Zukunft?

Lew Gudkow, Direktor des Lewada-Zentrums, hat Russland vor einiger Zeit einmal ein „Land ohne Zukunft“ genannt. Gemeint war das Fehlen fast jeglicher positiver Vorstellung von der Zukunft des Landes, sowohl bei der Bevölkerung als auch, und das ist wichtiger, im Kreml. Das, so Gudkow, sei die Folge der doppelten Enttäuschung erst durch den real existierenden Sozialismus und dann den real existierenden Kapitalismus postsowjetischer Prägung. Alles Hoffen und Sehnen scheint nun darauf ausgerichtet, dass es nicht wieder (viel) schlimmer kommt als es gegenwärtig ist. Wie ein politisches Regime „ohne Zukunft“ überleben kann, hat Putin in den vergangenen Jahren gezeigt. Ob das aber auch weiter so gelingt, ist die große Frage.

Auf den ersten Blick war 2019 für Russland ein Jahr wie viele andere. Putin ist Präsident, international überaus erfolgreich, im Land unangefochten, wenn auch mit weit weniger Glanz als nach außen, sinkender Zustimmung in der Bevölkerung und ab und an ein paar Protesten. Ein zweiter Blick zeigt ein Land in Erwartung. Die magische Zahl ist 2024. Dann endet Putins jetzige Amtszeit und irgendetwas muss sich ändern. Laut Verfassung darf er nicht noch einmal kandidieren. Im Kreml und im Land werden dazu verschiedene Szenarien diskutiert (die einen diskutieren, wie sie es machen wollen, die anderen, worauf sie sich einzustellen haben), denen allen eines gemein ist: Putin bleibt an der Macht.

Die Frage ist nur wie: Der Kreml könnte die Verfassung ändern lassen; Putin könnte Präsident eines neuen Gemeinschaftsstaates von Russland und Belarus werden; für Putin könnte, wie unlängst für Nasarbajew in Kasachstan, ein neuer höchster Posten geschaffen werden, um unter ihm jemand anderen Präsident werden zu lassen; selbst eine Wiederholung des Putin-Medwedew-Manövers von 2008–2012 ist nicht völlig ausgeschlossen (unwahrscheinlich wäre dann aber, dass es wieder Medwedjew wird). Kaum jemand bezweifelt, dass die Entscheidung, welches Szenarium gewählt wird, ausschließlich in Putins Hand liegt. Er hat damit aber das Land in eine Art Schlummerzustand versetzt: Kaum noch jemand hofft, dass es unter ihm erneut wieder besser werden könnte. Gleichzeitig glaubt aber auch kaum jemand, dass es eine bessere Alternative gibt. Russland hat die Hoffnung verloren. Sie ist, als letztes zwar, aber eben doch gestorben. Das System Putin ist erneut in die Krise geraten.

Wie ernst diese Krise werden wird, ist vorerst nur zu erahnen. Doch gibt es ein paar Anzeichen dafür, dass sie sehr ernst werden könnte. Das hat, neben dem Problem 2024, in erster Linie etwas mit veränderten ökonomischen und politischen Rahmenbedingungen zu tun. Grob gesagt lässt sich die Ära Putin in vier Etappen einteilen: In den 2000er Jahren wuchs das Vertrauen in Putin auf die seither gewohnten 60- bis 70-Prozent-Höhen. Gleichzeitig wuchsen Wirtschaft und Realeinkommen. Ab etwa 2008 begann dann das Vertrauen zu sinken (vor allem als Folge der Finanzkrise), die Einkommen jedoch wuchsen (vorerst) weiter, nicht zuletzt, weil die in den 2000er Jahren von Finanzminister Kudrin vorausschauend angelegten Staatsreserven ausgegeben wurden. 2014, die Reserven gingen schon zur Neige, gelang es Putin, das Blatt zu wenden. Mit der Annexion der Krim wuchs die Zustimmung zu ihm in ungeahnte Höhen, während aber gleichzeitig die Wirtschaft zu schrumpfen und die (Real-)Einkommen zu sinken begannen. Seit 2018 scheint dieser sogenannte Krim-Effekt allerdings aufgebraucht und erstmals unter Putin nehmen seither gleichzeitig die Einkommen und das Vertrauen in den Präsidenten ab. Diese doppelt negative Tendenz ist etwas Neues.

