Wenn ich Texte aus den vergangenen Jahren zur Entwicklung der russischen Zivilgesellschaft durchschaue, wird mir angst und bange. Seit dem Amtsantritt von Präsident Wladimir Putin im Jahr 2000 geht es bergab. Stück für Stück, so regelmäßig, dass es im Rückblick fast schon systematisch aussieht, wurden die Möglichkeiten unabhängigen zivilgesellschaftlichen Engagements immer weiter eingeschränkt. Den bisherigen Schlusspunkt setzte 2012 das sogenannte NGO-Agentengesetz, das das staatliche Narrativ von aus dem Westen gesteuerten NGOs als einer angeblichen Vorhut von und Mittel zu Regime Change in Strafrecht bannt.
Dieses Gesetz wirkt nicht schnell. Eher ist damit eine staatliche Maschine in Gang gesetzt worden, die Stück für Stück unabhängige NGOs zermürbt und zu einer Auflösung oder Aufgabe ihrer (meist kritischen) Positionen zwingt. Dort, wo das nicht freiwillig (soll heißen, dem staatlichen Druck nachgebend) geschieht, wird die Unterwerfung zivil- und strafrechtlich durchgesetzt. Anfangs dienten dazu immer höhere Geldstrafen, sowohl für die Organisationen als auch ihre Führungspersonen persönlich.
Mit dem Strafverfahren gegen Walentina Tscherewatenko, der Gründerin und Vorsitzenden der Frauen des Don aus Nowotscherkassk ist eine neue Stufe der Repression eingeleitet worden. Walentina Tscherewatenko wird von der Staatsanwaltschaft vorgeworfen mutwillig nicht die Registrierung ihre Organisation als ausländischer Agent beantragt zu haben. Das Verfahren könnte mit einer Gefängnisstrafe enden und damit auch zum Vorbild für weitere Verfahren werden.
So wird der Druck auf die verbleibenden unabhängigen NGOs immer weiter erhöht. Sie werden, so wage ich vorauszusagen, letztlich nur die Wahl haben, sich dem staatlichen Druck zu beugen und auf ihre Unabhängigkeit (oft nur möglich auch und gerade aufgrund ausländischer Finanzierung) zu verzichten, oder sie werden sich als juristische Personen auflösen müssen und können dann versuchen ohne rechtlichen Status weiterzuarbeiten. Allerdings ist Letzteres für viele NGOs angesichts des Charakters ihrer Arbeit kaum möglich, ohne diese Arbeit fast bis zur Unkenntlichkeit einzuschränken (als herausragendes, aber bei weitem nicht einziges Beispiel kann hier Memorial International mit seiner Infrastruktur, seinen Veranstaltungsräumen, dem Museum, der Bibliothek und vor allem dem einzigartigen Archiv dienen). Außerdem ist es fraglich, ob dieser Verzicht ohne Verzicht auf weiter unabhängiges Handeln ausreichen wird. Es gibt bereits Initiativen, die „Agentenvorschriften“ auch auf Privatpersonen auszuweiten.
Sollte diese Prognose richtig sein, wird in wenigen Jahren kaum noch etwas von der organisierten zivilgesellschaftlichen Landschaft übrig sein, die sich in Russland in den vergangenen rund 20 Jahren entwickelt hat. Was bleiben wird, sind natürlich viele Menschen, die zivilgesellschaftliches Handeln eingeübt und fortentwickelt haben. Es bleiben ihre Erfahrung der Praxis und ihre Erinnerung an viele Erfolge (wenn auch nicht den Erfolg, sich in dieser existenziellen Krise verteidigen zu können). Ist das, wäre das das (zumindest vorläufige) Ende zivilgesellschaftlichen Handelns in Russland?
