In gewisser Weise hatte Russland zu Beginn der Corona-Pandemie das Glück des Tüchtigen. Recht schnell erkannten die Verantwortlichen in Moskau schon Anfang Februar die Gefahr und schlossen die lange Grenze zu China. Doch dieser Aufmerksamkeits- und möglicherweise auch Wissensvorsprung wurde schnell verspielt, wohl auch, weil er der Annahme Vorschub leistete, das Coronavirus sei ausschließlich eine äußere Gefahr, die durch Abschottung und Kontrolle der Grenzen gebannt werden könne. Zu gut passte dies zur ideologischen Grundmelodie der vergangenen Jahre vom von Feinden umgebenen Land, das nur auf sich selbst hoffen kann.
Doch Russland hatte noch einen zweiten Vorteil: Die insgesamt geringe Mobilität der Menschen in Russland brachte das Virus viel langsamer ins Land als im westlicheren Europa oder den USA. Die Epidemie ist in ihrer Entwicklung in Moskau um mindestens zwei bis drei Wochen hinter diesen Ländern zurück, in den russischen Regionen noch einmal weitere zwei bis drei Wochen. Entsprechend erreichten die Ansteckungsraten in Moskau Ende April ein (wenn auch noch ziemlich hohes) Plateau, auf dem sie bisher (Stand 5. Mai) weiter verweilen, während sie in den Regionen weiter stiegen.
Dieser Zeitvorteil wurde teilweise genutzt, etwa zum Aufbau neuer Intensivmedizinkapazitäten in den großen Zentren und zur Ausweitung der Testkapazitäten. Im Vergleich mit Zentraleuropa scheint das erheblich unterausgestattete Gesundheitssystem mit der Zahl der Infizierten und vor allem den schwer Erkrankten vergleichsweise gut zurechtzukommen, und auch die Sterberate ist im internationalen Vergleich sehr niedrig. Allerdings muss man hier einschränken, dass es erhebliche Zweifel an der Belastbarkeit der russischen Statistik gibt, wie ich in der 1. Zwischenbilanz Anfang April ausgeführt habe.
Insgesamt bleibt das Infektionsgeschehen zweigeteilt: eine Hälfte der Infizierten leben in Moskau oder dem Umland, die andere Hälfte im Rest des Landes. Anfang Mai nahmen die Infektionszahlen in Moskau sogar wieder zu. Der Moskauer Bürgermeister Sergej Sobjanin führt das auf zwei Änderungen zurück. Zum einen, dass nun nicht nur Menschen mit schweren Corona-Symptomen getestet würden, sondern alle mit Corona-Verdacht, also auch mit leichten Symptomen oder ohne Symptome, wenn sie Kontakt zu Infizierten hatten. Zum anderen würde nun auch als mit Corona infizierte registriert, wer Symptome zeige, aber einen negativen Text. Damit reagiert die Moskauer Stadtverwaltung auf viele Berichte über die besondere Unzuverlässigkeit russischer Corona-Tests. Einer von der Stadtverwaltung in Auftrag gegebene Untersuchung kam zudem Anfang Mai zum Schluss, dass inzwischen etwa 2 Prozent der Einwohner Antikörper entwickelt hätten. Das wären etwa 250.000 Menschen, ziemlich genau doppelt so viele, wie die offizielle Statistik zu diesem Zeitpunkt für das ganze Land auswies.
Zu den kaum beachteten Problemen gehören insbesondere die Leerstellen der offiziellen russischen Corona-Statistik: Armee, Gefängnisse und Gast- oder Wanderarbeiter. Diese drei großen Gruppen sind in der russischen Gesellschaft besonders gefährdet.
Die Armee, gegenwärtig gut 800.000 Soldaten stark, hat erst in der zweiten Aprilhälfte überhaupt erstmals zugegeben, dass sich Soldaten infiziert hätten. Trotz der Pandemie waren zum 1. April wieder mehrere Zehntausend Wehrpflichtige eingezogen worden. Viele Fragen warfen auch die Vorbereitungsübungen zur Siegesparade am 9. Mai auf dem Roten Platz auf. In der Nähe von Moskau übten noch Mitte April 15000 Soldaten, wie Videoaufnahmen in den sozialen Netzwerken zeigten, ohne jegliche Schutzvorrichtungen. Am 5. Mai zählte das Verteidigungsministerium bereits mehr als 3.000 Infizierte in der Armee, Tendenz ebenfalls steigend. Ob das aber stimmt, kann niemand nachprüfen. Militärübungen und Militärdienst werden nach wie vor durchgeführt, die Kasernen mit ihren großen Schlafsälen und Waschkauen sind jedenfalls nicht für soziales Distanzhalten ausgelegt.
