„Alle sagen: der Kreml, der Kreml. Alle haben mir von ihm erzählt, aber selbst habe ich ihn kein einziges Mal gesehen.“ So beginnt Wenedikt Jerofejew sein berühmtes Poem „Die Reise nach Petuschki“. Wie dem verkaterten Moskauer Helden in Jerofejews Trinkerdrama mit dem Kreml, so geht es mir mit einer angeblichen Kreml-Erfindung, dem hybriden Krieg gegen den Westen: Alle reden ständig davon, aber ich kann ihn partout nicht entdecken. Angefangen hat alles wohl im Februar 2013. Damals veröffentlichte der russische Generalstabschef Walerij Gerassimow einen Artikel über „nicht-lineare Kriegsführung“. Außer in Militärkreisen und ein paar Zeitungsartikeln von Militärexperten nahm davon im Westen aber seinerzeit kaum jemand Notiz.
In einer größeren Öffentlichkeit wurden Gerassimows Überlegungen erst viel später wahrgenommen, so ab Herbst 2014, also lange nach der Annexion der Krim durch Russland und auch nach dem Beginn eines echten Kriegs in der Ostukraine. Seither müssen sie immer wieder als Beweis dafür herhalten, dass der Kreml alles von langer Hand geplant hat, und dass die Konfrontation mit dem Westen einer wohl überlegten Strategie folgt. Seither wird in zunehmendem Maße alles, was die russische Führung sich an Unfreundlichkeiten oder gar Feindseligkeiten gegenüber dem dem Westen/der EU/der NATO ausdenkt, unter die Kategorie „hybrider Krieg“ subsummiert. Und spätestens seit Anfang dieses Jahres, seit dem sogenannten „Fall Lisa“, dem von russischen staatlichen Medien zu einer Vergewaltigung durch Flüchtlinge aufgebauschten 48-stündigen Verschwinden einer russlanddeutschen Berliner Schülerin, die Ärger wegen schlechter Schulnoten fürchtete, ist es auch in Deutschland eine Art mediales Allgemeingut: Russland führt einen „hybriden Krieg“ gegen den Westen und dabei ist Deutschland ein besonderes Ziel.
Doch was ist das eigentlich, ein „hybrider Krieg“? Gibt es irgendeine möglichst weit geteilte Definition dieses Begriffs? Und wenn ja, passt sie auf das russische Vorgehen? Fangen wir mit dem Begriff an.
Der US-Militärexperte Frank Hoffman definiert „hybriden Krieg“, den er im Übrigen schon 2014 als „nicht-so-neue Kriegsführung“ bezeichnet, als „einen zugeschnittenen Mix aus konventionellen Waffen, irregulären Taktiken, Terrorismus und kriminellen Handlungen zur gleichen Zeit und auf dem gleichen Schlachtfeld, um politische Ziele zu erreichen.“. Das ist eine ziemlich konkrete Definition, denn sie benennt sowohl die Mittel (konventionelle Waffen, irreguläre Taktiken, Terrorismus und kriminelle Handlungen), als auch den Ort des Krieges (zur gleichen Zeit und auf dem gleichen Schlachtfeld). Trifft das nun irgendwo auf das Verhalten Russlands in den vergangenen zwei-drei Jahren zu? Eher nicht.
Wenn man sich genauer anschaut, was alles als Teil des angeblichen „hybriden Krieges“ russischer Provenienz bezeichnet wird, dann ist das Ergebnis ziemlich grenzenlos. Oder um es mit einem weiteren US-Experten, Michael Kofman, zu sagen: „Die Kurze Antwort [auf die Frage, was hybrider Krieg sei, JS] in der Russland-Beobachter-Community ist: alles.“ . Tatsächlich wird alles (und da gibt es viel), was der Kreml macht oder gemacht hat, inzwischen irgendwo als Bestandteil eines „hybriden Kriegs“ geführt: die Annexion der Krim ebenso wie der Krieg in der Ostukraine; unterschiedliche Destabilisierungsversuche der Ukraine; die Zusammenarbeit oder Unterstützung rechtsnationalistischer oder rechtspopulistischer Parteien in der EU durch Russland; Spionage und Wirtschaftsspionage; die Aktivitäten staatlicher oder vom russischen Staat kontrollierter Medien in der EU (und in Russland); die Zusammenarbeit ehemaliger Politiker aus der EU und insbesondere Deutschland in und mit vom Kreml kontrollierten Unternehmen; Versuche, an der EU vorbei Deals mit einzelnen EU-Staaten (wie z.B. Ungarn) auszuhandeln; Internet-Trolle und ihre Fabriken, und, seit neuestem der angebliche (oder tatsächliche) Aufbau geheimer Kampfgruppen im schummerigen Milieu deutscher Hinterhofmuckibuden. Mit Sicherheit ist diese kleine Auflistung unvollständig.