Ich denke nicht. Dafür habe ich drei Gründe. Zum ersten ist bei weitem nicht alles zivilgesellschaftliche Handeln in Russland (wie anderswo auch) rechtlich organisiert. Es gibt sehr viel freiwilliges und ehrenamtliches Engagement (wenn auch, so meine Einschätzung, immer noch weit weniger als in westlichen Gesellschaften). Zwar mischt sich auch hier der Staat seit einigen Jahren regelnd und maßregelnd ein, aber doch mit weit weniger Verve und eher erratisch.
Zum zweiten gibt es auch unter des Staates Fittichen (weiterhin) Freiräume. Wie bereits angedeutet, hängt das immer von den jeweiligen Themen ab, vor allem aber von der Haltung. Grob gesagt, lässt der Staat Initiativen zu, die sich als ihn unterstützend verstehen (und vom Staat auch so verstanden werden). Das drückt sich auch in den Versuchen aus, zivilgesellschaftliches Handeln in gutes soziales und schlechtes politisches zu teilen. Sozial ist dabei alles, was den Staat in der Daseinsvorsorge unterstützt und entlastet. In diesem Zusammenhang darf staatliches Handeln durchaus auch kritisiert werden. Diese Kritik darf aber nie politisch werden, also politische Konzeptionen angreifen. Sie ist nur erlaubt, wenn sie sich auf konkretes Verwaltungshandeln bezieht. Entsprechend hat auch Putin in der jüngsten Auflage seiner „Direkter Draht“ genannten Fernsehshow Mitte Juni jede Zuschauerfrage in Bezug auf Missstände auf diese Ebene heruntergeführt.
Nun komme ich zum dritten und meiner Ansicht nach wichtigsten Grund: Mir scheint, in Russland findet, allen Widrigkeiten zum Trotz, gerade eine Art nachholender zivilgesellschaftlicher Entwicklung statt. Es passiert etwas, das in den schnellen und fundamentalen Änderungen nach der großen Wende Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre gefehlt hat. Überall im Land entstehen kleinere und größere Bürgerinitiativen. Der Begriff ist bewusst gewählt. Historisch gingen Bürgerinitiativen (im Westen) dem voraus, was heute NGOs genannt wird. In Russland war es (bisher und weitgehend) umgekehrt.
Es sieht so aus, als ob sich die russische Zivilgesellschaft (ich meine natürlich die Gemeinschaft der zivilgesellschaftlich Handelnden oder noch genauer, das, was man heute NGOs nennt) gerade vom Kopf auf die Füße stellt. Grob gesagt, hat sie eine eher untypische Entwicklung durchgemacht. Mangels Breitenbasis und dank westlicher (finanzieller) Förderung waren Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre aus der leergefegten und nur dissidentisch jenseits des Staates organisierten Sowjetgesellschaft sogleich hoch entwickelte und spezialisierte NGOs entstanden. Die Phase der Inkubation in losen, meist informellen Gruppen haben diese Organisationen oft entweder sehr schnell hinter sich gebracht oder gleich übersprungen.
Das hatte drei Gründe: Zum einen waren die politischen Ereignisse seinerzeit so beschleunigt, dass zu einer (gewissermaßen) natürlichen Entwicklung kaum Zeit blieb. Zum zweiten mussten die gerade neu entstandenen Organisationen und Zusammenschlüsse den zerfallenden und sich zurückziehenden (post)sowjetischen Staat in vielem ersetzen oder ergänzen. Die dazu notwendige Professionalität musste sehr schnell in einem beschleunigten Learnig-By-Doing-Prozess erworben werden. Auch hier fehlte wieder (Entwicklungs-)Zeit.
Drittens dann – Fluch der guten Tat – hat die schnell einsetzende, massive westliche Förderung die zarten russischen Zivilgesellschaftspflänzchen zwar gepäppelt und beim Wachstum gefördert. Der monetäre und ideologische Turbodünger hat aber nicht nur gut getan. Nicht wenige der so entstandenen NGOs glichen den sprichwörtlichen holländischen Tomaten: wunderschön glatte Haut, kaum verderblich, aber ohne Charakter und mit wenig Geschmack. Zudem hatten es nicht wenige dieser Pflanzen lediglich gelernt, nur unter kuscheligen Treibhausbedingungen zu gedeihen.
