Im russischen (Staats)Fernsehen wird der türkische Präsident Erdoğan seit dem Abschuss des russischen SU-24-Bombers vorige Woche so richtig fertig gemacht. Der wolle nur seine persönliche Macht ausweiten. Dazu lasse er die Verfassung ändern, manipuliere die Geschichte, unterdrücke die Opposition und höhle die demokratischen Institute aus. Außerdem sei seine Herrschaft nepotistisch und korrupt. Der Nachrichtenkanal Rossija-24 zitiert zum Beleg gar Freedom House, eine jener US-amerikanischen Organisationen, die der Föderationsrat möglichst schnell für „unerwünscht“ in Russland erklären möchte. Demnach liegt die Türkei im Freedom-House-Pressefreiheits-Index erst auf Platz 120 in der Welt (immerhin noch mit der Bewertung „teilweise frei“).Freilich verschweigt „Rossija-24“, dass Russland im gleichen Index nur auf Platz 176 kommt (Bewertung: „unfrei“).
Mit atemberaubender Geschwindigkeit ist die Türkei in der russischen Propaganda von einem „wichtigen Partner“ zu einem der Hauptfeinde des Landes mutiert (worden). Hier, um nur einen Eindruck davon zu geben, eine schnelle, kleine (und unvollständige) Aufzählung, was alles innerhalb weniger Tage passierte: Charterflüge zwischen der Türkei und Russland sind verboten. Ab dem 1. 1. 2016 brauchen türkische Bürger wieder ein Visum, um nach Russland einreisen zu dürfen (die Visumspflicht war 2011 auf beiden Seiten abgeschafft worden, was freilich vor allem jährlich 4,5 Millionen russischen Touristen in der Türkei zugute kam). Russische Reisebüros dürfen keine (Urlaubs)Reisen in die Türkei mehr anbieten. Nur vier Tage nach dem Abschuss dekretierte Wladimir Putin per Ukas ein Embargo für türkische Importwaren. Schon Anfang dieser Woche hatte die Regierung Tomaten, Weintrauben, Apfelsinen und zahlreiche andere Lebensmittel auf den Index gesetzt (wenn auch erst ab Januar, um nicht Unmut über teures oder fehlendes Obst und Gemüse zu den Feiertagen hervor zu rufen).
Türkische Firmen bekommen keine Aufträge aus Russland mehr, türkische Arbeitnehmer keine Arbeitserlaubnis. Sportminister Witalij Mutko, in Personalunion Präsident des russischen Fußballverbands, untersagte russischen Clubs, Verträge mit türkischen Spielern abzuschließen. Zahlreiche russische Universitäten lösten binnen einer Woche Vereinbarungen über Zusammenarbeit mit türkischen Hochschulen. Gemeinsame Forschungsvorhaben wurden von russischer Seite weitgehend ausgesetzt.
Hinzu kommt eine große Zahl eher symbolischer Schritte, manche vom Staat angeordnet, manche aus Überzeugung, manche in vorauseilendem Gehorsam, manche aber auch aus Angst. Die Staatsduma berät bald darüber, die Leugnung des türkischen Völkermords an Armeniern 1915 als Straftat zu ahnden. Die Moskauer Allrussische Bibliothek für Ausländische Literatur schloss ihr Russisch-Türkisches Wissenschafts- und Kulturzentrum und erklärte, türkische Bücher und Filme seien nicht mehr verfügbar. Ein berühmter Chorleiter namens Michail Turezkij (das Adjektiv turezkij bedeutet auf Russisch türkisch) beeilte sich, öffentlich zu versichern, sein Name habe nichts mit der Türkei zu tun (hat er tatsächlich nicht), und überhaupt denke er schon lange darüber nach, ihn zu ändern. Ein Dumaabgeordneter schlägt gar vor, von der Türkei die Rückgabe der Hagia Sofia an die orthodoxe Kirche zu fordern. Der Schein-Oppositionelle Wladimir Schirinowskij drohte in der Parlamentsdebatte mit einem Atombombeneinsatz am Bosporus, um durch den damit ausgelösten Tsunami Istanbul zu versenken. Die Liste ließe sich fortsetzen, vor allem wird sie mit jedem Tag länger.