Ähnlich undurchsichtig ist die Situation in den Gefängnissen und Straflagern. Dort befinden sich gegenwärtig mehr als 600.000 Menschen. Wegen der Pandemie sind Besuche schon seit Ende März verboten. Auch Inspektionen von außerhalb sind ausgesetzt. Die Gefängnisverwaltung versicherte lange, es gebe aufgrund vieler Tests und Hygienemaßnahmen keine Infizierten. Doch die hygienischen Bedingungen sind miserabel. In den Lagern leben die Gefangenen in großen Schlafsälen oder Baracken. Etwa zehn Prozent der Gefangenen sind HIV-infiziert und etwa 40 Prozent mit einer Form von Hepatitis. Noch schlimmer ist die Lage in den Untersuchungsgefängnissen, in denen die Zellen oft völlig überbelegt sind. Mitte April rief die Zentrale Gefängnisverwaltung FSIN die Gerichte auf, weniger Haftbefehle auszustellen und potentielle Straftäter/innen bei geringfügigen Beschuldigungen lieber Hausarrest zu erteilen. Tausende Gefangene, die ihre Entlassung auf Bewährung beantragt haben, sitzen zudem in den Lagern fest, weil auch die Gerichte auf Home-Office umgestellt haben und momentan keine Entlassungsanträge behandeln. Ende April gab FSIN zu, dass es etwa 300 Infizierte unter den Gefangenen und dem Gefängnispersonal gebe. Diese Zahl kann aber ebenfalls kaum überprüft werden.
Insbesondere in Moskau, St. Petersburg und anderen Großstädten hängen ganze Branchen von Arbeitsmigranten ab. Das gilt vor allem für den Bausektor. Viele Arbeiter dort sind illegal im Land oder beschäftigt. Viele von ihnen leben sehr beengt in miserablen Behausungen oder in überfüllten Wohnungen. Sie haben zudem oft keinen Zugang zur staatlichen Gesundheitsversorgung. Für die Illegalen unter ihnen wäre der Weg in eine Klinik sogleich der Weg in die Abschiebehaft. In Moskau und auch in vielen Regionen wurde inzwischen alle Bautätigkeit eingestellt. Viele Arbeiter bekommen keinen Lohn, müssen aber für Wohnung, Essen zahlen. Es gibt kaum Informationen und schon gar keine Übersicht, wie es den auf mehrere Hunderttausend geschätzten Arbeitern geht.
Probleme gibt es auch immer wieder mit wenig professionellem Verwaltungshandeln und behördlicher Ignoranz, die nicht selten auf Korruption beruht. In Moskau stauten sich am Tag nach der Einführung von elektronischen Passierscheinen vor den Metro-Eingängen hunderte Menschen, weil Polizisten die Passierscheine kontrollierten: Ein Paradies für Infektionsverbreitung. Daraufhin wurde die direkte Kontrolle abgeschafft. Nun nutzen die Behörden Mobiltelefondaten zur Nachverfolgung und die mehr als 180000 Kameras mit Autokennzeichen- und Gesichtserkennung in der Stadt. Diese Technologie ist außerhalb Moskaus allerdings nur in Ansätzen vorhanden. Die Moskauer Stadtverwaltung bietet inzwischen landesweit Unterstützung für ihren Ausbau an. Es ist davon auszugehen, dass diese staatlichen Kontrollkapazitäten auch nach Ende der Epidemie bleiben und weiter genutzt werden.
In vielen Regionen gab es Proteste gegen die Ausgangssperren. Nur zwei Beispiele: In Nord-Ossetien protestierten rund 1000 Kleinunternehmer und Selbstständige gegen die Schließung ihrer Geschäfte. Die Demonstration wurde aufgelöst. Diejenigen, die dazu aufgerufen hatten, sind inzwischen verhaftet. Im nordsibirischen Jakutien protestierten Arbeiter auf einem zu Gazprom gehörenden Gasfeld gegen ihre Arbeits- und Lebensbedingungen und forderten mehr Schutzmaßnahmen, nachdem es erste Corona-Infektionen gegeben hatte. Anfang Mai wurde bekannt, das bis zu einem Drittel der gut 10.000 dort Beschäftigten positiv auf das Virus getestet worden seien.
Zu Beginn der Epidemie hatte Präsident Vladimir Putin den Moskauer Bürgermeister Sergej Sobjanin zum Corona-Beauftragten ernannt und ließ ihn machen. Sobjanin wurde zum Gesicht des Staates in der Epidemie und zum Vorreiter immer schärferer Maßnahmen und Einschränkungen. Von Putin war zunächst öffentlich wenig zu sehen. Das änderte sich erst Ende März, als sich Putin das erste Mal mit einer Ansprache an die Bevölkerung wandte. Tags darauf sah man ihn in einem gelben Schutzanzug und einer Atemmaske im zu jenem Zeitpunkt einzigen Moskauer Corona-Krankenhaus. Eine Woche später verkündete er dann den Moskauer Lockdown, der bis heute auch in fast allen anderen Regionen gilt. Seither zeigt der Kreml Putin überwiegend bei Videokonferenzen mit Gouverneuren, dem Staatssicherheitsrat oder Expert/innen, in denen er Anweisungen gibt und „diesmal“ streng deren Einhaltung fordert. Jedes Mal wird auch ein wenig mehr Unterstützung für Wirtschaft und Bevölkerung angekündigt. Im internationalen Vergleich bleibt der Umfang dieser Hilfen aber relativ klein. Der eigentlich gut gefüllte staatliche, für Notzeiten gedachte Stabilisierungsfond wird bisher noch nicht in nennenswertem Umfang angezapft.
