Offiziell hält sich die russische Führung angesichts der Aussicht auf Guido Westerwelle als deutschen Außenminister zurück. Angela Merkel wird höflich zum Wahlsieg gratuliert, die übliche und nichtssagende Zuversicht auf „weitere gute Zusammenarbeit“ erklärt. Das sind einerseits diplomatische Floskeln, dürfte aber andererseits druchaus die Stimmung in Kreml und Moskauer Weißem Haus wieder geben. Viel kann man hierzulande glauben, aber dass die Deutschen aus dem Ruder laufen kaum. Schon die große Koalition hatte gezeigt, wie das Mehrheitsherz der Deutschen (und auch der deutschen PolitikerInnen) schlägt: weitgehend russenfreundlich, zudem ein wenig hasenherzig. Angela Merkels Russlandpolitik in den vergangenen Jahren war ein Abbild ihrer Politik insgesamt. Sie ignorierte freundlich ihr nicht passende kritische Stimmen innerhalb der eigenen Partei (ich meine hier nur die CDU, nicht den bayrischen Wirtschaftsförderverein namens CSU) und versteckte sich ansonsten hinter den Sozialdemokraten. Sollte Steinmeier ruhig schröderisieren. Die Wirtschaftsverbände würden die guten Russlandgeschäfte der Angela Merkel zu Gute halten und die Meckerer fehlende Putinkritik und schwaches Menschenrechtsengagement auf die Sozialdemokraten schieben. Damit das gelang, brauchte es einer einzigen halb mutigen Geste gleich beim ersten Kanzlerinnen-Moskaubesuch, als sie sich in der Residenz des Botschafters ins Gespräch mit NGO-VertreterInnen vertieft abfilmen ließ. Das so erworbene Image, kritischer als Vorgänger Schröder (welch eine Anstrengung!) zu sein, hielt die ganze Legislaturperiode über an.
Und nun kommt wohl Westerwelle hinzu. Wird das was ändern? Zittert der Kreml schon angesichts der zu erwartenden geballten Menschenrechtskritik? Oder droht er gar, präemptiv, mit dem Gashahn? Mitnichten. Guido Westerwelle hat in Moskau schon eine klägliche Figur gemacht als er im April das erste Mal hier war, probeweise sozusagen. Zumindest eines wurde sofort klar: Der mann muss noch sehr viel lernen, bis es zum gewieften Außenpolitiker reicht. Er hätte damals in Moskau noch einen sehr guten Berater haben können. Doch der inzwischen nach mehr als 16 Jahren gegangene Leiter des Büros der FDP-nahen Friedrich-Naumann-Stiftung (seit kurzem in GROSSBUCHSTABEN „Für die Freiheit“ genannt) Falk Bosmdorf wurde nicht um Rat gefragt, was in Russland zu beachten sei, welche Signale zu setzen. Immerhin reichte das Wissen in der FDP-Zentrale dazu aus, einen Memorial-Besuch für notwendig zu erachten. Denn das gehört inzwischen zum deutschen politischen Comment. Ohne das kleine, zweistäckige rote Haus in der Malyj Karetnyj pereulok mit den überquellenden Archiven zu gestrigen und heutigen Grausamkeiten des sowjetischen und russischen Staates besucht zu haben, darf sich kein Politiker und keine Politkerin von Rang und vor allem von Ehrgeiz mehr nach Hause wagen. Kurz: Westerwelle war da, ließ sich in enormen 35 Minuten Memorial erklären (den Hausdamen und -herren kam er dabei reichlich uninteressiert vor) und rauschte samt scharfer Leibwache wieder ab.
Bei einer außenpolitischen Vorstellungsrede auf Einladung der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) kurze Zeit später forderte Westerwelle zwar, mehr auf das Gleichgewicht von Interessen und Werten in der Außenpolitik zu achten. Auch ein Wink Richtung Moskau. Aber seine Kritik an der geplanten Stationierung US-amerikanischer Reketenabwehrsysteme in Polen und Tschechien machte ihn im Kreml gleich wieder sympatischer (ob das wohl für die Grünen auch gilt?). Westerwelle wird im Krelm also nicht gefürchtet. Aber er hat auch noch ein Partei (auch wenn man das manchmal zu vergessen geneigt ist). Und da gibt es durchaus russlandkritische Geister wie Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, die aufrechte Rechtsstaatlerin und Kritikerin des Chodorkowskij-Prozesses. Oder die Abgeordneten Werner Hoyer, Michael Link und Harald Leibrecht. Alle haben sich schon mehr oder minder kritisch zur gegenwärtigen Kreml-Politik geäußert. Da mögen kleinere Korrekturen möglich sein, den Mainstream, auch bei der FDP repräsentieren diese Außenpolitiker nicht.
Ein kurzes Screening aller Bundestagsfraktionen zeigt zudem ein deutliches Übergewicht derer, die Russland lieber freundlich umarmen als kritische Fragen stellen wollen. Die SPD, abgesehen von ein paar einflusslosen Abgeordneten aus dem Osten Deutschlands, bleibt auf der Schröder-Steinmeier-Linie. Die Linke schwelgt wechselweise in Russlandnostalgie oder russophil verbrämtem Antiamerikanismus. Wenn der kapitalistische Feind im Westen steht, dann muss ja wohl der antikapitalistische Freund im Osten zu finden sein. Bei der CDU und mehr noch bei der CSU gibt es starke Flügel, denen bei Russland nur Import von Öl und Gas und Export von allem anderen einfällt. Sie überflügeln die dort auch zu findenden Russlandkritiker wie den Vorsitzenden des Auswärtigen Bundestagsausschusses Ruprecht Polenz oder den Beauftragten der Bundesregierung für die gesellschaftlichen Kontakte mit Russland Andreas Schockenhoff leicht. Bleiben meine Grünen. Die meisten standhaft, kritisch, mit klarer menschenrechtlicher Position (ohne dabei zu verneinen, dass es natürlich möglichst viele Kontakte mit Russland, sowohl den Menschen als auch den Regierenden geben muss). Doch auch hier gibt es Breschen. Nur eine sei kurz erwähnt: Um das grüne Klimawandelbegrenzugnskonzept in der Energiepolitik (ohne Atomstruom!!) umsetzen zu können, braucht es Gas, viel Gas als Übergangstechnologie zur Stromerzeugung. Das kann nach Lage der Dinge nur aus Russland kommen. Und schon ist die Versuchung, dem Kreml klein bei zu geben, da.
Der Kreml (und ich meine „der Kreml“, nicht „Russland“) hat also von Deutschland auch nach der Wahl eher Freundliches zu erwarten. Die gegenwärtige Gelassenheit hat gute Gründe.
Die Misere der deutsche Russlandpolitik und ihrer Akteure hat auch Gemma Pörzgen in einem Aufsatz in Osteuropa 9/2009 unter der Überschrift „Auf der Suche nach der verlorenen Kompetenz. Russlandpolitik im Deutschen Bundestag“ analysiert.