Immerhin scheint ein vollständiger Abbruch der Beziehungen zur Türkei (wie seit 2008 mit Georgien) nicht geplant zu sein. Niemand hat bisher ernsthaft die diplomatischen Beziehungen in Frage gestellt (allerdings meidet Präsident Putin den türkischen Präsidenten, kam in Paris beim Klimagipfel demonstrativ zum Staatschef-Gruppenfoto zu spät und lässt sich am Telefon verleugnen). Der Bau eines Atomkraftwerks durch den russischen Staatskonzern Rosatom an der türkischen Mittelmeerküste wird durch die Sanktionen nicht berührt. Der erst im Januar vereinbarte Bau einer weiteren Gaspipeline durch das Schwarze Meer in die Türkei könnte dagegen scheitern, bevor er begonnen wurde. Der sogenannte Turkish-Stream ist aber ohnehin ein vor allem politisches Projekt (zur Umgehung der Ukraine beim Export von Gas nach Europa). Wirtschaftlich macht er für Russland wenig Sinn.
Erstaunlich dabei ist bei all dieser Hyperaktivität aber nicht so sehr, dass nun die Türkei zu einer Art Feind Nr.1 aufgebauscht wird. Erstaunlich ist vielmehr, wie schnell, wie radikal und wie widerstandslos das Ganze vor sich geht. Zwar gab es Ähnliches schon vorher, z.B. 2006 mit Georgien oder im vorigen Jahr mit der Ukraine, aber damals brauchten Staat und Volk einige Zeit, um (überhaupt) aus Touren zu kommen. Im Herbst 2006, als im ganzen Land Polizisten Jagd auf georgische Staatsbürger und russische Staatsbürger georgischer Herkunft machten, um sie abzuschieben, war die Zustimmung dazu in der Bevölkerung eher verhalten. Selbst nach dem Kurzkrieg im August 2008 beruhigte sich die Stimmung recht schnell wieder.
Vor einem Jahr, nach der Besetzung der Krim und dem Beginn des Kriegs in der Ostukraine, ging es dann schon schneller. Aber auch hier brauchte die Propaganda noch einige Zeit, um das Land auf ausreichende Hass-Temperatur zu bringen, obwohl die Propagandisten auf intensive Vorarbeiten 2006 nach der sogenannten Orangenen Revolution und beim Gasstreit 2009 zurückgreifen konnten. Und kaum lässt sie ein wenig nach, wie seit dem Sommer, zeigt sich das mit kleiner Verzögerung in Meinungsumfragen, und das Verhältnis zur Ukraine und den Ukrainer/innen entspannt sich (zumindest etwas). Beide Kampagnen, das zeigt auch die schnelle Beruhigung, hatten eher etwas Rituelles, weil man das eben so macht, wenn man im Krieg ist. Der in ihnen öffentlich dargestellte Hass auf diese beiden Nachbarländer ist aber nicht tief im russischen Gefühlshaushalt verankert, seinem Auftreten haftet etwas Unwirkliches an.
Mit der Türkei scheint das anders zu sein, tiefer zu gehen. Der Ärger oder meinetwegen auch Schmerz über den Abschuss allein reicht jedenfalls als Erklärung für diesen jähen Ausbruch, als ob der Kreml nur einen Schalter umlegen musste, nicht aus. Zumal Putin Erdoğan ähnlich in die Falle gelaufen zu sein scheint, wie 2008 der damalige georgische Präsident Micheil Saakaschwili in Putins Falle. Saakaschwili war damals sicher, seine (militärischen) Nadelstiche gegen russische Truppen im völkerrechtlich zu Georgien gehörenden Südossetien würden folgenlos bleiben, weil die USA ihn unterstützen. Doch Russland wartete nur auf einen geeigneten Anlass zum Angriff auf Georgien – der dann auch prompt genutzt wurde.
