Interview bei Zeitonline zu den Protesten gegen die Nichtzulassung bei Kommunalwahlen in Moskau

Das Originalinterview ist hier zu finden. Die Fragen stellte Alexandra Endres.

ZEIT ONLINE: Herr Siegert, glaubt man offiziellen Zahlen, wurde am Samstag in Moskau ein Drittel der Demonstrierenden festgenommen – das sind sehr viele. Warum geht die Polizei mit solcher Härte gegen die Menschen vor?

Jens Siegert: Ob es tatsächlich ein Drittel war, lässt sich schwer sagen. Niemand weiß, wie viele Personen protestiert haben, weil die Polizei von Anfang an verhindert hat, dass sich ein geschlossener Demonstrationszug bildete – zuerst noch ohne Festnahmen. Doch gemessen an dem, was in den vergangenen Jahren auch bei nicht genehmigten Demonstrationen passiert ist, hatten die Vorfälle vom Samstag schon eine neue Qualität.

ZEIT ONLINE: Wie meinen Sie das?

Siegert: In absoluten Zahlen sind seit den Protesten der Jahre 2011 und 2012 nicht mehr so viele Menschen festgenommen worden. Die Kompromisslosigkeit, mit der das passiert ist, und auch die Tatsache, dass die Härte vorab durch den Moskauer Bürgermeister angekündigt wurde, zeigt, dass man dort, wo die Entscheidungen gefällt werden – ich gehe davon aus, das ist der Kreml –, momentan nicht mehr zu Kompromissen bereit ist.Aber auch die Proteste selbst sind anders als in den vergangenen Jahren. Seit den Demonstrationen der Jahre 2011 und 2012 hat es kaum noch politische Protestkundgebungen gegeben. Die Menschen gingen seither eher wegen ganz praktischer Alltagsprobleme auf die Straße: stinkende Müllkippen, gesundheitsgefährdende Umweltverschmutzung, Baupolitik, Wohnungsspekulation, Verdrängung an den Stadtrand. In diesen Fällen ist es für die Staatsorgane viel schwieriger, zu behaupten, die Proteste seien künstlich aufgebauscht und von außen gesteuert. Die Probleme sind ja real. Jetzt aber gibt es wieder politische Proteste, weil in Moskau so viele Abgeordnete der Opposition nicht zur Kommunalwahl antreten dürfen.

ZEIT ONLINE: Warum ist die Wahl in Moskau so umkämpft?

Siegert: Die kommunalen Abgeordneten, um deren Mandate es bei dieser Wahl geht, dürfen zwar nicht viel entscheiden. Sie haben kleine Budgets und verhältnismäßig wenig Einfluss. Aber sie haben Fragerechte. Die Behörden müssen ihnen Auskunft geben. Und wenn sie irgendwo auftreten und sich einsetzen, dann hat das ein anderes Gewicht, als wenn das die normalen Bürgerinnen und Bürger tun. Viele oppositionelle Politiker haben sich auch, anders als die Delegierten der Kreml-Parteien, um die Anliegen der Menschen gekümmert und sind so bekannt geworden. Jetzt wurden sie nicht zur Wahl zugelassen. Könnten sie gewählt werden, wäre ihr Erfolg ein starkes politisches Signal. Es wäre ein Weg für viele Menschen, ihrer Unzufriedenheit Ausdruck zu verleihen. Bei den russischen Präsidentschafts- oder Parlamentswahlen ist das schon lange nicht mehr möglich und die Gouverneure werden nicht direkt gewählt, sondern von den regionalen Parlamenten. Diese Kommunalwahlen sind eine der letzten Möglichkeiten für die Menschen, ihren Unmut bei Wahlen zu zeigen.

ZEIT ONLINE: Warum ist die Stimmung im Land so schlecht?

Siegert: Seit zehn Jahren gibt es eine Wirtschaftskrise, seit fünf oder sechs Jahren – je nachdem, wen man fragt – sinken die Realeinkommen. Egal, ob unter den Anhängern von Präsident Wladimir Putin oder seinen Gegnern: Niemand hat mehr Hoffnung, dass sich daran demnächst etwas ändert. Bis vor einem Jahr war die Protestbereitschaft recht gering. In Umfragen sagten meist nur zwischen 10 und 15 Prozent, sie seien bereit, für ihre Meinung auf die Straße zu gehen. Aber seit die Regierung vor einem Jahr versucht hat, während der Fußball-WM quasi heimlich eine Rentenreform zu verabschieden, liegt der Wert recht stabil bei 30 Prozent.Weil es das Institut Wahlen aber kaum noch gibt, braucht das Regime zudem hohe Zustimmungswerte, um sich zu legitimieren, erst recht jetzt, wo es nicht so gut läuft. Doch die Zustimmungswerte von Putin selbst sind in den vergangenen ein bis zwei Jahren auf um die 60 Prozent gesunken. Für russische Verhältnisse ist das nicht viel. Zuletzt waren die Werte vor der Annexion der Krim so niedrig. Aber zwischendurch lagen sie um die 80 Prozent.