Die kommenden, deshalb wohl eher unruhigeren Zeiten zeichnen sich schon seit einiger Zeit ab. Im Frühjahr 2017 veröffentlichte der Oppositionelle Alexej Nawalnyj auf Youtube einen Film mit dem Titel „Er ist für Euch kein Dimon“ über den von Ministerpräsident Dmitrij Medwedew zusammengerafften Reichtum. Dieses Video wurde binnen weniger Wochen mehr als 10 Millionen Mal aufgerufen. Inzwischen (Stand 6.12.2019) steht der Zähler bei knapp 33 Millionen. Kurz nach der Veröffentlichung rief Nawalnyj zu Protesten im ganzen Land auf. In Moskau und St. Petersburg wurden zusammen mehr als 1.500 Demonstrant/innen festgenommen. Auffallend und neu war (für alle, aber besonders für den Kreml), wie viele junge Menschen unter den Protestierenden waren.

Im Winter 2018 konnte Nawalnyj den Mobilisierungserfolg vom Frühjahr 2017 wiederholen. In fast 120 russischen Städten folgten Menschen erneut seinem Aufruf, gegen die überbordende Korruption auf die Straße zu gehen. Diesmal waren schon nicht mehr die jungen Protestierenden die wichtigste Neuigkeit, sondern die große geographische Ausbreitung. Erstmals im postsowjetischen Russland demonstrierten bei einer landesweiten Aktion im Verhältnis zur Einwohnerzahl mehr Menschen in vielen Provinzhauptstädten als in Moskau.

2018 war auch das Jahr des Beginns der Anti-Müllproteste. Sie begannen in Wolokolamsk, einer kleinen Stadt 100 Kilometer westlich von Moskau, wo Ausdünstungen einer Müllkippe dazu führten, dass Dutzende Kinder einer nahen Schule ins Krankenhaus eingeliefert wurden. Die Müllproteste weiteten sich schnell auf andere Müllstandorte im Moskauer Umland aus, die unter der Last (und vor allem unter dem Geruch) des Mülls der 15-Millionenmetropole leiden. Eine als Reaktion auf diese Proteste von der Regierung angestoßene Müllreform ist gerade dabei, wieder zu versanden. Die (eher kurzfristige) Lösung, den Moskauer Müll weit weg in dünner besiedelte Gebiete zu schaffen, trifft dort auf oft erbitterten Widerstand. Am bekanntesten ist der Protest in Schijes, einem kleinen Ort rund 1.000 Kilometer nordöstlich von Moskau im Gebiet Archangelsk. Dort haben Anwohner eine Art Hüttendorf nach Art der „Freien Republik Wendland“ errichtet und erfahren enorme regionale Solidarität, sogar von Polizisten, Feuerwehrleuten und Hubschrauberpiloten. Geht es doch (zumindest auch) gegen die aus ihrer Sicht fetten, reichen und arroganten Moskauer, die nun in der Provinz ihren Unrat abladen wollen.

Letzter Höhepunkt waren die Proteste gegen die Nichtzulassung unabhängiger Kandidat/innen zur Moskauer Stadtparlamentswahl im Sommer. Die Reaktion des Staates ist überall gleich: repressiv. Nawalnyjs Regionalbüros wurden in über 40 Städten durchsucht, die Konten seiner „Stiftung zur Bekämpfung der Korruption“ (Fond borby s korrupzijej, FBK) gesperrt. An den Müllstandorten wird in Nacht- und Nebelaktionen, mitunter unter großem Polizeiaufgebot, versucht, den Bau durchzusetzen. Von den Protestierenden im Sommer wurde inzwischen etwa ein Dutzend zu Freiheitsstrafen (manche zur Bewährung ausgesetzt) oder hohen Geldstrafen verurteilt. „Memorial“ und andere unabhängige Organisationen (von denen fast alle „ausländische Agenten“ sind, fast schon ein staatliches Gütesiegel) werden mit Strafbefehlen überzogen, weil sie sich angeblich nicht ausreichend als „ausländische Agenten“ kennzeichnen, wie es das Gesetz vorsieht.

Insgesamt bleibt der Eindruck, dass das Sichtfeld vor den nächsten Dumawahlen im September 2021 frei geräumt werden soll. Diese Wahlen werden von vielen als (Realitäts-)Test für die Präsidentenwahlen 2024 angesehen. Die Frage ist wohl (auch), wie gut sich das Land noch politisch kontrollieren lässt, damit die „gewünschten“ Wahlergebnisse herauskommen. Offenbar gibt es im Kreml die Sorge, dass das nicht mehr ausreichend geschieht, und man stellt dort wohl auch deshalb schon seit einiger Zeit von überwiegend politischer Manipulation auf überwiegend politische Kontrolle und politische Repression um. Das System Putin ist endgültig in seiner bürokratisch-repressiven Phase angekommen. Das ist kurzfristig gesehen eine schlechte Nachricht für alle, die sich in Russland das Recht auf Selbstständigkeit herausnehmen. Längerfristig gibt es aber Anlass zu vorsichtiger Hoffnung.