteln? Oder um sie, die im Angesicht der Krise allmählich auseinander zu laufen zu beginnen, wieder zusammen zu zwingen? Mag sein, die Probleme sind so groß, dass es, nach guter Überlegung großer Worte bedarf. Mag aber auch sein, da da ein wenig Panik um die Ecke lugt. Warten wirs ab.

Artikel zur Tagung „Strategie 2020“ in www.polit.ru

Videoaufzeichnungen der Vorträge auf der Tagung in www.polit.ru


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