ZEIT ONLINE: Das heißt, die Staatsmacht reagiert so hart, weil sie sich bedroht oder zumindest herausgefordert fühlt?

Siegert: Bedroht wäre zu viel gesagt. Aber ich kann mir vorstellen, dass der Kreml vermeiden will, dass aus der Opposition heraus neue kleine Helden entstehen. Eines von Putins Machtinstrumenten ist ja gerade, dass er es vermeidet, neben ihm andere profilierte Politiker aufsteigen zu lassen. Die Regierung, die Minister, selbst der Regierungschef sind nicht mehr als höhere Beamte, keine eigenständigen Politiker. Putins Amtszeit wird 2024 zu Ende sein und nach den geltenden Regeln kann er nicht mehr wiedergewählt werden. Und alle diskutieren jetzt schon darüber, was dann wohl geschehen wird. Wird Putin die Verfassung ändern lassen? Wird er einen anderen zum Präsidenten machen und als starker Mann im Hintergrund bleiben, so wie er es mit Dmitri Medwedew getan hat? Oder wird er einen ganz anderen Weg einschlagen? Um das organisieren zu können, braucht man Ruhe und die Macht, jederzeit durchgreifen zu können.

ZEIT ONLINE: Was passierte mit den Menschen, die am Wochenende festgenommen wurden?

Siegert: Laut der OWD-Info, einer Gruppe, die Aktionen der Polizei dokumentiert, sind bis Sonntagvormittag bis auf 120 Personen alle wieder freigekommen. Meist bekommt man nach der ersten oder zweiten Festnahme eine Geldstrafe. Mehrfachtäter kommen in Administrativhaft, die bis zu 30 Tage dauern kann – so wie gerade der Oppositionelle Alexej Nawalny. Wer dann noch weitermacht, kann tatsächlich zu längeren Haftstrafen verurteilt werden. Unbestätigten Berichten zufolge hat die Staatsschutzabteilung des Inlandsgeheimdienst FSB angefangen, gegen einige der führenden Oppositionellen wegen des Aufrufs zur Nötigung von Staatsorganen zu ermitteln. Sie hatten die Protestierenden aufgefordert, vor das Gebäude der Moskauer Wahlkommission zu ziehen. Käme es tatsächlich zu solchen Anklagen, dann wären wir wieder in einer Situation wie nach den Protesten im Mai 2012 auf dem Moskauer Bolotnaja-Platz. Damals sind mehr als 30 Menschen zu teils mehrjährigen Haftstrafen verurteilt worden.

ZEIT ONLINE: Gibt es nur in Moskau Proteste oder finden im ganzen Land Auseinandersetzungen um die Kommunalwahl statt?

Siegert: Es gab auch Konflikte in Sankt Petersburg, aber im Moment scheinen dort die Aussichten für einen Kompromiss gut. Abgesehen davon ist das, was in Moskau passiert, immer ein starkes Symbol für das ganze Land. Soweit ich das überblicken kann, hat es nirgendwo eine ähnlich starke Ablehnung von Kandidaten der Opposition gegeben, aber auch nirgendwo eine ähnlich starke oppositionelle Kampagne.

ZEIT ONLINE: Werden die Proteste weitergehen?

Siegert: Die Verantwortlichen haben angekündigt, regelmäßig jeden Samstag zu demonstrieren. Vor einer Woche haben die Behörden die Demonstration noch genehmigt, dieses Mal nicht. Für nächsten Samstag wird schon wieder zu neuen Demonstrationen aufgerufen. Eine Genehmigung wird es wohl eher nicht geben. Das wird so schnell nicht aufhören, so wie die Stimmung derzeit ist, und nach den Vorfällen vom Samstag. Ich sehe zwei Möglichkeiten: Entweder erreicht man, ich halte das aber für wenig wahrscheinlich, einen Kompromiss und einige Kandidaten werden doch noch zugelassen oder die Behörden reagieren auch weiterhin hart, dann könnte es so weit kommen wie vor sieben, acht Jahren.

ZEIT ONLINE: Wie schätzen Sie die Erfolgsaussichten der Demonstrierenden ein?

Siegert: Ich halte es für unwahrscheinlich, dass doch noch oppositionelle Kandidaten zur Wahl in Moskau zugelassen werden. Aber in Russland ist eine plötzliche Wendung nie unmöglich.

ZEIT ONLINE: Hat sich die russische Regierung zu den Protesten geäußert?

Siegert: Sie tut, als sei das ein Moskauer Problem, und zieht sich auf den Standpunkt zurück, alles werde nach Recht und Gesetz geregelt. Wenn es Fehler gab, müssten das eben die Gerichte klären. Wladimir Putin ist am Samstag im finnischen Meerbusen mit einem Unterwassertauchgerät unterwegs gewesen. Das war eine Art demonstratives Kontrastprogramm.