In Syrien nun fühlten sich anscheinend die Russen zu sicher, die Türkei (immerhin Mitglied der NATO) werde es, unter dem Druck ihrer Verbündeten (also vor allem der USA) nicht wagen, auf die kleineren bis größeren russischen Grenzverletzungen ernsthaft reagieren. Auch bisher, bei fast schon regelmäßigen riskanten Luftmanövern an NATO-Grenzen in Nordeuropa (vor allem im Baltikum, Großbritannien und Norwegen), bei denen mitunter auch der Luftraum von NATO-Ländern verletzt wurde, hatten die NATO-Staaten ja still gehalten. In Moskau ging man offenbar davon aus, die NATO werde, die Türkei zurückhaltend, auch in Syrien das Risiko einer direkten militärischen Konfrontation mit Russland nicht eingehen. Das war in Bezug auf die Türkei aber ganz offensichtlich ein Fehlschluss. Dabei ist es letztlich unerheblich, ob der Abschuss des russischen Bombers ein türkischer Alleingang war (was mir wahrscheinlich erscheint) oder (egal ob nun explizit oder implizit, und was russische Lesart ist) mit dem Einverständnis der USA geschah (unerheblich für diese Überlegungen ist die Schuldfrage, also ob der russische Bomber nun der türkischen Luftraum so verletzt hat, dass ein Abschuss gerechtfertigt war oder eben nicht). Die baltischen Staaten, Norwegen oder Großbritannien haben den Krieg nicht im eigenen Land, ja nicht einmal an ihrer direkten Grenze. Die Türkei schon.
Dieser Fehlschluss erklärt zumindest teilweise die harsche russische Reaktion. Es ist die Reaktion des Rowdys, der sich seiner sicher ist, aber plötzlich Widerstand spürt. Wie das mit der in der russischen Führung vorherrschenden Geisteshaltung (oder besser: Sozialisation) funktioniert, habe ich schon im Juni 2014 in diesen Notizen im Beitrag Gopniki beschrieben.
Es ist aber auch die Reaktion desjenigen, der sich schon zu sicher als Gewinner (zumindest dieser Partie) fühlte. Insofern gleicht sie der russischen Reaktion auf den ukrainischen Maidan im Winter 2013/14. Wie damals, als der Kreml den seinerzeitigen ukrainischen Präsidenten Wiktor Janukowytsch davon abbrachte, ein Assoziierungsabkommen mit der EU zu unterzeichnen und sich stattdessen der russisch dominierten Eurasischen Union zuzuwenden, glaubte die russische Führung auch in Syrien, den Westen überrumpelt und bereits am Boden zu haben.
Nach zwei Monaten Bomben auf alle Feinde des Assad-Regimes (von denen nicht wenige Verbündete der Türkei und anderer NATO-Länder sind) war von der Ukraine schon (fast) keine Rede mehr, während Russland im Nahen Osten wieder zu einer Partei geworden zu sein schien, ohne die nichts (mehr) geht. Obama löste die nach der Krim-Annexion verhängte Kontaktsperre und tat das aus russischer Sicht Erstrebenswerteste: Verhandlungen auf „Augenhöhe“, also direkt zwischen Russland und den USA auf Präsidentenebene, zuletzt wieder diesen Montag am Rande der Weltklimakonferenz in Paris. Wichtiger noch: Er tat das, aus russischer Sicht, nicht freiwillig, sondern weil „wir“ ihn dazu gezwungen haben. Gleichzeitig werden, verstärkt noch durch den Pariser Terroranschlag aber auch die enorme Flüchtlingsbewegung aus Syrien nach Zentraleuropa, im Westen jene Stimmen wieder lauter, die fordern, man müsse trotz allem (gemeint ist: trotz und zum Schaden der Ukraine) im Nahen Osten eine Anti-Terrorkoalition mit Russland eingehen.
