Recht bald nach den Protesten gegen Wahlfälschungen und seine Wiederwahl im Winter 2011/2012 hat Wladimir Putin eine scharfe politische Wende eingeleitet. Im Inneren wurde das Konzept eines „einigen Russland“, das er repräsentiere, von der Idee einer „überwältigenden Mehrheit“ abgelöst, die hinter ihm stehe (siehe auch hier). Im Äußeren deutete sich schon länger eine Politik zunehmender Konfrontation mit dem Westen an, die mit der Annexion der Krim und dem Krieg in der Ostukraine im Frühjahr 2014 ihre bisherigen Höhepunkte erreicht hat. Der Charakter dieser wesentlichen Neuausrichtung der russischen Politik wird oft mit dem Begriff konservativ beschrieben. Putin positioniert Russland seither ausdrücklich als Gegenentwurf eines als vom Westen ausgehend beschriebenen gesellschaftspolitischen Liberalismus und als Gegenbewegung zu einer als „westlich“ denunzierten Globalisierung.
Folgerichtig fordert der bis dahin weltanschaulich eher indifferente russische Staat von seinen Bürgern nun Bekenntnisse zu einem militärisch aufgeladenen „Patriotismus“ und propagiert sogenannte „traditionelle russische Werte“. Unter Verdacht steht inzwischen praktisch alles, was eine offene Gesellschaft ausmacht, angefangen von bürgerlichen Freiheitsrechten wie Versammlungs-, Vereinigungs- und Redefreiheit, bis zur Toleranz gegenüber und der Gleichberechtigung von alternativen Lebensentwürfen. Das zeigt sich dann zum Beispiel in einer ultrakonservativen Familiendoktrin (Musterfamilie Vater, Mutter und mindestens drei Kinder), der Anti-LGBT-Gesetzgebung, der immer stärker werdenden Rolle der Orthodoxen Kirche oder in einer Geschichtspolitik, der nationale Mythen weit wichtiger sind als historische Tatsachen.
Lew Gudkow, Soziologe und Direktor des Lewada-Zentrums, zweifelt allerdings daran, dass es sich hier tatsächlich um eine wertebasierte konservative Politik handelt: „Mir scheint, dass man über liberale oder konservative Werte in Russland nicht ernsthaft sprechen kann. Es gibt Stimmungen und die Reaktion auf das, was die Staatsmacht tut. Die Gesellschaft als soziale Institution ist in Russland nur sehr schwach ausgebildet.“ (Hier und im Weiteren zitiere ich einen Vortrag vom Februar 2014). Für Gudkow hat die oben skizzierte Wende vor allem etwas mit Machterhalt zu tun. Die sogenannte „putinsche Mehrheit“ der 2000er Jahre fußte vor allem auf dem damaligen wirtschaftlichen Erfolg und dem (ebenso tatsächlichen wie propagandistisch immer wieder aufgebauschten) Gegensatz zu den „chaotischen“ 1990er Jahren. Sie hatte während der Präsidentschaft Dmitrij Medwedews ab 2008 zu bröckeln begonnen. Putins Umfragewerte, von denen die Legitimität des politischen Regimes zu großen Teilen abhängt, waren ab 2008 langsam aber stetig gesunken. Die von Medwedew propagierte Idee einer „Modernisierung“ war wirkungslos geblieben. Im Gegensatz zu vorherigen Wahlen hatten die Wahlen 2012 zudem nur eine kurzfristige Erholung bewirkt. Es ging weiter bergab.
Dazu Gudkow: „Selbstverständlich hat die scharfe, verteidigende konservative Propaganda ihre Wirkung auf die Bevölkerung, aber sie berührt nur die oberen Schichten des Bewusstseins.“ Kaum gehe die Propaganda wieder zurück, beobachteten die Soziologen des Lewada-Zentrums, wie entsprechende Einstellungen in der Bevölkerung sich ebenfalls verändern und auf ein langjähriges Mittelmaß zurückschwingen. Die Kraft der Propaganda liegt für Gudkow vor allem darin, dass die Menschen zu wiederholen (und oft tatsächlich zu glauben) beginnen, was so massiv aus dem Fernsehen auf sie einprasselt. Das funktioniere aber nur in jenen Bereichen gut, in denen eine eigene Meinung bei den Menschen eher schwach ausgebildet ist. Gudkow zählt dazu sowohl die internationale Politik, die die meisten Menschen in Russland vor allem aus der Perspektive von „Wir-Sie“ sehen, als auch Fragen des „liberal-westlichen Diskurses, also Fragen der Toleranz und des Verhältnisses zu Minderheiten. Die Menschen interessiert das alles nicht sonderlich, und deshalb sprechen sie nach, was sie im Fernsehen gehört haben.“
Kann man das dann trotzdem konservativ nennen? Und sind nicht zumindest die herrschenden politischen Eliten konservativ, die momentan auf etwas setzen, dass sie „konservative Werte“ nennen? Der Antwort auf diese Fragen will ich mich – in Notizen darf man das! – in einigen eher assoziativen Schritten annähern.