Diese Beliebigkeit, oder besser: dieses Allumfassende, verwischt aber, wie mir scheint, weit mehr als sie Klarheit bringt. Sie verwischt vor allem die Grenzen zwischen Politik (und in ihr Diplomatie) und Krieg, ja zwischen Frieden und Krieg. Denn wenn diese Interpretation russischen (Regierungs-)Handelns so stimmte, dann befänden wir uns mit Russland im Kriegszustand, wenn auch in einem (bisher) unerklärten. Eine mögliche Erklärung der rasanten Karriere des Begriffs „hybrider-Krieg“ in der westlichen Öffentlichkeit liegt sicherlich im Schock der Krim-Annexion und des durch Russland begonnenen Kriegs in der Ostukraine. Sinnvoller oder gar nützlicher wird diese Einengung dadurch aber nicht.
Um zu verstehen, was verkehrt läuft, müssen wir aber noch einmal zu Gerassimow zurück. Wenn man den eingangs zitierten Artikel des russischen Generalstabschefs genau liest, auf den sich viele Verfechter der These vom hybriden Krieg heute beziehen, verwundert die weit verbreitete Schlussfolgerung, der Westen sei dem Kreml in die Falle gegangen, die Annahme also, alles, von der Krim-Annexion über den Krieg in der Ostukraine bis hin zu Spaltungs- und Destabilisierungsversuchen in der EU und einzelnen EU-Ländern folge einer akkurat ausgearbeiteten und lang geplanten Strategie. Genau das steht in Gerassimows Artikel eben gerade nicht. Mir scheint es eher, wie auch Michael Kofman schreibt, genau umgekehrt zu sein. Gerassimow beschreibt in seinem Artikel keine bereits bestehende und kohärente Strategie. Er klagt vielmehr darüber, dass der Westen einen nicht erklärten Krieg mit irregulären Mitteln gegen Russland führe und dass sein Land hier dringend aufholen müsse.
Gerassimow führt als Beweise für den „hybriden Krieg“ des Westens gegen Russland all die Länder an, in denen in den vergangenen 20 Jahren Diktatoren oder zunehmend autoritäre Herrscher auf die eine oder andere Weise gestürzt wurden (oder versucht wurde, sie zu stürzen): Milosevič 1999 in Serbien; Saddam Hussein 2003 im Irak durch die militärische US-Intervention; dann Mitte des vorigen Jahrzehnts die in Russland sogenannten „bunten Revolutionen“ in Georgien, der Ukraine und Kirgistan; es folgen die Aufstände des sogenannten „arabischen Frühlings“ in Tunesien, Ägypten und (aus russischer Sicht: vor allem) der Sturz Gaddafis in Lybien; auch der Bürgerkrieg in Syrien darf nicht fehlen.
Das sind im Übrigen keineswegs originäre Gedanken eines Militärchefs. Gerassimow ist hier in völliger Übereinstimmung mit seiner politischen Führung, die seit langem all dieses in erster Linie auf direkten und indirekten westlichen Einfluss (vor allem natürlich der USA) zurückführt und als das „eigentliche“ Ziel die „Einhegung“ von oder gar einen ähnlichen „Umsturz“ in Russland interpretiert.
Nur das jüngste und nur eines von vielen Beispielen ist ein langer und detaillierter Artikel des Chefs des mächtigen staatlichen Ermittlungskomitees Alexander Bastrykin in der Zeitschrift „Kommersant Wlast“ (<http://www.kommersant.ru/doc/2961578>). Bastrykin zufolge, der zum engen Vertrautenkreis um Putin gezählt wird, führen die USA seit langem einen veritablen Informationskrieg gegen Russland, mittels dessen sie seinerzeit schon die Sowjetunion zum Zusammenbruch gebracht haben. Alles, aber auch wirklich alles Schlechte und Böse (und heute natürlich vor allem die Wirtschaftskrise und der niedrige Ölpreis) rühren daher. Deshalb müssten in Russland schnellstens viele Gesetze verschärft und vor allem das Internet endlich, wie in China, ordentlich kontrolliert werden. Der Bastrykin-Text hat aber auch eine, wie ich annehme, unfreiwillig komische Seite. Er beklagt all das als Folge eines „hybriden Kriegs“ gegen Russland, was die gegenwärtige Elite politisch, und weil sie zu gierig ist, nicht auf die Reihe bekommen hat. Wobei das „Hybride“ dieses „Kriegs“ dann darin besteht, einfach alles zu umfassen, was in offenen und demokratischen Gesellschaften „Politik“ genannt wird.