Das alles erklärt auch, zumindest zu einem Teil, warum sich die russische Reaktion (fast) ausschließlich gegen die Türkei richtet, die USA oder die NATO insgesamt dagegen erstaunlich glimpflich davon kommen. So schmerzhaft der Abschuss des russischen Bombers ist, jetzt die USA oder die NATO ebenso frontal anzugreifen, würde wohl die sich abzeichnenden Bereitschaft, trotz Krim und Donbass erneut mit Russland zusammen zu arbeiten, schnell wieder in Frage stellen. Zudem ist Russland, entgegen aller martialischen Rhetorik bis in höchste Kreise, für eine direkte Konfrontation mit der NATO (als NATO) weder militärisch noch wirtschaftlich bereit. Das weiß selbstverständlich auch die politische Führung.
Der dritte Grund für die Schnelligkeit, mit der die Türkei in der vergangenen Woche zum Feind werden konnte, dürfte ein historischer sein. Geschichtlich gesehen ist die Annäherung der beiden Länder in den vergangenen Jahren eher eine Ausnahme. Zwar war und bleibt in Russland der (zuerst europäische und erst ab der Mitte des 20. Jahrhunderts US-amerikanisch dominierte) Westen Referenzrahmen Nummer eins sowohl für Regierende als auch die Bevölkerung. Aber die Türkei oder besser ihr Vorgänger, das osmanische Reich gereichen durchaus zum Erbfeind Nummer Zwei.
Außer einer kurzen Zeit in den 1920er Jahren nach der kemalistischen Revolution, die von der noch jungen Sowjetunion tatkräftig unterstützt wurde, und dem jetzt jäh zu Ende gegangenen Tauwetter waren die russisch/sowjetisch-osmanisch/türkischen Beziehungen von dauerhafter Rivalität geprägt. Das gilt insbesondere für das 19. Jahrhundert. Egal ob im Kaukasus, in Zentralasien oder auf dem Balkan, überall trafen russische und osmanische Expansion, mal imperial, mal ethnisch, mal religiös gefärbt, aufeinander. Am stärksten blieb in der russischen Erinnerung aber der Krimkrieg haften, bei dem sich die Erbfeind Nr. 1 (der damals noch europäische) Westen und Erbfeind Nr. 2 (das Osmanische Reich) gegen Russland verbündeten.
Unabhängig von den Quellen für diesen plötzlichen Ausbruch von Türkenhass und Türkenfurcht, zeigt die Entwicklung aber vor allem eines: Wie wenig nachhaltig die russische Außenpolitik ist. Für ein Regime ohne Idee und folglich auch ohne Ideologie, das aber gleichzeitig auf völlige Selbstständigkeit setzt, ist es offenbar kaum möglich, wirklich haltbare Bündnisse zu schließen.
Wie es scheint, verfängt sich Russland momentan in seinen überambitionierten außenpolitischen Zielen. Das fast schon pathologische Bestehen auf den eigenen Großmachtstatus in einer multipolaren Welt hat das Land zwar tatsächlich erneut zu einem eigenständigen Pol gemacht, aber eben zu einem sehr einsamen und ziemlich schwachen. Jedenfalls zum Schwächsten unter allen, die in der obersten Liga mitspielen (wollen). In einer Welt reiner Machtpolitik à la 19. Jahrhundert, wie sie sich die russische politische Klasse momentan zurückphantasiert, kann es keine echten Verbündeten geben, nur zeitweise Alliierte. Das bringt zwar viel Feind und innenpolitische Ehr, hebt das Präsidenten-Rating (und damit die einzige Legitimität zum Verbleib an der Macht) dürfte aber auf Dauer weit mehr Kraft kosten als das Land (noch) hat.