Nun muss man anerkennen, dass die Pandemie nicht nur die russische Führung völlig überrascht hat. Allerdings traf sie Russland in einem besonderen Moment. Putin hatte Mitte Januar die Regierung ausgetauscht und den weitgehend unbekannten Michail Mischustin, bis dahin Chef der Steuerbehörde, zum neuen Ministerpräsidenten gemacht. Mischustins Aufgabe war sollte es aber nicht sein, eine Krise zu managen, sondern Geld auszugeben, also die „Nationalprojekte“ genannten Konjunkturprogramme endlich voranzubringen. Dieser Regierungswechsel zur Unzeit hat zu zusätzlichen Verzögerungen in der Reaktion auf die Virusepidemie geführt (Mischustin wurde übrigens Ende April positiv auf das Virus getestet und befindet sich im Krankenhaus, ebenso wie ein weiterer Minister).
Das gleiche gilt für die Vorbereitungen auf die geplante Volksbefragung zu den Verfassungsänderungen am 22. April und für die Siegesparade am 9. Mai. Erst Anfang April wurde die Volksbefragung auf einen unbestimmten späteren Zeitraum verschoben. Die Vorbereitungen auf die Siegesparade wurden erst in der zweiten Monatshälfte beendet. Die Zögerlichkeit, beide Ereignisse abzusagen ist wegen ihrer großen politischen Bedeutung und Symbolik zwar verständlich, wirkte aber nicht sonderlich souverän.
Besonders im Fall der Verfassungsänderung zeigten sich die Schwächen des personalisierten Herrschaftssystems. Erst sah es nach kleinen Änderungen der Gewaltenteilung aus, weg vom Präsidenten, hin zu den Parlamenten und einem erheblich aufgewerteten Staatsrat. Mittendrin erfuhr dann das Land, zur Überraschung der Bevölkerung aber auch fast der gesamten politischen Führungsschicht, vom eigentlichen Sinn dieser Aktion: Putin eine erneute Kandidatur nach Ende seiner Amtszeit im Jahr 2024 zu ermöglichen. Von da ab wurde alles hastig binnen einer Woche durch die staatlichen Gremien gepeitscht (beide Parlamentskammern, 85 Regionalparlamente, Verfassungsgericht). Unmittelbar darauf, Mitte März, setzte Putins Unterschrift die Verfassungsänderung in Kraft. Die nun verschobene Volksbefragung ist also kein notwendiges oder bindendes Referendum. Sie soll lediglich dazu dienen, den Verfassungsänderungen höhere Legitimationsweihen zu geben. Hintergrund dürften die seit 2018 wieder sinkenden Zustimmungswerte für Putin sein, was viele Soziolog/innen mit einem Ende des „Krimeffekts“ und der seit über fünf Jahren anhaltenden Wirtschaftskrise erklären. Seit Januar haben die Umfrageinstitute aufgehört, Ergebnisse zu Putins Popularität zu veröffentlichen. Wie es nun weitergeht, ist unklar. Wahrscheinlich findet die Abstimmung nach dem Ende der Ausgangsbeschränkungen doch noch statt. Das dürfte aber auch von der Entwicklung von Putins Popularität abhängen, denn im Kreml wird ein Ergebnis von 70 Prozent Beteiligung und 70 Prozent Zustimmung für notwendig erachtet.
Mit der Siegesparade ist es ähnlich gelagert. Sie sollte das wichtigste ideologische Ereignis des Jahres werden, begleitet vom verstärkten „Kampf gegen Geschichtsfälschungen“, also gegen jene, die aus Sicht des Kremls die Geschichte des Zweiten Weltkriegs „umzuschreiben“ und so angeblich den überragenden Beitrag der Sowjetunion, sprich Russlands zum Sieg über das nationalsozialistische Deutschland zu schmälern versuchen. Hierzu gehört eine Rehabilitierung des Hitler-Stalin-Paktes ebenso wie die Auseinandersetzung mit Ländern wie Polen und den baltischen Staaten um die Frage, ob sie denn nun von der Sowjetunion 1945 befreit oder besetzt wurden.
Die Parade sollte aber auch noch einem anderen Zweck dienen: Mit den eingeladenen Staats- und Regierungschefs aus aller Welt wollte Putin demonstrieren, dass Russland, trotz Krim und entgegen aller tatsächlicher und angeblicher Isolierungsversuche durch „den Westen“, wieder zu den geopolitisch führenden Ländern dieser Welt gehört. Darin, nicht in gesellschaftlicher Hinsicht oder durch das Wirtschaftssystem, sehen Putin und seine Unterstützer/innen sich als die wahren Erben der Sowjetunion. Diese „Errungenschaft“ möchte Putin durch seine Nachfolgerschaft gesichert sehen. Weil er das aber, zumindest momentan, niemandem zutraut, musste die Verfassung geändert werden. Beides zu vollenden hat die Corona-Pandemie nun verhindert. Es gibt, da hat Putin recht, Wichtigeres, auch in den Augen der meisten Menschen in Russland.