Diese Argumentation ist im Übrigen kaum mehr als eine Weiterentwicklung eines schon älteren, spätestens seit Mitte der 2000er Jahre eingesetzten Narrativs des Kreml: Zwar habe Russland den Kalten Krieg beendet, die Sowjetunion und der Warschauer Pakt hätten sich ja aufgelöst, aber der Westen habe immer weiter gemacht. Russland sei, aus westlicher Sicht, immer Gegner geblieben, nie wirklich Partner geworden. Sichtbarster Ausdruck dieser Gegnerschaft sei die nicht nur immer noch existierende, sondern inzwischen „bis an die Grenzen Russlands“ nach Osten ausgeweitete NATO, ein Relikt des Kalten Krieges.
Doch nun weiter mit der westlichen Wahrnehmung. Gesetzt einmal den Fall, Russland führe (egal ob nun als „Antwort auf eine Bedrohung“ aus dem Westen oder aufgrund ihm eigener imperialer Ambitionen) spätestens seit Frühjahr 2014 tatsächlich einen „hybriden Krieg“ gegen den Westen. Wie sieht der aus? Worin besteht er? Ist das tatsächlich ein Krieg? Und wenn ja, was ist an ihm hybrid?
Fangen wir mit der Krim an. Die militärische Übernahme war sicher kein Krieg, auch kein hybrider. Eher handelte es sich dabei um eine klassische verdeckte Kommandoaktion. Die Hauptrolle hatten die ohnehin schon dort in Sewastopol stationierten russischen Marineinfanteristen. Das Ganze wurde mit der Installierung einer genehmen politischen Führung verbunden, die dann um Hilfe rief. Auch das ein altbekanntes Modell. Drum herum gab es ein wenig Desinformation, aber auch nicht viel mehr als sonst bei militärischen Aktionen üblich.
Das, was seit Sommer 2014 in der Ostukraine passiert, verdient die Bezeichnung Krieg schon eher. Allerdings fing es auch dort nicht gleich mit einem Krieg an. Zunächst, Ende Februar, Anfang März, versuchte Russland (in Kooperation mit einigen ukrainischen Oligarchen) seinen politischen Einfluss in der Ostukraine auszuweiten. Die ukrainische Regierung sollte unter Druck gesetzt und dazu gebracht werden, weitgehenden Autonomierechten der dortigen Regionalverwaltungen zuzustimmen. Das klappte nicht so recht. Als die ukrainische Regierung Mitte April die selbsternannten Gouverneure und Bürgermeister von Donezk und Lugansk verhaften ließ, griffen irreguläre Militäreinheiten aus Russland unter Igor Girkin ein. Erst als diese Anfang August den ukrainischen Freiwilligenbataillonen und der regulären Armee militärisch zu unterliegen drohten, schickte der Kreml schwere Waffen und Einheiten der russischen Armee und wendete das Blatt.
Auch hier ist also von einem „hybriden“ Krieg, der gar noch einer ausgefeilten Strategie folgt, keine Spur. Es ist eher so, dass die Strategie der russischen Führung zu keinem Zeitpunkt nach der Krimannexion so richtig aufging. Nach dem fast mühelosen Erfolg auf der Krim erwartete der Kreml augenscheinlich, in der Ostukraine ähnlich leichtes Spiel zu haben. Weil dem aber keineswegs so war, weil es auch mit russischer Unterstützung und Hilfe einiger ukrainischer Oligarchen dort nicht gelang, einen Volksaufstand gegen die Kiewer Regierung zu initiieren, musste der Kreml den Konflikt in mehreren Schritten binnen weniger Monate zu einem echten Krieg eskalieren (wollte er nicht den –- wegen der innenpolitisch motivierten und auf Machterhalt abzielenden Mobilisierungskampagne ganz undenkbaren – Rückzug antreten). Der Kreml hat es zwar mit „hybriden“ Methoden versucht, aber vergeblich. Am Ende mussten eigene Truppen und ein echter Krieg her.
Nun weiter nach Westen. Vielleicht führt Russland ja dort einen „hybriden Krieg“ NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg glaubt das offenbar. Im März 2015 sagte er auf einem NATO-Seminar: „Russia used proxy soldiers, unmarked Special Forces, intimidation and propaganda, all to lay a thick fog of confusion; to obscure ist true purpose in Ukraine and to attempt deniability. So NATO must be ready to deal with every aspect of this new reality from where ever it comes. And that means we must look closely at how we prepare for, deter and if necessary defend against hybrid warfare.“
Ich stimme Stoltenberg in jedem einzelnen Teil dieser Aussage zu. Ich habe aber große Probleme mit der Gesamtsicht. Trotz aller verständlichen Besorgnisse vor allem in den baltischen Ländern und in Polen, aber auch in Norwegen und Finnland, gibt es keinen Krieg zwischen Russland und der NATO. Die Bezeichnung „hybrider Krieg“ beinhaltet aber beide Elemente der Kriegsführung: traditionelle Kriegshandlungen mit Militärgerät und direkter Gewalt ebenso wie die schon hinreichend beschriebenen nicht-militärischen Methoden der Kriegsführung. Ein Hybrid ist eine Kreuzung, ein Bastard, ein Mischling.