Zunächst ein paar Worte zum Begriff konservativ oder besser zur politischen Weltanschauung, die Konservatismus genannt wird. Wie schon die Herleitung aus dem Lateinischen zeigt, geht es darum, etwas zu konservieren, also zu bewahren oder wiederherzustellen, nämlich eine bestehende oder frühere politische oder soziale Ordnung. Wie seine beiden großen Schwesterweltanschaungen Liberalismus und dem Sozialismus entstand der Konservatismus im 18. und 19. Jahrhundert in Europa als Folge der Umwälzungen durch die Aufklärung und in ihrer Folge der Französischen Revolution. Im Unterschied zu diesen beiden stellt der politische Konservatismus allerdings mehr eine Haltung in einer spezifischen historischen Situation als eine geschlossene politische Philosophie dar. Während sich also liberale oder sozialistische Werte als universell begreifen, ist Konservatismus immer situativ, sowie zeit- und ortsbezogen.
Während vor allem in den angelsächsischen Ländern und in Frankreich, aber auch, obgleich mit zeitlicher Verzögerung, in Deutschland schon im 19. Jahrhundert die großen Weltanschauungen im politischen Wettstreit standen, war das in Russland mit seiner harten zaristischen Diktatur allenfalls publizistisch möglich – oder, schon damals, im Exil. In der Folge wurden liberale und sozialistische Akteure und Diskurse in den Untergrund gedrängt. Eine konservative Tradition konnte sich kaum entfalten, da der Staat diese „erhaltende“ Rolle für sich reservierte. Das Land wurde so (sehr verkürzt gesprochen und selbstverständlich nicht nur deshalb) in zwei Lager geteilt: diejenigen, die für den Zaren und die alte Ordnung waren (meist Slawophile genannt) und diejenigen, die dagegen waren (die sogenannten Westler).
Als diese alte Ordnung in den beiden russischen Revolutionen 1917 zerbrach, setzte sich mit den Bolschewiki die radikalste (man könnte auch sagen: die unverschämteste) Kraft durch. Im Bürgerkrieg und den Folgejahren wurde die Spaltung des Landes befestigt und sogar vertieft. Die einen herrschten oder arrangierten sich zumindest mit der Sowjetmacht, während die andern ins äußere oder innere Exil gingen. In der Sowjetunion konnte es keine Konservativen geben, denn das Land war ja per definitionem die Vorhut des Fortschritts. Der Streit darüber, was konservativ, was liberal oder was sozialdemokratisch war, konnte so nur in kleinen, klandestinen Zirkeln im Land oder eben im Exil stattfinden.
Im Westen berufen sich seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Konservative meist auf christliche Werte und betonen individuelle Freiheiten, Privateigentum und Marktwirtschaft. Dort hat sich nach dem Zweiten Weltkrieg weitgehend ein aufgeklärter Konservatismus durchgesetzt, der im Großen und Ganzen mit einem konfrontativen Nationalismus gebrochen hat. Im postsowjetische Russland wurde nach 1990 versucht, dieses im Westen gewachsene politische System zu kopieren. Das schloss unter anderem die Schaffung politischer Parteien entsprechend der drei großen noch aus dem 19. Jahrhundert stammenden weltanschaulichen Strömungen Liberalismus, Sozialismus (heute eher: Sozialdemokratie) und Konservatismus ein. Dieser Versuch ist grandios gescheitert. Parteien brauchen eine soziale Basis. Die russische Gesellschaft ist aber bis heute sozial kaum strukturiert. Sie gleicht eher einer amorphen Masse mit dem riesigen, alles erdrückenden Zentrum Staat und nur einigen wenigen kleinen, schwachen und instabilen Kristallisationspunkten politischer und sozialer Assoziation.