Das alles hat vor allem zu zwei Problemen geführt (einem inneren und einem äußeren): Erstens wurde in der NGO-Szene zivilgesellschaftliches Engagement in vielem als Beruf wahrgenommen, als Tätigkeit, für die man bezahlt wird, und die auch bezahlt gehört. Freiwilligenarbeit, Spenden, ja auch Mitgliedsbeiträge waren lange Zeit weitgehend unbekannt. Auch die katastrophale wirtschaftliche Situation in den 1990er Jahren spielte hier sicher keine geringe Rolle. Entsprechend wurde (und wird) von vielen der Staat (oder wurden früher an dessen Stelle westliche, eben oft auch staatliche Geldgeber) als für die Finanzierung von NGO-Arbeit zuständig gehalten.
Zweitens (das ist das äußere Problem) fiel es eben deshalb später – in den 2000er Jahren wie heute – dem nun von Putin regierten Staat umso leichter, unabhängige zivilgesellschaftliche Tätigkeit als fremd- und außengesteuert zu denunzieren. Dieses staatlicherseits systematisch verbreitete Narrativ ist der vielleicht wichtigste Grund, warum das „Agenten“-Argument so gut verfängt. Hinzu kommt allerdings, dass freiwilliges, uneigennütziges Engagement in der russischen Gesellschaft insgesamt immer noch eher mit Misstrauen betrachtet wird. Meist wird sofort die Cui-Bono-Frage gestellt.
Zwar wird bezahlte (und damit meist professionelle) zivilgesellschaftliche Arbeit durch den staatlichen Druck nicht völlig verdrängt werden, dürfte aber in Zukunft weit weniger Platz einnehmen oder in vor allem sozialen Nischen überleben. Gleichzeitig, fast wie Ersatz, sprießen überall im Land neue Formen von Selbstorganisation. Einige davon habe ich in diesem Blog in den vergangenen Monaten immer wieder beschrieben (siehe zum Beispiel hier, hier und hier).
Das könnte natürlich alles zufälliges zeitliches Zusammenfallen sein (untersucht hat das meines Wissens noch niemand). Wahrscheinlicher aber scheint mir, dass der russische Staat durch seine repressiven und Beteiligung einschränkenden Handlungen wieder eine ganz normal-paradoxe Reaktion hervorruft und so die zivilgesellschaftliche Entwicklung erneut unfreiwillig vorantreibt, wie er das in den 2000er Jahren bereits getan hat. Die zunehmende Regulierung und Einschränkung von NGOs seit Putins Amtsantritt hat unter anderem dazu geführt, dass sich die NGOs ständig professionalisiert haben. Um überleben zu können, mussten sie schneller, geschickter, genauer und erfindungsreicher sein als der Staat. Erst Verbot und strafrechtlicher Druck bereiten nun diesem, wenn man so will, Wettbewerb ein Ende.
Oder besser: Kein Ende. Denn zivilgesellschaftliches Engagement lässt sich nicht unterbinden. Es findet immer , jedenfalls unter nicht-totalitären Bedingungen, andere, neue Ausdrucksformen. In Russland sind das gegenwärtig an vielen Orten und in ganz unterschiedlichen Formen das, was man im Deutschen (heute fast schon ein wenig altmodisch klingend) wohl Graswurzelinitiativen nennen kann. Es sieht also ganz danach aus, als ob der Staat durch seinen Druck eine Entwicklung, wenn schon nicht angestoßen, so doch zumindest verstärkt hat, in deren Folge zivilgesellschaftliches Engagement vom Kopf auf die Füße gestellt wird. Die russische Zivilgesellschaft, da bin ich sicher, schlägt gerade erst so richtig Wurzeln.