Zu Anfang gleich das Wichtigste: Das sogenannten NGO-Agentengesetz ist nicht sonderlich munter. Man könnte sagen, es wurde vom Kreml in eine Art kontrolliertes Koma versetzt. Es ist nicht tot, das nicht. Aber da der Patient gegenwärtig im wachen Zustand nicht lebensfähig ist, wartet man wohl auf günstigere Zeiten. Wie ist das zu verstehen?
Wie in diesem Blog schon mehrfach beschrieben (zuletzt hier), haben die seit dem Frühjahr verabschiedeten repressiven Gesetze (wie fast alle „politischen“ Gesetze in Russland) mehrere Funktionen: Sie sollen einschüchtern, sie sollen ablenken, sie sollen „dem einfachen Volk“ signalisieren, wer zu den „Feinden Russlands“ gehört, und nur ganz zuletzt sollen sie auch angewendet werden.
Mit den jüngsten Gesetzen ist es nun wie mit den jüngsten staatlichen Großbauten (zum Beispiel beim ASEAN-Gipfel im Vorjahr oder der Sotschi-Winterolympiade 2014). Sie werden immer grandioser, aber immer schlechter geplant und, vor allem dank der völlig aus dem Ruder laufenden Korruption, noch mangelhafter umgesetzt (Nur zur Sicherheit: Vergleiche mit BER oder Stuttgart 21 eignen sich, vor allem Letzterem wegen, allenfalls bedingt). Fehler und Fallen werden aber immer erst später entdeckt, wenn es zu spät ist.
Die Fallen des NGO-Agentengesetzes liegt in zwei Bereichen. Den ersten habe ich schon früher erwähnt (u.a. hier). Für viele NGOs lässt dieses Gesetz keinen Kompromiss mit dem Staat mehr zu. Sich selbst „Agent“ zu nennen, ist jenseits von allem, was selbst bei der größten Verbiegung zum Selbsterhalt ethisch und moralisch noch möglich wäre. Deshalb, nicht weil sie alle so mutig wären (was sie sind!), haben eine ganze Reihe NGOs, darunter Memorial, Transparency International Russland und die Moskauer Helsinki Gruppe im vergangenen Herbst erklärt, sich dem Gesetz unter keinen Umständen zu beugen, sondern lieber zu brechen. Für den Kreml, der sich in der Offensive wähnte, hieß das, plötzlich nur noch die Wahl zu haben zwischen dem größtmöglichen, auch internationalen Skandal oder dem Eingeständnis, das NGO-Agentengesetz sei vielleicht doch keine so gute Idee gewesen. Keine schöne Wahl. Vor allem eine, die so oder so keinen Gewinn verspricht.
Zum Glück für den Kreml verbirgt sich im Gesetz noch eine zweite Falle, die, nach langem, langem Studium, die Beamten des Justizministeriums (denen, das muss ihnen zur beruflichen Ehre gesagt werden, das Gesetz aus professionell-juristischen Gründen – und keinen anderen – von Anfang an nicht gefallen hat) mit Hilfe von NGO-AnwältInnen gefunden haben und die Justizminister Alexander Konowalow vor zwei Wochen verkündete: Das NGO-Agentengesetz widerspricht fundamental dem eigentlichen NGO-Gesetz, das ja erst 2006, ebenfalls zur Züchtigung der NGOs und zum Verhindern „Orangener Revolutionen“ in Russland, beschlossen worden war.
Dieses (alte) NGO-Gesetz verbietet NGOs schlicht jegliche „politische Tätigkeit“ bei Androhung ihrer Auflösung. Wenn sich nun also eine NGO als „Agent“ registrieren ließe (wie es das NGO-Agentengesetz fordert), weil sie sich „politisch betätigt“ und Geld aus dem Ausland bekommt, müsste das Justizministerium sie sofort schließen. Denn „politische Tätigkeit“ ist nach dem weiter geltenden bisherigen NGO-Gesetz ja verboten. So nebenbei monierte Konowalow auch noch, seine JuristInnen seien schlicht nicht in der Lage, überhaupt rechtlich belastbar zu beurteilen, was das denn nun sei, „politisch tätig“ zu sein. Kurz: Das Gesetz wird vorerst nicht angewandt. Man müsse das erst weiter studieren. Und um auch ganz sicher zu gehen, wurden flugs die regionalen Vertretungen des Justizministeriums, die mitunter ein munteres Eigenleben zum Wohle der Provinz-Mächtigen führen, schriftlich angewiesen, jeden Schritt in Bezug auf das NGO-Agentengesetz mit der Zentrale in Moskau abzustimmen. Dieser interne Brief fand seinen Weg in die Presse, damit auch wirklich nicht anbrennt.
Somit befindet sich das Gesetz in einem kontrollierten Koma. Es lebt, ist aber in jeder Hinsicht still gestellt, kann andererseits jederzeit durch die Injektion eines Gegenmittels ins wirkliche Leben zurückgeholt werden. Für dem Kreml ist das zwar nicht ideal, aber wohl akzeptabel. Für die NGOs ist das zwar kein Sieg, aber ein weiterer abgewehrter Angriff.
Den Sieg soll nun eine Klage vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) bringen, die 11 NGOs Anfang Februar eingereicht haben. Wobei das „nun“ im Vorsatz nicht ganz richtig ist, da die Klage schon seit zwei Monaten intensiv vorbereitet wird. Vom halben Rückzieher des Kremls Ende Januar konnten die NGOs also noch nichts wissen, als sie sich im November 2012 zu diesem Schritt entschlossen. Er sollte ursprünglich vor allem eine weitere Verteidigungslinie aufbauen, sollte sich der Kreml doch zur Generalattacke entschließen.
Möglich ist die Klage, weil sich die russischen NGOs als „potentiell Geschädigte“ des NGO-Agentengesetzes sehen. „Potentiell Geschädigte“ können nach den Regeln des EGMR auch schon gegen diskriminierende und die Europäische Menschenrechtskonvention verletzende Gesetze klagen, wenn sie noch gar nicht geschädigt wurden, um einer, vielleicht irreversiblen, Schädigung zuvor zu kommen. Natürlich kann der EGMR solche Klagen nicht annehmen, wie alle anderen auch. das wird sich zeigen. Solange die Klage dort liegt, bietet sie einen gewissen Schutz. Sollte sie angenommen werden, es zur Verhandlung kommen und der EGMR das Gesetz für mit der Menschenrechtskonvention nicht vereinbar erklären, wäre das für Russland ein Novum: Ein Gesetz, das noch nicht angewandt wurde, ist schon höchstrichterlich für rechtswidrig erklärt. Möglich, dass das der Todesstoß wäre. Zukunftsmusik.