Unter Putin hat dieser russische Staat die Versuche, ein System von Parteien aufzubauen, die unterschiedliche politische und soziale Interessen vertreten, durch ein System von Surrogatparteien ersetzt, die so tun, als ob sie Interessen vertreten. Doch auch dieses künstliche, aus dem Kreml gesteuerte System orientiert sich bis heute an den großen weltanschaulichen Strömungen. Es gibt liberale Parteien, sozialistische und kommunistische und sogar ein paar grüne. Nur eine konservative Partei findet sich nicht. Die Kremlpartei „Einiges Russland“, die, so wäre angesichts der putinschen Rhetorik anzunehmen, diesen Platz einnehmen könnte (tatsächlich hat sie sich lange bemüht, in die „Europäische Volkspartei“, den Zusammenschluss konservativer europäischer Parteien, aufgenommen zu werden, der auch die CDU und die CSU angehören), ist keine konservative, sondern eine auf den Staat orientierte Partei – sie ist, mit nur wenig Übertreibung, eine Staatspartei. Es geht um Machterhalt, nicht um Werte.
Putins angeblicher Konservatismus ist nicht konservativ, sondern maximal patriarchalisch. Er will keine Werte, keine sozialen Verbindungen, keine Gesellschaft bewahren, sondern Macht erhalten. Konstantin von Eggert, ein Moskauer Journalist, der beim letzten unabhängigen Fernsehsender „TV-Doschd“ arbeitet, nennt ihn „eine Art historischer Baukasten“. Für Putin gehe es ausschließlich um die Macht, wozu er sich eines „oberflächlichen Wertbezugs“ bediene. Darunter verberge sich die alte sozialistische Idee der fast unbegrenzten Gestaltbarkeit von Menschen und Gesellschaft, also genau das Gegenteil von Konservatismus. Im Übrigen sei Putin gerade in Wertefragen überaus opportunistisch, wie zum Beispiel das immer noch sehr liberale Abtreibungsrecht zeige.
Von Eggert bezeichnet sich selbst als Konservativen, von denen es aber in Russland nur sehr wenige gebe. Was würde konservativ Sein in Russland heute für ihn ausmachen? Von Eggert zählt auf: „Werte in der jüdisch-christlichen Tradition Europas, Autonomie des Individuums, Privateigentum und Marktwirtschaft, aber auch soziale Verantwortung und Mäzenatentum“. Er sieht aber auch, dass es für einen solchen Konservatismus in Russland keine soziale Basis gibt. Es gebe weder ausreichend Klein- und Mittelunternehmen, keine nennenswerte städtische Mittelschicht, vor allem aber de facto kein Privateigentum und damit auch keine Unabhängigkeit vom Staat. Soziale Verantwortung sei in der Bevölkerung kaum verankert. Alles werde zwischen dem Gegensatz des sich konservativ nennenden „Staates als mythischer Gemeinschaft“ und den ihm gegenüberstehenden „Liberalen“ zerrieben. Der russische Staat unter Putin interessiere sich nicht für die Menschen und ihre Individualität, ihre Eigenarten. In diesem Gegensatz gebe es nur noch wir und sie und also (fast) keinen Platz für eine Differenzierung zwischen Menschen demokratischer Orientierung aber unterschiedlicher Wertebasis. Wie die Dissidenten in der Sowjetunion werden die heutigen Nichteinverstandenen fast ausschließlich durch ihre Ablehnung des herrschenden politischen Systems definiert oder dadurch, dass der Staat sie als „Feinde“ markiert.
Auf die Frage, was ihn, den Konservativen, in dieser Situation noch von einem Liberalen unterscheide, antwortet von Eggert, indem er zwei wichtige Ereignisse der jüngsten russischen Geschichte heranzieht. Beide, Liberale wie Konservative, seien heute gegen Putin. Beide hätten im Mai 2013 auf dem Bolotnaja Platz im Moskauer Stadtzentrum gegen Putins erneute Amtseinführung protestiert. Beide verteidigten das Demonstrations- und andere bürgerliche Freiheitsrechte. Der Unterschied bestünde in der Bewertung von Pussy Riot. Während die meisten Liberalen deren Protest gegen Putin in der Moskauer Christerlöserkirche mittels „Punkgebet“ verteidigten, sei das für einen echten Konservativen nicht hinnehmbar – die Verurteilung der Pussy-Riot-Sängerinnen zu mehrjährigen Haftstrafen allerdings auch nicht.