Außerdem handelt man sich mit dem hybriden Kriegsbegriff ein durchaus hässliches Abgrenzungsproblem ein. Denn wenn all das, was Stoltenberg hier nennt (und wenn man meine Aufzählung weiter oben noch hinzunimmt) „hybride“ (illegitime) Kriegsführung ist, wo ist dann die Grenze zur (legitimen) Politik? Wenn Stoltenberg Recht hat, dann hat auch Putin Recht und wir sind immer noch (oder schon wieder) mitten in einem Kalten Krieg.
In seinem legendären, mit „The inauguration of organized political warfare“ überschriebenen Memorandum von 1948 schrieb Georg Kennan: „In broadest definition, political warfare is the employment of all the means at a nation’s command, short of war, to achieve its national objectives.“ Und weiter: „They range from such overt actions as political alliances, economic measures, and ‚white’ propaganda to such covert operations as support of ‚friendly’ foreign elements, ‚black’ psychological warfare and even encouragement of underground resistance in hostile states.“ Da ist alles drin. Der angeblich neue, „hybride“ Krieg ist also nichts anderes als der alte, „kalte“ Krieg (bei Kennan 1948 noch „politische Kriegsführung“ genannt).
Obwohl, das stimmt nicht ganz. Ein neues Element gibt es schon. Das hat Richard Herzinger jüngst in einem Artikel beschrieben: „Die ‚klassische’ Propaganda zielte darauf, Tatsachen durch Lügen, Wirklichkeit durch ideologische Fiktionen zu ersetzen. Heute entwickeln Propagandamaschinerien ‚postmoderne’ Techniken, um bei den Rezipienten die Unterscheidung von Wahrheit und Lüge, von Realität und Imagination insgesamt auszulöschen.“ Wenn das aber als Krieg, meinetwegen auch „nur“ als Teil einer „hybriden“ Kriegsführung ausgegeben wird, dann gehen wir Putin auf den Leim. Dann akzeptieren wir das im Kreml (und leider heute in ganz Russland) vorherrschende bellizistische und zutiefst darwinistische Weltbild, das Staaten und Nationen in einem epischen Überlebenskampf sieht, dem sich alle individuellen Rechte und Freiheiten unterzuordnen haben. In diesem Denken ist alles und immer Krieg.
Zusammengefasst: Der Begriff „hybrider Krieg“ bezeichnet nicht Neues. Dafür verwischt er die zivilisatorisch und politisch wichtige Grenze zwischen politischem und militärischem Handeln. Seine jüngste Karriere mag als Reaktion auf die Bedrohung, die das aktuelle aggressive russische Handeln für Frieden und Demokratie in Europa darstellt, verständlich sein. Aber der damit einhergehende Verlust an Unterscheidungsfähigkeit ist gefährlich. Es ist gerade die Unterscheidung von Recht, Politik und Krieg, die Europa zu einem der friedlichsten Plätze der Welt gemacht hat. Die russische Führung arbeitet daran, die Fähigkeit, diese Unterscheidung zu treffen zu schwächen, ja zu zerstören. Ja, 25 Jahre nach dem Ende der Sowjetunion ist der Frieden in Europa gefährdeter als je nach den jugoslawischen Nachfolgekriegen. Die innere Schwäche der EU, aber auch die zunehmenden Zweifel an ihrer demokratischen Verfassung, die in vielen Mitgliedsstaaten bestehen, lassen einfache Entscheidungen und alte, auf der Idee abgeschotteter Nationalstaaten aufbauende Konzepte einer immer größeren Zahl Menschen attraktiv erscheinen.
Die Antwort auf diese Krise kann aber nicht in einer Mobilisierung der Gesellschaften bestehen, die dem analog wäre, was in Russland gegenwärtig passiert. Offene Gesellschaften müssen mit (inneren) Widersprüchen leben lernen. Dazu gehört die saubere Trennung zwischen (militärischer, geheimdienstlicher) Verteidigung nach außen und politischer Auseinandersetzung innerhalb eines rechtsstaatlichen Rahmen nach innen. Das Konzept des „hybriden Kriegs“ verwischt diese lebenswichtige Trennlinie.